Lesezeichen
‹ Alle Einträge

200 Jahre Grimmsche Märchen: Alte Schätze

 

Der Märchenforscher Wilhelm Solms verrät, warum uns die Geschichten der Brüder Grimm bis heute begeistern. Ein Interview von Linda Tutmann, die Illustration ist von Gert Albrecht

KinderZEIT: Herr Solms, Sie sind Professor und Märchen-Experte. Seit wann erzählen sich die Menschen Märchen?

Wilhelm Solms: Seit fast 500 Jahren. Andere Wundergeschichten sind noch viel älter, sie finden sich bereits in der Bibel. Das sind aber keine Märchen.

KinderZEIT: In welchen Situationen haben die Leute sich Märchen erzählt?

Solms: Immer wenn sie zusammensaßen und sich die Zeit vertreiben wollten. Heute werden Märchen ja vor allem Kindern erzählt. Das war damals anders. Die wenigsten Menschen konnten lesen. In der Postkutsche oder auf Schifffahrten wurden Märchen erzählt, aber auch bei der Arbeit, etwa wenn Frauen am Spinnrad ihre Wolle webten. Sogar Soldaten ließen sich in Friedenszeiten Märchen vortragen.

KinderZEIT: Woher kannten die Menschen diese Wundergeschichten überhaupt?

Solms: Von Erzählern, die damals über Land gezogen sind und ihre Geschichten zu den Menschen gebracht haben. Das Erzählen war ihr Beruf. Unterwegs haben sie immer wieder neue Märchen, Sagen und Anekdoten gehört und diese dann woanders verbreitet. Allerdings trug jeder Erzähler die Geschichten ein wenig anders vor. Ein bisschen war das wie beim »Stille Post«-Spielen. Deshalb gibt es unzählige Varianten derselben Geschichten.

KinderZEIT: Berühmt für ihre Märchen sind die Brüder Grimm. Waren das auch reisende Erzähler?

Solms: Nein, die Brüder Grimm haben sich Märchen von Menschen erzählen und zuschicken lassen oder sie aus alten Sammlungen abgeschrieben. Teilweise haben sie die Geschichten aber auch stark verändert. Die Kinder sollten durch Märchen nicht nur unterhalten, sondern auch erzogen werden.

KinderZEIT: Gibt es in den Märchen denn Vorbilder?

Solms: Die Helden der Grimmschen Märchen sind meist fleißig, treu, hilfsbereit und brav, während ihre Gegner genau das Gegenteil sind. Der Märchenheld hat sein Glück einfach verdient. Denn er wird am Ende der Geschichte dafür belohnt, dass er ein guter Mensch ist.

Wilhelm Solms, 75 Jahre, ist Professor in Marburg und Märchenforscher

KinderZEIT: Warum können eigentlich viele Tiere in Märchen sprechen?

Solms: Weil sie den Zuhörern und Lesern menschliche Fehler vorführen sollen. Die Idee dahinter ist, dass wir Menschen uns nicht gleich vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn uns ein Tier unser schlechtes Benehmen vorführt. Die Leser sollen daraus lernen und sich besser verhalten als die Tiere.

KinderZEIT: Die Märchen sind mehrere Hundert Jahre alt. Warum lesen wir sie immer noch?

Solms: In Märchen werden Situationen geschildert, die viele Leser heute noch kennen und mit denen sie nicht zurechtkommen. Neid und Streit zwischen Geschwistern sind ein solches Thema, aber auch Schicksalsschläge wie der Verlust von Vater oder Mutter. Wenn Kinder von solchen Problemen im Märchen lesen oder hören, können sie sich damit auseinandersetzen. Deshalb leben die alten Märchen fort.

KinderZEIT: Haben Ihre Eltern Ihnen früher als Kind Märchen vorgelesen?

Solms: Nein, ich bin erst als Professor auf die Märchen gestoßen. Mir war aufgefallen, dass sich zum 200. Geburtstag der Brüder Grimm kaum jemand mit ihren Geschichten beschäftigt hat. Es gab außerdem kaum Veranstaltungen für Kinder. Das wollte ich ändern.

KinderZEIT: Was mögen Sie denn an den Märchen?

Solms: Ich mag, dass es Geschichten sind, wie das Leben sie schreibt. Märchen zeigen, was vielen Menschen tagtäglich widerfährt und wie sie damit umgehen.

KinderZEIT: Was lesen Sie Ihren Enkeln vor?

Solms: Neulich habe ich meiner zehnjährigen Enkelin die Geschichten von Homer vorgelesen, etwa wie der Held Odysseus den menschenfressenden Riesen Polyphem überlistet. Sie fand diese uralte Geschichte spannend. Manchmal lese ich auch eine lustige Tiergeschichte vor wie Der Zaunkönig und der Bär. Am meisten freuen meine Enkel sich aber, wenn ich ihnen von Streichen aus meiner Schulzeit erzähle.