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Der ewige Krieg in den Kivus

Wohl nirgendwo sonst im Kongo hatten die Menschen so viele Hoffnungen in die Präsidentschaftswahlen gesetzt wie in den beiden Kivu-Provinzen. Denn nirgendwo sonst hatten die beiden Kriege im Land so viel Verheerung angerichtet. Am 29. Oktober jährt sich zum ersten Mal die Präsidentenwahl, aus der Joseph Kabila nach einigen nicht nur verbalen Konfrontationen mit Widersacher Jean-Pierre Bemba als Sieger hervorging. Aber die Hoffnung auf Frieden und Neuanfang wurde im Osten des Landes bitter enttäuscht.

Vor allem Nord-Kivu kommt nicht zur Ruhe, wo sich seit Monaten Kämpfer des Tutsi-Generals Laurent Nkunda mit Einheiten der kongolesischen Armee (FARDC) und den Hutu-Milizen der FDLR (Demokratische Front zur Befreiung Ruandas) liefern. Bei letzteren handelt es sich um durchaus noch schlagkräftige Reste jener Interahamwe, die 1994 den Völkermord an den Tutsi in Ruanda verübten und danach über die Grenze in den Ost-Kongo geflohen sind.

In ihrem jüngsten Bericht „Renewed Crisis in North Kivu“ dokumentiert die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ sehr klar und eindringlich die Hintergründe dieses Konflikts und die verheerenden Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Männer, Frauen und Kinder werden wahllos massakriert, ihr Besitz geplündert, Kinder werden als Soldaten rekrutiert und die Zahl der Vergewaltigungen – ohnehin schon ein Riesenprobelm in der Region – ist offenbar weiter gestiegen.

In den vergangenen Wochen haben auch hochrangige UN-Vertreter auf die massive Gewalt gegen Frauen in beiden Kivu-Provinzen hingewiesen. Tatsächlich registrieren Hilfsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ einen deutlichen Anstieg von zum Teil schwer verletzten Vergewaltigungsopfern. Auch die beiden Krankenhäuser in der Region, die sich auf die Behandlung von vergewaltigten Frauen und Männern spezialisiert haben, das Panzi-Hospital in Bukavu und die Klinik der Organisation DOCS in Goma, sind offenbar überlaufen.
Die Blauhelm-Truppen der UN, die derzeit in höchst heikler Auslegung ihres Mandats die marodierende Armee gegen Rebellen unterstützt, hat außerhalb der größeren Städte wenig zum Schutz der Zivilbevölkerung beizutragen. In Süd-Kivu bieten Blauhelme nachts wenigstens etwas Schutz für die terrorisierte Bevölkerung: Sie stellen sich mit ihren Panzerfahrzeugen in Waldlichtungen auf und lassen die Scheinwerfer an, in deren Lichtkegel dann hunderte von Dorfbewohnern die Nacht verbringen.
Ein Ende der Kämpfe im Norden ist momentan nicht abzusehen – und so bleibt für’s erste nur die ernüchternde Feststellung, dass (halbwegs) erfolgreiche Wahlen noch lange keinen Frieden bringen.

 

Und da waren es schon zwei – der Internationale Strafgerichtshof hat einen neuen Untersuchungshäftling

Still ist es geworden um den Internationalen Strafgerichtshof. Fünf Jahre nach seinem Arbeitsbeginn ist noch kein Prozess eröffnet, mühen sich die Ankläger mit drei Strafverfahren gegen Kriegsverbrecher im Kongo, im Sudan und in Uganda ab und hatten gerade mal einen Angeklagten in Untersuchungshaft: den kongolesischen Kriegsherren Thomas Lubanga.
Hatten, denn seit heute sind es zwei. In der Nacht zum Donnerstag wurde Lubangas Landsmann Germain Katanga aus Kinshasa nach Den Haag überstellt.
Wie Lubanga gehörte auch Katanga zu jenen Warlords, die zwischen 1999 und 2003 in Ituri, im Nordosten des Kongo, Massaker und Massenvergewaltigungen verübten – in einem Krieg, der von ethnischem Hass ebenso geprägt war wie vom Kampf über die Kontrolle der riesigen Goldvorkommen in der Region.
Lubanga führte damals Partei und Miliz der Hema an, Katanga kämpfte auf der gegnerischen Seite der Lendu. Jetzt können sie im Gefängnis von Scheveningen zusammen Tischtennis spielen. Oder sich mit dem dritten Flurgenossen, dem ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor, über alte Zeiten unterhalten.

Das Scheveninger Gefängnis verzeichnet die wohl größte Ansammlung mutmaßlicher Kriegsverbrecher. Hier sitzen nicht nur die Angeklagten des UN-Jugoslawien-Tribunals, sondern auch die Untersuchungshäftlinge des Internationalen Strafgerichtshofs und derzeit eben auch Taylor, der prominenteste Häftling des Internationalen Sondergerichts für Sierra Leone. Ein Blick durch die Gitter vermittelt denn auch einen guten Überblick über den aktuellen Zustand der internationalen Strafjustiz: Das UN-Jugoslawien-Tribunal, dessen Amtszeit sich dem Ende zuneigt, hat trotz diverser Rückschläge Rechtsgeschichte geschrieben. Es hat bislang 52 Kriegsverbrecher rechtskräftig verurteilt, erstmals gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt Anklage erhoben und Präzedenzfälle bei der Strafverfolgung von Vergewaltigungen im Krieg geschaffen. Das ist keine schlechte Bilanz nach 14 Jahren, auch wenn die „ganz großen Fische“ nicht ins Netz gegangen oder wieder entschlüpft sind. Slobodan Milosevic entzog sich einem Urteil durch vorzeitiges Ableben; um den flüchtigen Serbenführer Radovan Karadzic ranken sich Gerüchte, wonach die USA ihm seinerzeit Straffreiheit zugesichert haben; und der Hauptverantwortliche für den Völkermord in Srebrenica, Ratko Mladic, ist immer noch auf freiem Fuß.

Bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen in Afrika tut sich das Völkerstrafrecht deutlich schwerer. Das UN-Ruanda-Tribunal hat nach erheblichen Anlaufschwierigkeiten inzwischen über 20 Hauptverantwortliche des Genozids von 1994 verurteilt, darunter einen ehemaligen Premierminister und vier Kabinettsmitglieder. Aber die Reputation des Tribunals ist (unter anderem) durch den Vorwurf lädiert, nur gegen Angehörige und Anhänger der damals amtierenden Regierung ermittelt, nicht aber Verbrechen der damaligen Tutsi-Rebellen untersucht zu haben. Die standen 1994 unter dem Kommando des heutigen Staatschefs Paul Kagame.

Das Völkerstrafrecht befindet sich immer in einem Spannungsfeld zwischen realer Machtpolitik und dem moralischen Anspruch, die Kultur der Straflosigkeit zu beenden. Auch der Internationale Sondergerichtshof für Sierra Leone hat das zu spüren bekommen. Charles Taylor, Liberias Staatspräsident und Hauptanstifter des Bürgerkriegs in Sierra Leone, wurde eben nicht festgenommen, als das Gericht im Juni 2003 Haftbefehl gegen ihn ausgestellt hatte. Da war er noch amtierender Präsident und Kriegsherr. Er wurde vielmehr erst Jahre später aus dem nigerianischen Exil ausgeliefert – zu einem Zeitpunkt, da Taylor politisch und militärisch so weit „entmachtet“ war, dass seine Verhaftung der einflussreichsten Macht in der Region, den USA, opportun erschien.

Dem internationalen Strafgerichtshof wiederum wirft man vor, dass er sich an wirklich „große Fische“ gar nicht herantraut. Sein Strafverfahren im Fall Uganda beschränkt sich auf die Führer der „Lord’s Resistance Army“, deren Massaker und Zwangsrekrutierungen von Kindern zweifellos geahndet werden müssen. Aber die Verbrechen der Gegenseite, der ugandischen Armee und der für sie verantwortlichen Politiker, bleiben unerwähnt. Im Fall Sudan/Darfur hat es bislang nur zu zwei Ankagen gereicht – gegen einen Minister und einen Janjaweed-Kommandanten. Und im Fall Kongo?
Lubanga und Katanga haben sich zweifellos schlimmer Kriegsverbrechen schuldig gemacht. So viel läßt sich trotz Unschuldsvermutung sagen. Aber in der Galerie der Warlords, die das Land zugrunde gerichtet haben, sind sie „kleine Fische“ eines kleineren regionalen Krieges inmitten eines großen Krieges gewesen.
Der Chefankläger des Strafgerichtshofs, Luis Moreno-Ocampo, hatte sich Ituri wohl nicht zuletzt deswegen als einen der ersten Ermittlungsfälle ausgesucht: es war ein regionaler Konflikt, dessen Beteiligte keine mächtigen Schutzherren und kein politisches Kapital mehr hatten.
Dieses Kalkül des Argentiniers ist keineswegs verwerflich, zumal diese „kleinen Fische“ für einen ethnisch motivierten Terror mit mehreren Zehntausend Toten verantwortlich sind.
Bloß ist vom Anspruch der Gerichtshofs, in Ituri bilderbuchmäßig die internationale Aufarbeitung von Kriegsverbrechen vorzunehmen, nicht viel übrig geblieben. Die Menschen vor Ort stellen mit wachsender Resignation fest, dass vier Jahre nach Ende des Konflikt höchst unterschiedliche Maßstäbe an die verschiedenen Kriegsherren angelegt werden. Zwei sind vor dem Internationalen Strafgerichtshof, diesem Gericht im fernen Europa gelandet. Ein weiterer wurde vor einem kongolesischen Gericht in Bunia verurteilt. Mehrere andere wurden unter tatkräftiger Verhandlungshilfe der UN als hochrangige Offiziere in die neue kongolesische Armee aufgenommen. Und ihre ehemaligen Hintermänner und Finanziers, darunter hochrangige Politiker in Kinshasa, aber auch in Ruanda und Uganda, läßt man ganz in Ruhe.

Was nun die angeblich katharsische Funktion eines internationalen Prozesses gegen Thomas Lubanga und Germain Katanga angeht: Katanga hat gerade erst seine Zelle bezogen, Lubanga sitzt seit dreieinhalb Jahren ohne Prozess in Haft – zuerst in Kinshasa, seit März 2006 in den Niederlanden. Sein Verfahren soll frühestens im Februar 2008 beginnen. Derzeit erwägt man in Den Haag, den Prozess in Ituri stattfinden zu lassen, um die betroffene Öffentlichkeit stärker am juristischen Geschehen zu beteiligen. Angesichts der logistischen Schwerfälligkeit des Strafgerichtshofs muss man in diesem Fall ein organisatorisches Desaster befürchten, das den Prozessbeginn im Zweifelsfall noch weiter hinauszögert. Dass die Mühlen der Justiz langsam mahlen, ist ja eine banale Weisheit. Die Gefahr ist nur, dass die Mühlen der internationalen Strafjustiz für die Menschen in Ituri irgendwann völlig irrelevant werden. Denn die haben neben der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen, die sie erleiden mussten, auch noch andere Sorgen: Zum Beispiel, ihr tägliches Überleben in einem bitterarmen, kriegszerstörten Land zu organisieren.

 

Die Boxerinnen von Kabul

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Die meisten ausländischen Journalisten in Afghanistan – mich eingenommen – sind sprachbehindert und können auf Dari oder Pashto gerade mal „danke“ und „Auf Wiedersehen“ sagen. Wie Blinde auf ihren Blindenhund sind wir auf unsere Übersetzer angewiesen – meist Studenten, die gut Englisch sprechen, einen Handyspeicher voller wichtiger Telefonnummern haben und irgendwo schnell ein Auto auftreiben können.

Mein Übersetzer heißt Maiwand, ist 26 Jahre alt, studiert Ingenieurswissenschaften an der Universität Kabul und spart für seine Hochzeit mit einer Jurastudentin. Maiwand hat die Manieren eines Gentleman und einen Fahrstil, der selbst Ungläubige zum Beten zwingt. Wann immer sich hundert Meter freie Strecke vor ihm auftun, nähert sich die Tacho-Nadel der 80Kmh-Marke. „Maiwand, ich würde gern am Leben bleiben“, sage ich dann, worauf er mit einem reumütigen „So sorry “ den Fuß vom Gaspedal nimmt.

Mit dieser Variante des Stop-and-Go landen wir vor dem Kabuler Sportstadion, einem ockerfarbenen Klotz mit einer horrenden Geschichte. Am Eingang lungern Kriegsveteranen herum, manche in Rollstühlen, andere auf Krücken. In einer kleinen Halle machen sich Judoka warm, auf dem grün-braunen Rasen trainieren Fußballer. Die Schaulustigen sind in Feierlaune: Afghanistan hat Pakistan in einem Freundschaftspiel geschlagen – und das, obwohl das afghanische Team in Islamabad bei 40 Grad im Schatten in langen Hosen spielen musste, während die Gegnerinnen in Shorts antreten durften.

Jawohl, richtig gelesen: es war ein Match der beiden Frauennationalmannschaften. Aber ein Sieg gegen das verhasste Pakistan schmeckt immer süß – auch dann, wenn ihn „nur die Mädchen“ errungen haben.

Maiwands Leidenschaft für Fußball ist seit der Zeit der Taliban deutlich abgekühlt. Pamir Kabul und Jami Herat waren in jenen Jahren die Top-Mannschaften. Wann immer sie aufeinandertrafen, stand Maiwand mit seinen Kumpels unter den Zuschauern – den Turban auf dem Kopf und so viel Barthaar wie möglich im Gesicht, um sich keine Hiebe einzufangen.

Als die Taliban eines Tages in der Halbzeitpause zwei Diebe aufs Spielfeld fuhren, um ihnen gemäß der Scharia die Hand abzuschlagen, sei er noch rechtzeitig durch den Ausgang entwischt, sagt Maiwand. Einige Wochen später, bei der Exekution einer Frau, hatten die Taliban die Stadiontore verschlossen. Da habe er sich nur wegdrehen und auf den Schuss warten können.

Maiwand spielt seither lieber Volleyball, soweit sein Rücken das zuläßt, in dem immer noch eine Gewehrkugel steckt. „Ein Quereschläger“, sagt er. Ein Souvenir des Bruderkrieges der neunziger Jahre, als diverse Fraktionen der Mudschahedin Kabul in Schutt und Asche legten, bis schließlich die Taliban die Warlords besiegten und ihre Version von Gesetz und Ordnung einführten.

So ist das in Kabul: In jedes Gespräch schleicht sich beiläufig der Alptraum der vergangenen Jahre ein – und wird im nächsten Moment wieder verdrängt. Aus einem der Kellerräume des Stadions dringen englische Kommandos. „Fight! Stop! Fight!“ In einem Trainingsraum tänzeln vierzehn Mädchen, die Hände in roten Boxhandschuhen, und schlagen entweder auf einen Sandsack oder auf einander ein. „AWBA“ steht auf ihren durchgeschwitzen Hemden. Das steht für „Afghan Women Boxing Association“. Der Coach an diesem Nachmittag ist ein dünnes Kerlchen mit Glatze und dünnem Schnauzbart. Mohammed Saber war vor 25 Jahren mal Landesmeister von Afghanistan und Silbermedaillen-Gewinner bei den pan-asiatischen Spielen in der Gewichtsklasse bis 57 Kilogramm. Heute trainiert er drei mal die Woche eine Truppe von Schülerinnen, die als Flüchtlingskinder im Iran und Pakistan Boxen gelernt haben. In einigen Monaten, glaubt Saber, sind sie reif für das erste Mini-Turnier, vielleicht gegen eine Mädchenmannschaft aus dem Iran.

Das wird wahrscheinlich mit bitterer Enttäuschung enden. Farzanah läßt zu oft die Deckung sinken, Shala ist zu stürmisch, Shukria heult zu schnell, wenn sie eine Gerade auf die Nase bekommt, und in Sachen Kondition ist auch noch einiges zu tun. Aber irgendwann müssen sie das erste Lehrgeld zahlen. Schließlich, sagt Saber, trainierten vor unseren Augen gerade die Pionierinnen einer zukünftigen Frauen-Nationalmannschaft.

Nicht alle Eltern waren von dieser Idee begeistern, aber Saber hat schließlich die Väter davon überzeugt, dass ihre Töchter nicht Schimpf und Schande, sondern irgendwann Ruhm und Ehre über die Familie bringen werden.

Fragt man die Pionierinnen nach ihrem Berufswunsch, dann antworten sie: „Profiboxerin“. Die eine oder andere streut als Alternative noch „Ärztin“ oder „Lehrerin“ ein. Fragt man sie nach ihrem Vorbild, antworten sie unisono: „Leila Ali“, die boxende Tochter des „Größten aller Zeiten“, Muhammad Ali. Fragt man sie nach den Taliban und der Geschichte dieses Sportstadions, dann zucken sie mit den Schultern. Sie waren Kinder, als auf dem Fußballfeld Menschen ermordet wurden. Sie sind jetzt fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Der Wahnsinn der vergangenen Jahre hat sie als Flüchtlingskinder gestreift, aber nie ganz erfasst. Der Krieg und die Taliban-Ära – das ist die Geschichte ihrer Eltern. Nicht die ihre.

 

Die Mullahs und der Hochzeitsrausch

Afghanen haben außer Selbstmordattentaten, Korruption, und der Opiummafia noch andere Sorgen: Heiraten.
Afghanische Hochzeitsfeiern sind (wie fast überall auf der Welt) eine Mischung aus Komödie, Familiendrama, Tanzmarathon und sozialem Schaulaufen. Aber nachdem ich gestern das erste Mal zu einer Hochzeit eingeladen war, meine ich trotz aller Unbedarftheit einige Besonderheiten festzustellen: Die Gäste lachen, tanzen, streiten, essen, trinken (nicht nur Tee) und zeigen stolz den neuesten Nachwuchs, indem sie die Kleinen mitten auf den Tisch setzen. Braut und Bräutigam dagegen machen den ganzen Abend ein Gesicht, als wohnten sie ihrem eigenen Begräbnis bei. Das wirkt bei ihr noch bedrückender als bei ihm, weil sie ein Viertelpfund Make-Up im Gesicht trägt.
Nun weiß ich von Besuchen in afghanischen Schönheitssalons, wo die Frauen stundenlang für ihre Hochzeit geschminkt und frisiert werden, welche Dramen mit einer arrangierten oder erzwungenen Ehe einhergehen. Aber das Paar von gestern abend kennt und mag sich schon seit einigen Jahren. Ich hatte es also mit einer vergleichsweise liberalen Großstadthochzeit zu tun. Trotzdem war das Mienenspiel der beiden zum Erbarmen. Das gehöre sich so, wurde mir erklärt, schließlich müsse sie den Abschied von der eigenen Familie betrauern. „Und der Bräutigam?“ „Der denkt an die Rechnung.“

Womit wir beim nächsten Problem sind. Afghanische Hochzeiten sind nicht nur der Aufbruch ins vermeintlich neue Leben, sondern auch der Sprung in die Schuldenfalle. Soviel wurde mir gestern klar: Wer außerhalb des Opiumhandels schnell und viel Geld verdienen möchte, muss eine Hochzeitshalle eröffnen. Die billige Variante besteht aus einem schlichten Saal in einem Hinterhof mit einem kleinen Podest für die Musiker, viel Platz für die Männer, einer Trennwand und dahinter etwas weniger Platz für die Frauen.
Die luxuriöse Variante besteht aus einem mehrstöckigen Hausklotz mit verspiegelter Glasfront und einem halben Dutzend Festsäle – ausgestattet mit Kronleuchtern made in China und einer Bühne mit zwei Thron ähnlichen Sesseln für den Foto-Marathon des Brautpaars mit Eltern, Geschwistern und Cousins und Cousinen.

Wir feierten gestern nach der teuren Variante. Zu bezahlen waren die Saalmiete (inklusive Plastikblumengestecke und Plastikrosenteppich für das Brautpaar). Außerdem ein mehrgängiges Menü, sowie acht spindeldürre Kellner, die im Laufschritt mit rasant schlechter werdender Laune über 400 Anwesende versorgten. Eine Party mit weniger als 300 Gästen, so wurde mir versichert, gelte als „lahm“.
Zu bezahlen waren außerdem der Goldschmuck für die Braut, zwei Hochzeitskleider und –anzüge (das Paar hat zwei Auftritte), eine giftgrün schimmernde Hochzeitstorte, der Hochzeitsfotograf, das Hochzeitskamerateam, sowie die Hochzeitsband, deren Verstärker einem Berliner Techno-Club alle Ehre gemacht hätte. Alles in allem dürfte der Bräutigam gestern außer seiner Braut eine Rechnung von mindestens 10.000 Dollar mit nach Hause genommen haben. Dabei darf man sicher sein, dass er die Schulden der ähnlich üppigen Verlobungsfeier vor wenigen Monaten noch nicht abbezahlt hat. Der Bräutigam ist von Beruf Ingenieur. In zehn Jahren wird er – mit Hilfe des Vaters – vielleicht Licht am Ende des Tunnels sehen. Für den Durchschnittsafghanen mit einem Monatseinkommen von knapp 100 Dollar ist schon der Gedanke an eine Hochzeit zu teuer.

In Mazar-e-Sharif, in der nördlichen Provinz Balkh, wo die Partypreise ähnlich hoch sind wie in der Hauptstadt Kabul, hat inzwischen die Ulema, der Rat der Religionsgelehrten, eingegriffen und eine Fatwa erlassen. Demnach ist nur noch eine üppige Verlobungsfeier erlaubt. Die Hochzeiten selbst sind in bescheidenerem Rahmen zu Hause abzuhalten. Sich in Schulden zu stürzen, sei „unislamisch“, erklärte der Rat. „Diese Feiern bringen Unruhe in die Gesellschaft. Zu viele Männer bleiben ledig, zu viele Mädchen sind ohne Ehemann.“
Wie den „Afghanistan Times“, einer englischsprachigen Zeitung, zu entnehmen ist, hängen in den Hotels und Hochzeitshallen der ganzen Provinz nun Kopien der Fatwa, die auch vom Provinzgourverneur abgesegnet ist. Der heißt Atta Mohammad Noor und verwahrt sich ausdrücklich gegen den Vorwurf, er wolle wie einst die Taliban das Feiern verbieten: „Die Leute geben Hochzeitsparties als sei es ein Wettkampf. Aber das ist völlig außer Kontrolle geraten, und wir wollen einfach ein bißchen Ordnung hineinbringen.“ Wohlhabendere Familien fluchen, und die die Besitzer der Hochzeitshallen wünschen ihm und der Ulema alles erdenkliche Unglück. Die Fatwa verleidet ihnen das Geschäft mitten in der Hochsaison. In knapp zwei Wochen beginnt der Fastenmonat Ramadan, und vorher wird im Land geheiratet bis zum Abwinken.
Empört sind auch die Musiker. Bei einer privaten Familienfeier gibt es längst nicht so viel zu verdienen, wie auf den rauschenden Festen in den Hochzeitshallen. Außerdem fühlte sich der Religionsrat bemüßigt, auf die strikte Einhaltung der Geschlechtertrennung zu pochen. Soll heißen: männliche Musiker dürfen nicht mehr auf der Frauenfeier auftreten. Womit eine weitere Einnahmequelle flöten geht.

Haben sich die Mullahs und der Gouverneur also in den Fuss geschossen mit ihrer Fatwa? Keineswegs. Die ärmeren Männer jubeln, weil der Preis eines Hochzeitsfests nun auf ein paar hundert Dollar gesunken ist. Glücklich ist auch die winzige Minderheit der afghanischen Musikerinnen. Die bekommen jetzt endlich Gelegenheit, aufzutreten. Für sie ist die Fatwa keine religiöse Bevormundung, sondern gelungene Frauenförderung.

 

„Entführt und in Geld aufgewogen“

Mit weltbewegenden Nachrichten ist das in Kabul so eine Sache: Wenn man zwischen Eselskarren, UN-Geländewagen, Taxis und sinnlos fuchtelnden Verkehrspolizisten im Stau steckt, oder in irgendeinem Amtszimmer verbiesterten Vorzimmerdamen Genehmigungen aller Art abzuringen versucht, dann können die Marsmenschen mitsamt den Taliban einmarschiert sein – und man merkt es nicht.

Kabul ist eine Stadt, deren Bewohner (Kurzzeitbesucher wie zum Beispiel Journalisten eingeschlossen) vollauf mit den banalen Mühen des Alltags beschäftigt sind. Folglich sickerte die Nachricht nur langsam durch, dass die Taliban die ersten zwölf der 19 koreanischen Geiseln freigelassen haben – und in die Erleichterung mischte sich schnell Stirnrunzeln. „Frei? Na Gott sei Dank“, sagt Manisha, die in der Hauptstadt ein Frauenhaus und ein Büro für Familienberatung leitet. „Aber wie kann man so blöd sein, mit einem Haufen Leute, die auf hundert Meter als Ausländer zu erkennen sind, in einem Reisebus nach Kandahar zu fahren?“

Das hört sich nach klassischem Selbstschutzreflex an: die anderen werden Opfer, weil sie Risiken eingehen, die man selbst nie eingehen würde – eine rein subjektive Sichtweise, die aber die Nerven beruhigt.

Andererseits ist der Leichtsinn der Missionare aus Seoul kaum zu überbieten. Am 19. Juli waren sie mit dem infantilen Frohsinn einer Touristengruppe den Taliban in die Arme gerollt. Über diesen Wahnwitz fluchen auch die afghanischen Behörden. Die haben sich zwar offenbar geweigert, die Koreaner gegen acht prominente Taliban-Gefangenen auszutauschen. Aber sie konnten den „bilateralen Deal“ der Taliban mit der südkoreanischen Regierung nicht verhindern. Letztere hat den Geiselnehmern zugesichert, sämtliche koreanische Soldaten und Missionare nach Hause zu holen. Der Abzug der 200 Militärs bis zum Jahresende ist zwar in Seoul längst beschlossene Sache. Aber dieses Detail ändert nichts an der öffentlichen Wahrnehmung in Afghanistan, dass die Taliban ausländische Regierungen in die Kniee zwingen und dabei auch ordentlich melken können. Von Lösegeld ist in der Vereinbarung zwischen Südkoreas Regierung und den Radikalislamisten zwar keine Rede. Aber niemand in Kabul bezweifelt, dass Seoul an die Taliban gezahlt hat – und diese nun mit ein paar Geldkoffern für ihren Dschihad einkaufen gehen.

Das ist der zweite große Kidnapping-Coup der Taliban. Im Frühjahr hatten sie mit der Geiselnahme des italienischen Journalisten Daniele Mastrogiacomo die Freilassung fünf prominenter Kampfgenossen aus afghanischer Haft erpresst. Präsident Hamid Karsai hatte sich erst vehement gegen diesen Erpressungsversuch gewehrt, dann aber dem Druck der italienischen Regierung nachgegeben. Die soll sogar mit dem Abzug ihrer 2000 Soldaten gedroht haben, falls Mastrogiacomo nicht freigelassen würde. Für dessen afghanischen Fahrer sowie für den Übersetzer und Journalistenkollegen Ajmal Naqshbandi gab es keine mächtige Lobby. Sie wurden beide von den Taliban ermordet. „Ihr werdet entführt und in Geld aufgewogen“, sagt dazu lakonisch der Leiter einer afghanischen Hilfsorganisation in Kabul. „Wir werden meistens gleich umgebracht.“

Was nicht immer stimmt. Zwei der südkoreanischen Missionare wurden erschossen, ebenso einer der beiden im Juli entführten deutschen Ingenieure, dessen Kollege immer noch in Gewalt der Taliban ist.

All das hindert am Abend in einem der wohl bewachten Kabuler Restaurants zwei sturzbetrunkene afghanische Geschäftsleute nicht daran, die kollektive Sympathie ihres Landes mit den Deutschen hochleben zu lassen. „Wir Afghanen lieben alle Deutschen“, ruft der eine in den Kabuler Nachthimmel. „Malt Euch den Satz ‚Ich bin ein Deutscher’ auf’s Hemd und lauft durch die Straßen. Jeder wird Euch mit offenen Armen empfangen.“ Wir lehnen den Vorschlag dankend ab.

 

Wenn Präsidentensöhne shoppen gehen

Eigentlich geht es niemanden etwas an, wenn die Reichen und (mehr oder weniger) Schönen bei Chanel, Gucci oder Louis Vuitton einkaufen gehen. Wenn sie die Rechnung allerdings mit der Kreditkarte einer Firma bezahlen, wird es schon interessanter. Und wenn die Kassen dieser Firma aus staatlichen Rohstoffeinnahmen gefüllt werden, dann stinkt die Sache zum Himmel.

Vor wenigen Wochen berichtete die ZEIT über Vorermittlungen der französischen Justiz gegen mehrere afrikanische Staats-und Regierungschefs und deren Familienangehörige wegen Verdachts auf Veruntreuung. Diese besitzen in Paris und an der Riviera fürstliche Immobilien – offensichtlich finanziert mit ihrer Beute aus der Staatskasse. Im Visier der Ermittler befinden sich (zunächst) die Präsidenten zweier Erdöl exportierender Länder: Denis Sassou-Nguesso aus der Republik Kongo (auch Kongo-Brazzaville genannt) und sein Amtskollege aus Gabun, Omar Bongo.

Dass die beiden Herren Ärger mit der Justiz bekommen haben, ist einer kleinen französischen Juristenorganisation namens Sherpa zu verdanken. Die hat sich einen Präzedenzfall in der französischen Rechtsprechung zunutze gemacht, wonach der Verdacht einer Straftat besteht, wenn der Lebenswandel einer Person eindeutig nicht durch deren Einkommen zu finanzieren ist. Afrikanische Präsidenten haben zwar ein fürstliches Gehalt – für den Ankauf diverser Villen und Apartments (mit Blick auf den Eiffel-Turm) reicht es dann aber doch nicht.

Die Familie Sassou-Nguesso hat nun auch in Großbritannien Probleme bekommen: Global Witness, eine Organisation, die den Zusammenhang zwischen Menschenrechtsverletzungen und Rohstoffausbeutung recherchiert, hat die Kreditkarten-Rechnungen des Präsidentensohnes Denis Christel auf ihre Internetseite gestellt. Der geht schon mal gern für 4000 Euro bei Louis Vuitton in Paris einkaufen, oder stockt das heimische Parfümdepot für 4700 Dollar bei Escada in Hongkong auf. Bezahlt hat Sassou-Nguesso Jr. dabei mit Kreditkarten von Scheinfirmen, deren Konten offensichtlich mit Geldern aus den Erdölverkäufen des Landes aufgefüllt werden.

Drei Milliarden Dollar hat die Regierung Sassou-Nguesso im Jahr 2006 aus Ölexporten eingenommen. Trotzdem ist das Land eines der ärmsten der Welt, 70 Prozent der Bevölkerung leben von weniger als einem Dollar pro Tag. Kongolesische Aktivisten, die auf diesen Missstand hinweisen (und Organisationen wie Global Witness maßgeblich zuarbeiten), riskieren Gefängnisstrafen.

Über die Entlarvung durch Global Witness war die Familie Sassou-Nguesso so empört, dass sie die Veröffentlichung der Kreditkarten-Abrechnung durch ein Londoner Gericht verhindern lassen wollte. Am Mittwoch lehnte der London High Court diesen Antrag ab. Es sei eine zulässige Annahme, so der Richter, „dass diese Einkäufe mit den heimlichen persönlichen Profiten aus Ölgeschäften“ stammten.

An der Malaise der Menschen im Kongo ändern kurzfristig weder die Aktion von Global Witness etwas, noch die Aktionen der französischen Justiz (die die Sache wahrscheinlich gern begraben würde)
Doch für die Aktivisten in Kongo-Brazzaville steht fest: sie haben Alliierte in Europa, die ihrem Anliegen Öffentlichkeit verschaffen – und ihren Herrschern zunehmend Ärger. Denn anders als zu Zeiten von Mobutu Sese Seko (Zaire) oder „Papa Doc“ Duvalier (Haiti) können Diktatoren ihre Beute heute nicht mehr ungestört auf ausländischen Konten bunkern. Und womöglich denkt man ja in Brüssel bei der EU demnächst darüber nach, Herrschaften wie die Familie Sassou-Nguesso mit einem Einreiseverbot zu belegen. Auch wenn das auf Kosten von Louis Vuitton gehen würde.

 

Spalten oder nicht spalten? Die Zukunft des Kosovo

So, jetzt ist das Tabu gebrochen. Was in den vergangenen Jahren und Monaten allenfalls hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde, hat der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger nun offen ausgesprochen. Wenn’s denn gar nicht anders geht, dann sei nach der Unabhängigkeit des Kosovo auch eine Abspaltung des serbisch dominierten Nordens vorstellbar. „Wenn“, so Ischinger, „beide Seiten das wollen.“ Gut möglich, dass Ischinger in den nächsten Stunden oder Tagen wieder zurückrudert und beschwichtigt, aber das Gespenst ist nun aus der Flasche.

Wolfgang Ischinger ist nicht irgendwer, sondern Europas Vertreter in einer aus den USA, Russland und der EU bestehenden Troika. Die soll versuchen, die kosovo-albanische Übergangsregierung und die Regierung in Belgrad zu einem Kompromiss über den zukünftigen Status des UN-Protektorats zu bewegen. Bekanntermaßen ist ein solcher Kompromiss nicht vorstellbar: Für Belgrad ist die Unabhängigkeit des Kosovo undenkbar, für Prishtina der Verzicht darauf.

Ähnlich unvereinbar sind auch die Positionen innerhalb der Troika: die war überhaupt erst ins Leben gerufen worden, nachdem Russland im UN-Sicherheitsrat den Plan des UN-Vermittlers Martti Ahtisaari blockiert hatte, der das Kosovo in eine „überwachte Unabhängigkeit“ entlassen will. Russland will vom Ahtisaari-Plan eigentlich gar nichts mehr wissen, die USA wiederum bestehen darauf, und die EU zerfällt zunehmend in Gegner und Befürworter – schöne Voraussetzungen für ein Vermittlerteam.

Nun geistert also die Option der Teilung durch die Konferenzzimmer. Die war von allen internationalen Akteuren nach außen hin immer kategorisch abgelehnt worden, würde sie doch am Verhandlungstisch vollenden, was während der Balkankriege versucht worden war: ethnisch homogene Nationen zu schaffen.
Bekanntermaßen ist das Kosovo de facto aber längst geteilt. Die Serben nördlich des Flusses Ibar haben sich dort eine von Belgrad finanzierte Parallelverwaltung aufgebaut, deren Zentrum die Stadt Mitrovica ist. Diese Tatsache entblößt tagtäglich den Selbstbetrug der internationalen Gemeinschaft. Denn der Anspruch, mit dem NATO-Krieg gegen Serbien 1999 nicht nur die Vertreibung der Kosovo-Albaner zu stoppen, sondern im Kosovo auch eine multi-ethnische Gesellschaft zu „erhalten“, war von vornherein eine Illusion gewesen. Unmittelbar vor dem Krieg 1999 herrschte im Kosovo keine „multi-ethnische“-Gesellschaft, sondern eine Art Apartheid gegen die Albaner. Und nach dem Krieg gab es keine Akte der Versöhnung, sondern der blutigen Rache von Albanern an Serben und Roma, die man verwerflich finden muss, aber nicht verwunderlich.

Ist es dann nicht besser (und ehrlicher), diesen Staat im Wartestand auch de jure zu teilen? Zumal die Radikalen unter den Kosovo-Serben ohnehin angedroht haben, sich nach der Unabhängigkeit abzuspalten?
Nein, ist es nicht. Denn eine Abspaltung des Nordens würde vermutlich mehr Probleme schaffen als lösen. Erstens lebt mindestens die Hälfte der Kosovo-Serben südlich des Ibar. Eine Spaltung des Landes könnte die Spannungen massiv anheizen und eine Massenflucht der Serben aus dem Süden des Kosovo auslösen. Zweitens würde eine „Sezession in der Sezession“ sofort albanische Begehrlichkeiten nach dem Presovo-Tal im Süden Serbiens wecken, in dem mehrheitlich Albaner leben. Drittens befinden sich im Norden ein Teil der Bodenschätze (Zink, Lignit, Blei) und ein großer Teil der Industrieanlagen, die das Kosovo dringend für den Aufbau einer legalen Wirtschaft braucht.

Nicht, dass die Alternative einer vorerst „eingeschränkten Unabhängigkeit“ besonders charmant erscheint. Aber der Ahtisaari-Plan sieht für die mehrheitlich serbischen Regionen in einem unabhängigen Kosovo immerhin eine weit reichende Autonomie vor; die serbischen Kirchen und Klöster, die zu den schönsten in Europa zählen, wären durch einen Sonderstatus geschützt. Ausländische Truppen und EU-Beamte würden den neuen Staat auf Jahre hinaus begleiten und bewachen.

Ob der Ahtisaari-Plan je in Kraft treten wird, ist eine andere Sache – und damit wären wir bei der Preisfrage: wie sieht ein „likely case scenario“, ein wahrscheinliches Szenario, derzeit aus?
Etwa so: Russland stemmt sich weiterhin gegen die Unabhängigkeit des Kosovo und verhindert eine Sicherheitsrat-Resolution, die das UN-Protektorat völkerrechtlich „sauber“ in die eingeschränkte Unabhängigkeit entlässt. Das kosovarische Parlament ruft im Spätherbst einseitig die Unabhängigkeit aus. Die USA, die Schweiz und einige europäische Länder werden das Land sofort anerkennen, die russische Regierung wird fauchen, die serbische wird theatralisch den Verlust des Amselfeldes und damit der „Wiege der Nation“ beschreien. Die EU droht in diesem Fall in Befürworter und Gegner einer Unabhängigkeit zu zerfallen, aus der gesamteuropäischen Mission mit dem völkerrechtlichen Siegel einer UN-Resolution würde wahrscheinlich ein bilaterales Aufbau-Programm einiger EU-Länder mit der kosovarischen Regierung. Wer das verwirrend und beunruhigend findet, der sei hiermit getröstet: es geht allen so.
Die Zeit „eleganten Lösungen“ ist leider längst vorbei. „Warum hat die internationale Gemeinschaft das Kosovo nicht gleich nach dem Krieg 1999 unabhängig werden lassen“, fragte unlängst einer der wenigen serbischen Reformpolitiker in Belgrad. „Dann wäre Milosevic an allem Schuld gewesen und wir könnten uns heute mit wichtigeren Problemen beschäftigen.“ Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

 

Spendenaufruf

Es gibt Katastrophen, die erschüttern die Welt. Und es gibt Katastrophen, die lassen sie – mehr oder weniger – kalt. Diese Erkenntnis ist ebenso bitter wie banal. Die Flut in Südasien zählt zu letzteren. Dort hat der Monsunregen Tausende von Dörfern überschwemmt. Im Norden Indiens sind über 20 Millionen Menschen betroffen, in Süd-Nepal 300.000. In Bangla Desh haben die Fluten das halbe Land und die Häuser und Hütten von fast acht Millionen Menschen unter Wasser gesetzt. Vier Millionen Flüchtlinge drängen sich derzeit rund um die Hauptstadt Dhaka. Es fehlt an Zelten, Medikamenten, Trinkwasser und Nahrung. Die Flüchtlinge leiden oft an Dehydrierung, Durchfall, Hautausschlägen und Erkrankungen der Atemwege. Es drohen Seuchen. Obwohl dieses Desaster vermutlich durch den Klimawandel verschärft worden ist, hält sich die mediale Aufmerksamkeit in Grenzen, die Spendenbereitschaft ebenso. Anders als beim Tsunami im Dezember 2004 sind allerdings auch keine westlichen Touristen betroffen.

Im Krisengebiet in Bangla Desh ist auch Gonoshasthaya Kendra (GK) im Einsatz, eine lokale Hilfsorganisation von Ärzten und Gesundheitsarbeitern, die eng mit der deutschen Organisation medico international kooperiert. GK hat in den über 35 Jahren ihres Bestehens Krankenhäuser, lokale Gesundheitszentren und eine eigene Medikamentenfabrik aufgebaut. Einige ihrer Einrichtungen sind nun überschwemmt.

Trotzdem arbeiten derzeit 15 Teams von Gonoshasthaya Kendra rund um die Uhr in den überschwemmten Regionen. Sie haben bislang etwa 10.000 Menschen medizinisch behandelt, Reis verteilt und Kleinkinder und schwangere Frauen mit zusätzlicher Nahrung versorgt. Mit zusätzlichem Geld könnte GK schnell auf 50 Teams aufstocken und innerhalb der nächsten zehn Tage mehrere hunderttausend Flutopfer erreichen. Wer mehr über die Arbeit dieser Organisation erfahren will, findet zusätzliche Informationen auf der Website von medico international.
Und wer helfen möchte, weitere Nothilfe-Teams von Gonoshasthaya Kendra in das Katastrophengebiet zu schicken, der möge unter dem Kennwort „Bangla Desh“ auf folgendes Konto einzahlen:
medico international
Frankfurter Sparkasse
Kontonummer: 1800
BLZ: 50050201

 

Das Kreuz mit den Friedenshütern – in Afrika häufen sich die Skandale um Blauhelme der UN

Der Mann ist um seinen Job nicht zu beneiden. Jean-Marie Guehenno ist im New Yorker Hauptquartier der UN verantwortlich für die Abteilung Peacekeeping. Im Moment hat es den Anschein, als sei der Franzose mehr mit den Skandalen seiner Truppen als mit ihren friedenserhaltenden Maßnahmen beschäftigt.

Beginnen wir mit ein paar Details zu den Schwierigkeiten dieses Jobs: Wann immer der Sicherheitsrat eine Blauhelm-Mission beschließt (was er seit Ende des Kalten Krieges vergleichsweise häufig tut), muss Guehenno die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen um Soldaten anbetteln. Natürlich ist jeder irgendwie für den Frieden, wenn es aber darum geht, Soldaten für Friedensmissionen abzustellen, hört Guehenno vor allem aus den reichen Ländern oft ein „Sorry, wir sind beschäftigt.“
Deutlich kooperativer sind Regierungen der Armenhäusern dieser Welt. Schließlich werden ihre un(ter)bezahlten Soldaten und Polizisten auf Missionen von der UN durchgefüttert und bezuschusst. Kurzum: Nicht das Personal, das man sich für komplizierte Einsätze wie im Kongo, Haiti oder Kashmir wünscht.
Umso dankbarer muss Guehenno also für Blauhelm-Soldaten aus Ländern sein, in denen die Armee gut versorgt, gut ausgerüstet und dank Übung in (Bürger)kriegen einigermaßen diszipliniert ist. Da sind vor allem drei Nationen zu nennen, die derzeit auch das Gros der rund 100.000 UN-Soldaten stellen: Pakistan, Indien und Bangla Desh.

Dies also muss man wissen, um den jüngsten Untersuchungsbericht der UN über einen Blauhelm-Skandal im Kongo zu interpretieren: Im Mai ging es in diesem Blog um pakistanische Blauhelme, die im Osten des Kongo einen lebhaften Gold-und Waffenschmuggel mit eben jenen Rebellen organisiert haben sollen, für deren Kontrolle und Entwaffnung sie zuständig waren. Die Organisation Human Rights Watch (HRW) hatte 2005 recherchiert, dass ein Netzwerk aus kongolesischen Offizieren, kenianischen Geschäftsleuten und pakistanischen Blauhelmen Gold im Wert mehrerer Millionen Dollar aus dem rohstoffreichen Bezirk Ituri geschmuggelt hatten. Beteiligt am Geschäft waren auch Kämpfer der „Front des nationalistes intégrationistes“, einer Miliz, die während des Krieges in Ituri Massaker an der Zivilbevölkerung verübt hat. Ausgerechnet der FNI sollen pakistanische Blauhelme Waffen und Munition geliefert haben. FNI-Führer haben das selbst in der Öffentlichkeit zugegeben. Außerdem hat ein Reporterteam der BBC nach eigener Recherche die Berichte von HRW bestätigt.

Umso verblüffender die Essenz des Abschlußberichts der UN-Untersuchung dieser Vorfälle (der gesamte Wortlauft des Berichts ist bislang vertraulich), der nun, über zwei Jahre nach den Berichten durch Human Rights Watch, fertig gestellt worden ist: Waffenlieferungen? Haben nicht stattgefunden. Goldschmuggel? Ein bißchen, aber nur ein pakistanischer Offizier soll sich schuldig gemacht haben. Konsequenzen? Offenbar keine. „Der Fall ist abgeschlossen“. erklärte Guehenno der Presse. ‚Das kann ja wohl nicht wahr sein‘, antwortete sinngemäß Human Rights Watch in einem etwas diplomatischer formulierten Brief
Ist wirklich zynisch, wer nun vermutet, dass hier ein Skandal klein gekocht wird, um einen wichtigen Truppengeber nicht zu verprellen?

Zugegeben: Guehenno und die UN haben wenig Handhabe gegen Blauhelme, die in ihren Einsatzgebieten Straftaten begehen. Die UN kann ermitteln, sie kann kriminelle Soldaten nach Hause schicken. Doch die Strafverfolgung obliegt allein der Justiz der Entsendeländer, und die scheren sich in der Regel nicht darum, wie ihre Soldaten sich bei Friedenseinsätzen aufführen.

Bloß spielen UN-Truppen zur Zeit in keinem Land eine so wichtige Rolle wie im Kongo, in dessen Ostteil immer wieder Kämpfe ausbrechen und der fragile Frieden seit den Parlaments-und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr wirklich auf der Kippe steht. Gerade hier macht aber ein UN-Skandal nach dem anderen Schlagzeilen: In der Provinz Nord-Kivu sollen indische Blauhelme in Goldschmuggel verwickelt sein. In Ituri wiederum wächst zusätzliche Wut auf die Blauhelme, weil Soldaten aus Bangla Desh, zuständig für das UN-Gefängnis, zwei kongolesische Insassen getötet und mehrere andere verletzt haben sollen. Hinzu kommt noch die Nachricht aus der Elfenbeinküste, wo das gesamte UN-Kontingent von rund 9000 Soldaten unter Kasernenarrest gestellt worden ist, weil eine Einheit marokkanischer Blauhelme des sexuellen Mißbrauchs einheimischer Mädchen verdächtigt wird.

Angesichts der Häufung solcher Meldungen in den letzten Jahren bekommen Blauhelme langsam den Ruf eines hoffnungslosen Haufens aus Freiern, Zuhältern und Schwarzmarktdealern. Das ist mitnichten der Fall. Erstens gilt das Offensichtliche: die UN haben derzeit 100.000 Blauhelme im Einsatz. Die Mehrheit befolgt herrschende Gesetze und Vorschriften, und das schlimmste, was man ihr vorwerfen kann, ist Hilflosigkeit in Krisensituationen. Aber das ist ein anderes Thema.

Nein, das Problem liegt in einer Diskrepanz zwischen lokalem öffentlichem Bewusstsein und fehlender internationaler Bereitschaft zur Aufklärung. Soll heißen: Menschenrechtsgruppen und Journalisten in den Krisenländern achten inzwischen sehr aufmerksam auf das Verhalten jener Soldaten, die im Auftrag der Weltgemeinschaft Frieden und Menschenrechte sichern sollen. Verbrechen seitens der Blauhelme werden schneller und öfter aufgedeckt als früher. Aber innerhalb der Vereinten Nationen herrscht nach wie vor einer Kultur des Vertuschens. Die hält sich umso hartnäckiger, je mehr Blauhelm-Missionen es gibt und je schwieriger es deshalb wird, genügend Soldaten zu finden.

Selbst wenn intern endlich einmal Klartext geredet wird, hat das wenig praktische Konsequenzen.
Im Jahr 2005 leitete der damalige jordanische UN-Botschafter Prinz Zeid al Hussein eine Untersuchung über die Beteiligung von Blauhelmen an Zwangsprostitution und sexuellem Missbrauch in ihren Einsatzländern. In seinen Schlußfolgerungen bezeichnete der Jordanier die militärische Hierarchie bei UN-Missionen als „zutiefst kompromittiert“ und empfahl, ranghohen Verantwortlichen den Sold zu sperren und bei ihren Entsendeländern mit Nachdruck auf Strafverfolgung zu drängen. Als der Prinz seinen Bericht den Delegierten der Mitgliedsländern präsentierte, stieß er auf demonstratives Gähnen und Schweigen.

 

Keine Milde für Sierra Leones Kriegsverbrecher

Zur Milde sahen die Richter keinen Grund. 50 Jahre Haft – so lautet die Strafe des internationalen Sondergerichts für Sierra Leone für Alex Tamba Brima und Santigie Borbor Kanu, der dritte Angeklagte Brima Bazzy Kamara erhielt 45 Jahre. Die drei gehören zu den Anführern des „Armed Forces Revolutionary Council“ (AFRC), einer Gruppe von Putschisten, die 1997 in der sierraleonischen Hauptstadt Freetown die Regierung stürzte und dann mit den Rebellen der „Revolutionary United Front“ (RUF) ein Duo des Terrors gegen die Zivilbevölkerung bildete.

Wie in diesem Blog berichtet, hatte das Sondergericht die drei bereits im Juni wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen in die Menschlichkeit in elf Fällen schuldig gesprochen – darunter Massenvergewaltigung, Sklaverei und, zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Strafjustiz, Rekrutierung von Kindersoldaten. Die vorsitzende Richterin Julia Sebutinde, die auch den Prozess gegen Charles Taylor leitet, konnte bei der Strafzumessung keine mildernden Umstände finden. Keiner der Angeklagten, heisst es in der Begründung, habe auch nur die geringste Reue gezeigt.
Dass die drei Berufung einlegen werden, gilt als höchstwahrscheinlich, und solange bleiben sie weiter im Gerichtsgefängnis in Freetown inhaftiert.

Sollten die Urteile bestätigt werden, beginnt die Suche nach einem Haftplatz im Ausland. Die nationalen Gefängnisse in Sierra Leone befinden sich in einem katastrophalen Zustand, sowohl in Bezug auf die Sicherheitsvorkehrungen, als auch auf die Versorgung der Gefangenen. Die drei in einer überfüllten Zelle ohne angemessene Nahrung dahinsiechen zu lassen, wäre zwar durchaus im Sinne der tausenden von Opfern, die die AFRC und die RUF hinterlassen haben. Aber Rachsucht, und sei sie noch so verständlich, lässt sich nun einmal nicht mit dem Völkerstrafrecht vereinbaren. Also werden Brima, Kanu und Kamara ihre Strafe womöglich in Schweden oder Österreich absitzen. Mit beiden Ländern hat das Sondergericht in Sierra Leone Abkommen zur Übernahme von rechtskräftig Verurteilten abgeschlossen. (Genauso verfahren auch die UN-Tribunale für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien mit ihren Verurteilten).
In Freetown wird unterdessen weiterverhandelt und beraten. Der Prozess gegen drei Anführer der RUF dauert noch an. Im Verfahren gegen führende Mitglieder regierungstreuer Bürgermilizen wird wohl in den nächsten Wochen ein Urteil ergehen.

Bleibt natürlich noch der Prozess gegen Charles Taylor, den ehemaligen Präsidenten Liberias und mutmasslichen Finanzier, Ausrüster und Mitbegründer der RUF. Taylor hat inzwischen einen neuen Anwalt. Das Mandat hat der britische Anwalt Courtenay Griffiths übernommen. Der in Jamaica geborene Jurist hat sich in Großbritannien unter anderem in Prozessen gegen die IRA einen Namen gemacht. Als erste Amtshandlung will Griffiths einen erneuten Verhandlungsaufschub durchsetzen.
Der Prozess, der aus Sicherheitsgründen nach Den Haag verlegt worden ist, sollte eigentlich am 20. August fortgesetzt werden. Aber bis dahin, sagt Griffiths, könnten er und sein Team sich unmöglich in die Gerichtsakten eingearbeitet haben. Vor Herbstbeginn dürfte also im Fall Taylor nichts vorangehen.
Sollte der Ex-Präsident übrigens verurteilt werden, würde er seine Haftstrafe in Großbritannien absitzen.