In der Türkei demonstrieren seit Wochen Menschen gegen die Regierung. Viele Kinder in Deutschland haben Verwandte dort. Wie erleben diese Kinder die Proteste?
Von Sarah Schascheck
In den letzten Wochen sah man oft Fernsehbilder aus der Türkei von Menschen, die sich versammelten und riefen: »Wir wollen mitbestimmen!« Auf den ersten Blick scheint das ungewöhnlich: Klar dürfen die Menschen mitbestimmen! Schließlich ist die Türkei ein demokratisches Land. Das heißt, die Bürger haben ihren Regierungschef, Recep Tayyip Erdoğan, frei gewählt. Im Grunde darf hier jeder seine Meinung sagen. Vielen Leuten geht es gut, sie haben Arbeit, die Kinder bekommen eine Ausbildung.
Trotzdem finden vor allem junge Leute, dass Erdoğan, der frommer Muslim ist, oft über ihren Kopf hinweg entscheidet. Viele nennen das »autoritär«. Das bedeutet, er fordert Gehorsamkeit von den Bürgern. Sie sollen so leben, wie er es vorgibt. Er hat zum Beispiel die Werbung für Alkohol verboten, denn eigentlich sollen Muslime keinen Alkohol trinken. Viele Bürger möchten aber lieber selbst entscheiden, wie sie ihre Religion leben.
Angefangen haben die Proteste, als die Menschen merkten, wie hart Erdoğan gegen diejenigen vorgeht, die eine andere Meinung haben. Ende Mai wollte er im Gezi-Park in Istanbul Bäume abholzen lassen, um ein Einkaufszentrum zu bauen. Umweltschützer schlugen Zelte auf, um die Bäume zu bewachen. Schließlich kamen Polizisten und vertrieben die Protestcamper.
Als andere Türken auf Facebook sahen, wie brutal die Polizei mit den jungen Menschen umging, schlossen sie sich dem Protest an. Auch türkische Familien in Deutschland gingen auf die Straße, zum Beispiel in Köln und Hamburg. Insgesamt leben fast eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland, die in der Türkei geboren wurden oder deren Verwandte aus der Türkei kommen. Sie und ihre Familien verfolgen von hier aus, was in der Türkei passiert. Wir haben mit dreien von ihnen darüber gesprochen.
Karan, 8 Jahre, aus Hamburg:
Wir diskutieren viel
Wir wollten in diesem Sommer in die Türkei fahren, aber meine Eltern haben sich Sorgen wegen der Proteste gemacht. Deshalb sind wir zu Hause geblieben. Wir haben die Demonstrationen im türkischen Fernsehen gesehen, und Mama und Papa waren ständig auf Facebook, um mehr zu erfahren.
Vor den Ferien habe ich mit meiner Mathelehrerin über die Proteste gesprochen, und wir haben eine ganze Stunde mit der Klasse darüber geredet. Die türkischen Kinder wussten am besten Bescheid.
Bei uns in der Familie haben nicht alle die gleiche Meinung. Der Papa von meiner Mama ist für Erdoğan, meine Eltern sind gegen ihn. Deshalb wird bei uns zu Hause viel diskutiert.
Dilara, 8 Jahre, aus Hamburg:
Ich war dabei
Meine Familie hat hier in Hamburg gegen Erdoğan protestiert. Auf die erste Demonstration durften meine kleine Schwester und ich mitkommen. Das war aber nicht so toll, weil es Streit mit anderen gab, die für Erdoğan waren. Sogar die Polizei musste kommen. Ich finde es wichtig, auf die Straße zu gehen, um die eigene Meinung zu zeigen. Wäre ich Bestimmerin, dann würde ich Erdoğan austauschen.
Über den Protest weiß ich durchs Fernsehen Bescheid. Meine Oma wohnt hier in Hamburg und schaut viel türkisches Fernsehen, weil die Türkei ihre Heimat ist. Während der Proteste hat sie noch mehr als sonst geschaut, und ich habe mitgeguckt oder Radio gehört. Ich bin auch oft bei den Gesprächen der Erwachsenen dabei, ich liebe das.
Mein Vater hat Verwandte in der Türkei, aber wir besuchen sie nicht jedes Jahr. Ich bin froh, dass wir diesen Sommer nicht in die Türkei gefahren sind. Ich hätte Angst gehabt, dass mein Vater protestiert und ihm etwas zustößt.
Gamze, 11 Jahre, aus Siegburg:
Ich wundere mich
Als die Menschen in der Türkei sich getroffen haben, um zu demonstrieren, habe ich mir eigentlich keine Sorgen gemacht. Die Familie meiner Mutter lebt zwar in Istanbul, aber unsere Verwandten haben am Telefon gesagt, dass bei ihnen alles in Ordnung ist.
Wir haben zu Hause türkisches Fernsehen geschaut, aber auch deutsche Sendungen. Gewundert hat mich, dass die deutschen Kanäle immer nur eine Seite gezeigt haben, alle waren gegen Erdoğan. Das fand ich unfair. In der Schule haben wir über das Thema nicht gesprochen.
Ob wir diesen Sommer in die Türkei fahren, steht noch nicht fest. Vielleicht haben wir nicht genug Zeit, weil wir bald umziehen.