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„In der wirtschaftlichen Misere gedeiht keine Demokratie“ – ein Gespräch mit der tunesischen Bürgerrechtlerin Sihem Bensedrine

Zur Feier des Jahres ein Interview. Genauer gesagt: aus Anlaß des ersten Jahrestages der tunesischen Revolution. Am 14. Januar floh Präsident Ben Ali aus dem Land. Das Datum markiert den ersten Diktatorensturz des arabischen Frühlings.

Zu Ben Alis entschlossenen Gegners zählte immer schon die Journalistin Sihem Bensedrine. Die heute 61jährige ist eine der bekanntesten Bürgerrechtlerinnen Tunesiens. Unter dem alten Regime wurde sie verhaftet und gefoltert. Nachdem ihre Zeitung „Kalima“ („Die Stimme“)  verboten worden war, gründete sie ein Online-Journal mit gleichem Namen. Unterstützt durch die Hamburger Stiftung für Politisch Verfolgte, war sie vorübergehend in Deutschland im Exil. Anfang 2011, nach dem Beginn der „Jasmin-Revolution“, kehrte die Mutter dreier Kinder nach Tunesien zurück. Inzwischen ist sie Chefredakteurin von „Radio Kalima“. Anfang dieser Woche war sie Gast der „Martin-Luther-King Lecture“ der Hamburger Körber-Stiftung.

DIE ZEIT: Wie sieht Ihre erste Zwischenbilanz aus – ein Jahr nach dem Sturz Ben Ali’s?

Sihem Bensedrine: Die Revolution selbst ist eine ungeheure Errungenschaft. Das zu betonen, ist mir sehr wichtig, weil das Bewusstsein um diesen Erfolg so schnell verblasst. Tunesien hat in diesem vergangenen Jahr Wahlen für eine Verfassungsgebende Versammlung wie auch für eine nunmehr demokratisch legitimierte Regierung durchgeführt. Mit der Teilnahme an diesen Wahlen hat jeder Tunesier seine Existenz als Bürger, als citoyen, zurück erobert. Was das bedeutet, wie sich das anfühlt, hatte man bei uns fast schon vergessen.
Ganz wichtig auch: viele Tunesier haben sich nicht einfach mit dem Sturz von Ben Ali zufrieden gegeben. Sie sind weiter auf die Straße gegangen, um gegen Versuche der Übergangsregierung zu demonstrieren, ihre Rechte zu beschneiden. Diese Wachsamkeit und Energie haben signalisiert, dass sich die Menschen nicht wieder einlullen lassen.

ZEIT: Die Aufstände in der Region sind noch lange nicht beendet. In Syrien eskaliert die Gewalt immer weiter. Katar hat gerade erst die Entsendung arabischer Truppen nach Syrien empfohlen. Wie denkt man in Tunesien über eine militärische Intervention?

Bensedrine: Unsere Regierung unterstützt den Syrischen Nationalrat (Der SNC hielt im Dezember eine große Konferenz in Tunis ab, d.Red.). Ebenso haben wir seinerzeit die libysche Revolution unterstützt, unter anderem, indem wir Massen von Flüchtlingen aufnahmen. Aber unsere eigene Revolution war eine gewaltfreie. Und ich glaube nicht, dass eine militärische Intervention in Syrien durch arabische Truppen von den Tunesiern akzeptiert würde.

ZEIT: Wie stark ist das regionale Netzwerk von Aktivisten der Demokratie-Bewegungen in der Region?

Bensedrine: Wir kooperieren mit demokratischen Gruppen in Syrien und arbeiten auch im Bereich von Justiz und Rechtsstaatlichkeit eng mit libyschen und ägyptischen Partnern zusammen. Tunesien hat inzwischen das Statut von Rom anerkannt, ist jetzt also Mitgliedsstaat des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag. Kampf gegen Straflosigkeit und eine politisch und symbolische Anerkennung der Opfer von Diktatur spielen für unsere Gesellschaft eine wichtige Rolle. Da schauen wir auch auf die Erfahrungen europäischer Länder, zum Beispiel Polens und der ehemaligen DDR, aber auch auf Südafrika.

ZEIT: Stellt der Sieger der Wahlen in Tunesien, die islamistische Ennahda-Partei, eine Gefahr für die Errungenschaften der Revolution dar, wie viele europäische Medien aber auch viele laizistische Gruppen in Tunesien glauben?

Bensedrine: Ennahda hat – und das wird in der europäischen Berichterstattung gern verdrängt – keine absolute Mehrheit. Sie muss mit zwei Koalitionspartnern aus dem linken Spektrum regieren. Es gibt außerdem eine rege Opposition im Parlament. Und es gibt eine sehr starke Zivilgesellschaft in Tunesien. Die ist sich sehr wohl klar darüber, dass Frauenrechte kein Zugeständnis des autoritären Ben-Ali-Regimes gewesen sind, sondern dass Frauen und auch Männer dafür immer kämpfen mussten. Natürlich gibt es auch in Tunesien das Risiko eines anti-freiheitlichen Rückschritts und damit auch eine Gefahr für die Rechte der Frauen. Das hat aber nichts per se mit dem Umstand zu tun, dass Ennadha eine islamistische Partei ist, sondern dass sie in ein patriarchales System eingebettet ist.

ZEIT: Welche konkreten Forderungen in Bezug auf Frauenrechte stellen Sie?

Bensehdrine: Es gibt noch einiges im Erb-und Familienrecht zu ändern. Zum Beispiel steht Frauen nur die Hälfte dessen zu, was Männer erben. Und noch gilt, dass der Ehemann und Vater letztlich seine Zustimmung zu fast allen Entscheidungen muss, die die Kinder eines Paares betreffen. Wir fordern weiterhin entsprechende Reformen, aber ich würde auch sagen: alles zu seiner Zeit. Wir befinden uns momentan in einer prekären Übergangsphase. Es geht jetzt um die Konsolidierung des Erreichten. Und ich sehe die Gefahr für Frauenrechte auch weniger von Seiten der Regierung als von Seiten bestimmter Gruppen in der Gesellschaft…

ZEIT: …zum Beispiel den radikal-islamistischen Salafisten

Bensedrine: Die vor allem. Aber das ist nun mal der Effekt einer freiheitlichen Revolution. Ist sie erfolgreich, profitieren auch solche Minderheiten von den erkämpften Rechten auf Meinungsfreiheit, die eben nicht für Toleranz stehen. Das ist eine Herausforderung, mit der eine Gesellschaft wie die unsere umgehen muss.

ZEIT: Die Europäische Union, lange Zeit ein zuverlässiger Partner der Diktatoren, hat den Ländern des arabischen Frühlings zügige und nachhaltige Hilfe bei der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung versprochen. Hat die EU aus Ihrer Sicht bislang Wort gehalten?

Bensedrine: Die europäischen Regierungen haben begriffen, dass der Prozess der Demokratisierung in Tunesien auch dann weitergeht, wenn zunächst einmal eine Regierung an die Macht kommt, die ihnen nicht passt. Aber wir brauchen natürlich europäische Unterstützung, um die Säulen zu festigen, die zu einer öffentlichen Kontrolle politischer Macht beitragen sollen: die Medien und die Zivilgesellschaft. Wir brauchen Hilfe beim Aufbau von NGOs, vor allem aber bei der Aus-und Fortbildung von Journalisten.

ZEIT: Es hat zum ersten Jahrestag des Sturzes von Ben Ali nicht nur Feiern sondern auch neue Proteste gegeben, weil sich an der Armut und Arbeitslosigkeit nichts geändert hat…

Bensedrine: Uns allen ist klar: Mitten im wirtschaftlichen Elend gedeiht keine Demokratie. Wir brauchen ein Minimum an Wachstum. Wir brauchen Investitionen, wir brauchen vor allem Jobs für die jungen Leute…

ZEIT: …die zur Zeit in Tunesien nicht zu finden sind…

Bensedrine: Hierbei spielt Europa und seine Migrationspolitik eine zentrale Rolle. Ich spreche ja keinem Staat das Recht ab, seine Grenzen gegen illegale Einwanderung zu schützen. Aber das Thema Migration wird in europäischen Ländern innenpolitisch instrumentalisiert – und das nützt weder den Europäern, noch uns. Wir haben während der Libyen-Krise Abertausende Flüchtlinge aufgenommen, ohne groß zu jammern. Natürlich sind die meisten inzwischen wieder in ihre Heimatländer zurück gegangen. Aber vor diesem Hintergrund wundert man sich schon ein wenig, über die Panik, die in Europa angesichts illegaler Migranten aus dem Maghreb ergreift. Tunesier, die nach Europa aufbrechen, wollen zweierlei: einen Job und die Würde, die damit einhergeht, dass man Arbeit hat. Das sind keine Massen von Menschen, wir sind ja auch wahrlich kein großes Land. Aber diese Leute sind oft recht gut ausgebildet, und wenn sie sich die OECD-Statistiken ansehen, dann braucht Europa auf Dauer Migranten. Und wir brauchen dringend Menschen, die im Ausland verdientes Geld nach Hause schicken. Ich wünsche mir seitens Europas ein sozio-ökonomische Herangehensweise an das Thema Migration: Zum Beispiel durch ein Programm für Visa und Arbeitsgenehmigungen. Das wäre ein dringend nötiges Zeichen der Solidarität mit unserer jungen Demokratie.

 

Südsudan: ein blutiges Jahr eins

Man würde das neue Jahr gern mit Erfreulicherem beginnen als mit Schlagzeilen wie „Südsudan: Tausende Menschen sterben bei Stammeskämpfen“ oder „Die blutige Rache der Lou Nuer“.

Die ersten Meldungen liefen kurz nach Jahreswechsel über die Agenturen: In Jonglei, einem der Einzelstaaten des Südsudan, hat eine Miliz von rund 6.000 jugendlichen Angehöriger der Lou Nuer einen Angriff auf die Stadt Pibor verübt, die überwiegend von der Volksgruppe der Murle bewohnt wird. Beide Gruppen liefern sich seit Längerem einen Konflikt um Vieh und Weideland. Von 3.000 Toten war in den Medien die Rede. Es wäre eines der schlimmsten Massaker in der Geschichte des (Süd-)Sudans – und eines der schlimmsten weltweit in den vergangenen zehn Jahren.

Nach den vorliegenden Informationen lässt sich Folgendes sagen: Es gab zahlreiche Tote unter den Murle. Es gibt bislang keine verlässlichen Zahlen über die Anzahl der Toten. Die Angabe von rund 3.000 ermordeten Murle stammt vom Verwaltungschef des Landkreises Pibor, einem Murle, der den Vorwurf des Genozids erhoben hat. Nach ersten Recherchen der UN ergeben sich aber dafür (noch) keine Anhaltspunkte.

Die Lage, wie sie die Leiterin der UN-Mission im Südsudan, Hilde Johnson, beschreibt, ist auch so schlimm genug. Offensichtlich haben die Lou Nuer auch mehrere Tausend Häuser und Hütten geplündert und angezündet. Ein großer Teil der Zivilbevölkerung war kurz vor dem Angriff aus Pibor geflohen. Einheiten der UN-Blauhelme und der südsudanesischen Armee (SPLA) lieferten sich Feuergefechte mit den Angreifern.

„Die Leute haben kein Dach über dem Kopf“, sagte Johnson nach einem Besuch in Pibor, „ihr Vieh wurde geraubt und damit auch ihre Lebensgrundlage.“ Kurzum: ein humanitäres Desaster  – und zwar genau zum Jahrestag des gefeierten Referendums, mit dem die Südsudanesen im Januar 2011 die Sezession vom Norden beschlossen hatten.

So schlimm es klingt: Nichts davon ist überraschend. Das größte Problem für den jungen Staat ist längst nicht mehr der große Feind im Norden, das Regime in Khartum, sondern eine Gemenge-Lage von Konflikten im eigenen Land. Eine Vielzahl ethnischer Gruppen mit zum Teil archaischen Traditionen konkurriert um knappe Ressourcen in einer vom Unabhängigkeitskrieg zerrütteten Gesellschaft. Die tödlichste Zutat in diesem Gemisch ist die hohe Dichte an Schnellfeuerwaffen.

Auch der Krieg zwischen Luo Nuer und Murle hat sich aus einem scheinbar profanen Grund hochgeschaukelt: Viehdiebstahl. Die Mehrheit der Südsudanesen leben von Viehzucht, Rinder sind sowohl Zahlungsmittel als auch soziales Statussymbol und Brautpreis. Nur wer genügend Rinder aufbringt, kann eine Familie gründen. Viehdiebstahl mit anschließenden Racheaktionen der Bestohlenen haben folglich eine lange Tradition. Nur werden die Aktionen inzwischen nicht mehr mit Speeren und Messern ausgeführt, sondern mit Kalaschnikows – ein Erbe des jahrzehntelangen Bürgerkriegs gegen das Regime in Khartum.

Dessen Frontlinien sind auch in den anhaltenden Kleinkriegen in Jonglei auszumachen. Dass die christlichen Südsudanesen geschlossen gegen den muslimischen Norden gekämpft hätten, ist eine der Legenden der internationalen Berichterstattung und des Bedürfnisses nach klaren „Gut-gegen-Böse“-Verhältnissen. Tatsächlich waren die Fronten immer wieder verworren. Die von Dinka und Nuer dominierte Befreiungsarmee SPLA galt und gilt manchen anderen Bevölkerungsgruppen im Süden eher als Okkupationsmacht. Gruppen der Murle kämpften phasenweise auf Seiten der SPLA, andere auf Seiten Khartums. Letzteres hat sie bei der politisch-militärischen Elite des Landes nicht eben beliebt gemacht.

Für die Murle kommt besonders erschwerend hinzu, dass sie im südsudanesischen Vielvölkerstaat als rückständige Außenseiter gelten und oft als Sündenbock für Missernten und sonstige Unbill herhalten müssen. Was nicht heißt, dass sie nur Opfer wären: Ihre Jungmänner haben in den Gebieten der Luo Nuer ebenfalls geraubt, getötet und geplündert.

Bevor nun der übliche pawlowsche Reflex einsetzt und die UN des Versagens bezichtigt werden: Blauhelme können einen vereinbarten Waffenstillstand oder Frieden zwischen Kriegsparteien sichern, sie können inzwischen auch in vielen Fällen Zivilisten vor Rebellengruppen schützen. Aber sie können keine inner- oder intraethnischen Konflikte um Viehbestände, Stammesehre und Brautpreise eindämmen. Und man sollte es auch gar nicht erst von ihnen erwarten. (Es sei denn, man plädiert für eine hoch professionelle, bestens ausgerüstete Eingreiftruppe, die in diesem Fall 6.000 bewaffnete Männer in Pogrom-Stimmung hätte aufhalten müssen. Für eine solche Truppe bräuchte es dann aber auch Soldaten und Spezialisten aus den USA und Europa. Freiwillige vor!)

Was bleibt, sind einige ebenso bittere wie heilsam ernüchternde Einsichten: Das wird nicht der letzte „Rinderkrieg“ gewesen sein, denn die Republik Südsudan ist weit entfernt von einem staatlichen Gewaltmonopol und der damit einhergehenden Entwaffnung ihrer Bürger. Der junge Staat ist ebenso weit davon entfernt, solche Gräueltaten flächendeckend aufzuklären und vor Gericht zu ahnden. Aber bei aller Begrenztheit ihrer Mittel muss die Regierung in Juba jetzt klarmachen, dass solche Fehden nicht hinnehmbar sind. Und man kann nur hoffen, dass sie zu diesem Zweck nicht die eigene Armee zu einer Strafaktion losschickt, sondern zunächst zusammen mit Kirchen und lokalen Führern die Kampfparteien in einen Friedensprozess zwingt. Der beginnt zunächst einmal mit der gegenseitigen Freilassung von Entführten und der Rückgabe gestohlener Rinder.

Überhaupt werden in den nächsten Jahren Netzwerke von Kirchenvertretern, lokalen NGOs (darunter auch Frauengruppen), Ältestenräten und lokalen Verwaltungschefs immer wieder als präventive Feuerwehr einschreiten müssen. Die schlichten jetzt schon Landstreitigkeiten, verhandeln Weiderechte und Wasserversorgung und versuchen, junge Männer aus einem Teufelskreis von Rache und Ehre herauszuholen. All das ist fragil genug und soll wahrlich nicht als Loblied auf die Zauberkräfte der Zivilgesellschaft verstanden werden. Aber man darf davon ausgehen, dass auf diese Weise bereits einige Konflikte gelöst oder zumindest Schlimmes wie in Pibor verhindert worden ist.

Bis auf Weiteres fängt Konfliktprävention im Südsudan „ganz unten“ an – und sieht jedes Mal anders aus.

 

Kongos Wahldrama – zweiter Akt

So. Nun ist es amtlich. Am Freitag bestätigte der Oberste Gerichtshof des Kongo das von der Wahlkommission verkündete Ergebnis der Präsidentschaftswahlen: Demnach hat Amtsinhaber Joseph Kabila mit 49 Prozent der rund 19 Millionen abgegebenen Stimmen gewonnen, 32 Prozent gingen an seinen größten Konkurrenten Etienne Tshisekedi.

Die Richter wischten sämtliche Beschwerden über Manipulationen hinweg. In Kinshasa blieb es auf den Straßen zunächst ruhig, was nicht so bleiben muss. Am Dienstag soll Kabilas Vereidigung stattfinden. Etienne Tshisekedi hat seinerseits angekündigt, sich am kommenden Freitag „vor dem kongolesischen Volk“ im „Stadion der Märtyrer“, Kinshasas größter Sportarena, zum Präsidenten ausrufen zu lassen. Außerdem forderte er Armee und Angehörige der staatlichen Verwaltung auf, ab sofort auf sein Kommando zu hören. Der Konflikt geht also erst einmal weiter.

An dieser Stelle sei ein kurzer Einschub zur westlichen Berichterstattung über diese Wahlen erlaubt: Der Kongo befindet sich derzeit in einer schweren politischen Krise, über deren Ursachen man trefflich streiten kann. Wenig hilfreich sind allerdings mediale Reflexe, die in den vergangenen Wochen Schlagzeilen produziert haben wie: Nightmare Nation (Nation des Alptraums) oder Fears of return to war (Angst vor einem Rückfall in den Krieg). Da schimmert das alte Klischee vom „Herz der Finsternis“ durch, was in der Öffentlichkeit zwangsläufig den Eindruck erweckt: Kongo? Hoffnungsloser Fall.

Ebenso wenig nutzt das mediale bashing der internationalen Staatengemeinschaft, die sich angeblich nicht mehr um den Kongo schere, nicht aggressiv genug interveniere, die Kongolesen im Stich lasse und so weiter (okay, okay, diesem Reflex verfällt auch die Autorin dieses Blogs ganz gern).

Es ist richtig, dass die zweiten Wahlen nach Kriegsende weit weniger internationale Aufmerksamkeit bekommen haben als die ersten im Jahr 2006. Es ist auch richtig, dass Proteste gegen Autokraten und für Demokratie nördlich der Sahara als Fortschritt gewürdigt werden, während ähnliche Bewegungen südlich der Sahara gern unter der Rubrik „typisch afrikanischer Gewaltausbruch“ abgeheftet werden.
Bloß ist das, was wir derzeit im Kongo sehen, noch lange kein „afrikanischer Frühling“, sondern der Zusammenprall zwischen politischen Egomanen samt radikalisierter Anhängerschaft. Mittendrin und drum herum befindet sich die Mehrheit der Kongolesen, deren Interessen man auch ohne Meinungsumfrage etwa so formulieren darf: Sie wollen kurzfristig ein halbwegs sauberes Wahlergebnis und mittelfristig eine spürbare Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse – was wiederum nicht ausschließt, dass eben jene Kongolesen ihre Stimme für ein Bier, ein paar Hundert Francs und einen Appell an ethnische Loyalitäten verscherbelt haben. Aber das ist ein anderes Thema.

Was nun die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft angeht: Kaum ein Kriegs-und Konfliktland ist in den vergangenen Jahren mit so viel internationaler Hilfe, Einmischung, Ratschlägen und Sanktionen bedacht worden wie der Kongo.
Wer der internationalen Gemeinschaft Versagen bei den Wahlen 2011 vorwirft, vergisst eines: Beim Kongo handelt es sich inzwischen um einen souveränen Staat mit einer 2006 gewählten Regierung, der man nicht eben mal die Wahlkommission oder das Auszählungsverfahren aus der Hand nehmen kann. Das führt zu der vielleicht nicht ganz befriedigenden Einsicht, dass die Interventionsmöglichkeiten der Staatengemeinschaft sehr viel begrenzter sind als 2006. Ob diese engeren Spielräume ausgenutzt worden sind, darf man bezweifeln. An mindestens zwei Punkten wäre mehr Druck nötig gewesen: Man hätte erstens – das räumen auch europäische Diplomaten in Kinshasa ein – der Wahlkommission klar machen können und müssen, die Wahlen um einige Wochen zu verschieben. Ein erheblicher Teil der Unregelmäßigkeiten ist auf logistisches Chaos zurückzuführen.

Man hätte, zweitens, Kabila und seinem Machtzirkel in den vergangenen Jahren immer wieder verdeutlichen müssen, dass es inzwischen gezielte Sanktionen gibt gegen Politiker, die ihre Auslandskonten mit der Beute aus der Staatskasse füllen. Kurz vor den Wahlen am 28. November hatte Eric Joyce, Vorsitzender der Arbeitsgruppe zur Region der Großen Seen im britischen Parlament, einen Bericht veröffentlicht, wonach Kabila und Co. Rohstoffkonzessionen weit unter Wert an ausländische Scheinfirmen (zugelassen auf gute Freunde des Präsidenten) verscherbelt und die öffentliche Hand damit um über fünf Milliarden Dollar geprellt haben. Das entspricht nach Berechnungen des Kongo-Experten Jason Stearns 80 Prozent des jährlichen Haushaltsbudgets.

Dass so etwas immer noch möglich ist, ist ein Skandal. Dass es inzwischen zum Untersuchungsgegenstand eines europäischen Parlaments wird, ist ein Fortschritt – so viel investigative Energie würde man sich auch im Bundestag mal wünschen. Was (noch) fehlt, sind politische Konsequenzen. Also konsequenter Druck seitens des IWF und anderer Geldgeber, Untersuchung weiterer Fälle, gezielte Sanktionen.

Der Kongo war übrigens vor wenigen Tagen auch dem amerikanischen Senat eine Anhörung wert. Darin wiederholte der für Afrika zuständige Staatssekretär im US-Außenministerium, Jonnie Carson, einige der Vorwürfe über Unregelmäßigkeiten und Manipulationen, welche sowohl die Wahlbeobachter des Carter Center als auch der EU zu der Schlussfolgerung veranlassten: Es ist nicht klar, wer gewonnen hat. Die einzige zulässige Schlussfolgerung daraus kann eigentlich nur lauten, dass man dann eben noch Mal nachzählen muss.

Davor schreckte Carson allerdings zurück. In der Anhörung verlegte er sich auf eine „Lösung“, die eigentlich keine ist: Weil man angeblich nicht mehr klären kann, ob die Unregelmäßigkeiten und Manipulationen tatsächlich Wahl entscheidend waren, belässt man es halt bei Kabilas Sieg.

Darauf wird es wohl auch hinauslaufen. Die Frage ist nun, wie viel Protest und (Staats-)Gewalt dies nach sich ziehen wird. Tshisekedis Ankündigung, sich am Freitag zum Präsidenten des Volks ausrufen zu lassen, lässt da nichts Gutes ahnen. Sie macht auch erneut deutlich, wie problematisch der Mann inzwischen ist. Seine Verdienste um die zivile Opposition im Kongo sind unbestritten. Doch in den vergangenen Jahren hat er seinem Land und seinen Anhängern zwei Mal einen Bärendienst erwiesen: 2006, als er die Wahlen von vorne herein für gefälscht erklärte und sie deswegen boykottierte. Und 2011, als er sich bereits Wochen vor dem Wahltag in einem Interview zum Sieger erklärte. Das zeugt nicht gerade von Respekt für den Wählerwillen. Denn dass der Mann im ganzen Land mehrheitsfähig wäre, darf man mit Fug und Recht bezweifeln. Seine Politikfähigkeit sei ebenfalls dahingestellt. Die Opposition hätte eine reale Chance gehabt, Kabila abzuwählen, wenn zwei der oben erwähnten Egomanen, Tshisekedi und der im Osten populäre Präsidentschaftskandidat Vital Kamerhe, sich zusammengetan hätten. Aber das Ego war eben größer als der strategische Sachverstand.

Auch wenn’s nicht passieren wird – man kann sich zum Abschluss ja mal einen kongolesischen Frühling ausmalen: statt am Freitag ins „Stadion der Märtyrer“ zu pilgern, würden die Wähler in Kinshasa (und in anderen Städten) Sitzstreiks organisieren, Plätze besetzen, ihre (leider durch und durch opportunistischen) Musikstars zu spontanen Straßenkonzerten mobilisieren, sich von den Knüppeln der Polizei nicht provozieren lassen – bis es zu einer Neuauszählung der Stimmen unter internationaler Beobachtung kommt. Und die wird dann auch von allen Kandidaten akzeptiert.

 

 

Kongos Wahldebakel

Was haben Wladimir Putin und Joseph Kabila gemein? Den Ruch des Wahlfälschers und die Zahl 49. Nur noch 49 Prozent erzielte Putins Partei „Einiges Russland“ bei den Parlamentswahlen und verzeichnete dabei einen Verlust von 14 Prozent – trotz offenbar massiver Manipulationen.
Mit 49 Prozent soll Joseph Kabila laut vorläufigem Ergebnis der Wahlkommission die Präsidentschaftswahlen im Kongo gewonnen haben – auch dank Manipulationen.
In Moskau wagt nun eine erstarkte Zivilgesellschaft Protestaktionen, die vor einem Jahr undenkbar gewesen wären.
In Kinshasa wartet ein gewaltiges Polizeiaufgebot auf den Straßen, um jeden Aufmarsch von Oppositionsanhängern zu verhindern. Im besten Fall mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Gummigeschossen. Im schlimmsten Fall mit scharfer Munition.

Die ausländischen Botschaften haben ihren jeweiligen Landsleuten geraten, entweder das Land zu verlassen oder sich mit Wasser und Lebensmitteln einzudecken; die reicheren Kongolesen haben ihre Familien über den Fluß hinüber nach Brazzaville in Sicherheit gebracht; viele Geschäfte und Märkte in der Stadt sind geschlossen, die Hotels halbleer, die Gerüchteküche ist leider voll. Die einen munkeln, ruandische Soldaten hätten sich in die Hautptstadt eingeschlichen; andere behaupten, Macheten seien an Straßengangs verteilt worden. Die Mobilfunkanbieter blockieren seit Tagen die Verbreitung von Textnachrichten, und man kann sich jetzt fragen: Tun sie es als Gefallen für Kabila, um die Mobilisierung der Opposition zu erschweren? Oder tun sie, um die Verbreitung von solchen Verschwörungstheorien zu bremsen, die wie ein Brandbeschleuniger wirken können?

Denn mit der – um drei Tage verspäteten – Bekanntgabe des vorläufigen Ergebnisses hat sich gar nichts geklärt – geschweige denn entspannt. Mehrere Oppositionskandidaten, darunter der im Osten populäre ehemalige Parlamentspräsident Vital Kamerhe hatten schon vor Bekanntgabe gefordert, die Wahl wegen Manipulationen zu annullieren. Etienne Tshisekedi, Kabilas größter Rivale, hat das nun verkündete Ergebnis abgelehnt und öffentlich erklärt, nach seinen eigenen Berechnungen hätten 54 Prozent der Wähler für ihn und nur 26 Prozent für Kabila gestimmt. „Seine Amtszeit ist zu Ende. Ich bin der Präsident.“ Viele seiner Anhänger würden ihrer Wut am liebsten auf der Straße Luft machen – gegen Polizei und Präsidentengarde, aber auch gegen die Prügeltrupps aus dem Kabila-Lager. Bei Zusammenstößen in den vergangenen Tagen sind laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge über 20 Menschen getötet worden.

Mit reichlich Verspätung hat die internationale Gemeinschaft nun auf „Achtung! Gefahr!“-Modus umgeschaltet und ihre Feuerwehrdiplomatie in Gang gesetzt. UN, EU, AU, das amerikanische State Department, die französische Regierung und Südafrikas Präsident Jakob Zuma shutteln oder telefonieren zwischen Kabila und Tshisekedi hin und her, ermahnen beide, provozierende Äußerungen zu unterlassen und ihre Fusstruppen ruhig zu halten, suchen nach möglichen „Kompromissen“ und Vermittlungsoptionen.

Das Problem ist: Vorerst gibt es nichts zu vermitteln. Vorerst gibt es nur eine Frage: Kann man aus einem völlig verfahrenen Wahlprozess noch ein halbwegs akkurates und sauberes Ergebnis heraus destillieren?

Diese Wahlen standen von Beginn an unter dem Verdacht massiver Einflussnahme und Manipulationen von Seiten Kabilas: Angefangen von der Verfassungsänderung, die den Sieg durch eine einfache Mehrheit ermöglichte; über die Besetzung der Wahlkommission; bis hin zu einer umstrittenen Wählerregistrierung, zur Einschüchterung von Oppositionskandidaten und der Manipulation von Wahlurnen. Die Mission der EU hat „serious irregularities“ fest gestellt, also „ernsthafte Unregelmäßigkeiten“. Das Carter Center hält das Wahlergebnis für „nicht glaubhaft“. Die Frage ist, ob diese Unregelmäßigkeiten so massiv und vorsätzlich waren, dass sie das Ergebnis entscheidend beeinflusst haben – und ob die ausländischen Beobachter in der Lage und willens wären, das fest zu stellen. Die katholische Kirche, die mehrere zehntausend Wahlbeobachter gestellt und wohl den größten Überblick über das Chaos hat, rückt mit ihren Ergebnissen noch nicht raus – angeblich aus Angst, die extrem angespannte Lage weiter zu verschärfen.

Was also tun?

Die Ergebnisse offenlegen – und zwar Wahllokal für Wahllokal. Und die Wahlprotokolle veröffentlichen, welche die Beobachter der verschiedenen politischen Parteien in jedem Lokal unterzeichnen. Das fordern kongolesische NGOs, das fordert in einer aktuellen „Dringlichkeitserklärung“ auch die „International Crisis Group“ (ICG).
Dann allerdings müssten sämtliche Kandidaten mit massivem internationalen Druck darauf verpflichtet werden, das durchgeprüfte Ergebnis anzuerkennen – notfalls mit der Androhung gezielter Sanktionen.

Die ICG möchte zudem möglichst schnell eine koordinierte UN-EU-AU-Krisendelegation in Kinshasa sehen. Die allerdings müsste dort erst einmal ihren Ruf als unparteiischer Akteur etablieren. In den Augen der Opposition hat die internationale Gemeinschaft viel zu lange Kabilas Machtgebaren zugesehen, um noch als neutral zu gelten.

Viel Zeit für politische und diplomatische Interventionen bleibt jedenfalls nicht: Bis zum 17. Dezember soll der (mit Kabila-Loyalisten besetzte) Oberste Gerichtshof des Landes über sämtliche Beschwerden gegen das Wahlergebnis entschieden haben und den endgültigen Sieger bestätigen. Aus Kinshasa werden unterdessen vereinzelt Siegesfeiern von Kabila-Anhängern gemeldet und vereinzelt Proteste in den Vierteln der Tshisekedi-Anhänger. Dabei ist die Hauptstadt keineswegs der einzige Brennpunkt. In  Mbuji-Mayi, Hauptstadt der Provinz Ost-Kasai, einer Hochburg Tshisekedis, soll es ebenfalls Unruhen geben. Und dort schießen die Sicherheitskräfte angeblich gleich mit scharfer Munition.

 

Wachablösung beim Haager Strafgerichtshof: die neue Chefanklägerin kommt

Bei aller Dramatik der Ereignisse in Kinshasa (noch zwei Tage bis zu Bekanntgabe der Wahlergebnisse) und in Mogadischu (Al Shabaab beschleunigt offenbar den Takt der Bombenanschläge mit und ohne Selbstmordattentäter) ist ein kurzer Blick ins friedlich beschauliche Den Haag fällig.

Die Untersuchungshaftanstalt des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) verzeichnet einen Neuzugang: Am vergangenen Mittwoch wurde Laurent Gbagbo, ehemals Präsident der Elfenbeinküste, nach Den Haag ausgeliefert. Die Elfenbeinküste war Anfang 2011 Schauplatz eines mehrmonatigen Bürgerkriegs, nachdem Wahlverlierer Gbagbo sich geweigert hatte, das Amt für seinen Gegner Alassane Ouattara frei zu machen. Stattdessen begannen Armeeeinheiten Anhänger Ouattaras zu massakrieren. Gbagbo-treue Radio-Stationen riefen zur Menschenjagd auf. Bewaffnete Ouattara-Anhänger gingen ihrerseits auf die Zivilbevölkerung los, verübten Massaker und Vergewaltigungen. Der Konflikt endete schließlich mit der Verhaftung Gbagbos am 11. April durch Ouattaras Kämpfer, die offensichtlich auch durch französische Einheiten unterstützt worden waren. 3000 Tote, eine Million Vertriebene sowie ein tiefer ethnisch-religiöser Graben sind das Fazit dieses Krieges.

Ouattara selbst hatte den ICC gebeten, die Ermittlungen aufzunehmen, da die ivorische Justiz dazu bis auf weiteres nicht in der Lage sei. Das dürfte wohl stimmen. Denn in der Elfenbeinküste sitzen bislang nur Gbagbo-Anhänger im Gefängnis, kein einziger Kämpfer auf Seiten Ouatarras wurde zur Verantwortung gezogen. Auf dem ICC lastet nun der juristische wie politische Druck, auch gegen die andere, nunmehr regierende Seite zu ermitteln. Gelingt dem Gerichtshof das nicht, so könnte Gbabgos Auslieferung nach Den Haag in der Elfenbeinküste die Spannungen wieder anheizen.

Das ist bald nicht mehr das Problem des noch amtierenden Chefanklägers Luis Moreno-Ocampo, sondern seiner Nachfolgerin. Ocampos neunjährige Amtszeit endet in wenigen Monaten. Seinen Posten wird – das steht bereits fest – seine bisherige Stellvertreterin Fatou Bensouda übernehmen.

Wehmut über den Abgang des Argentiniers hält sich in Grenzen. Die Bilanz des Gerichtshofs ist knapp ein Jahrzehnt nach seiner Eröffnung noch mager – und das ist auch Ocampos Arbeitsweise geschuldet. Sein theatralischer Gestus des Ritters gegen das Böse machte sich gut vor Fernsehkameras. Aber er beförderte weder die Ermittlungsarbeit vor Ort noch das diplomatisch Schachspiel hinter den Kulissen, das ein Chefankläger beherrschen muss, dessen Gericht kaum politische, geschweige denn polizeiliche, Mittel hat, um Haftbefehle zu vollstrecken. Bei den Opfern von Kriegsverbrechen weckte Ocampos Pathos zudem oft die Erwartung, der ICC sei eine Art schnelle Eingreiftruppe in Roben. Das ist der Gerichtshof mitnichten. Anfang 2012 wird der ICC endlich sein erstes Urteil fällen – gegen den ehemaligen kongolesischen Kriegsherrn Thomas Lubanga. Wenn die Mühlen irgendwo langsam mahlen, dann in der internationalen Strafjustiz.

Von Bensouda erwartet man sich ein besseres und effektiveres Arbeitsklima und vor allem einen Reputationsgewinn in Afrika. Dass beim ICC bislang „nur“ Fälle aus afrikanischen Ländern (Uganda, Kongo, Zentralafrikanische Republik, Sudan, Kenia, Libyen, Elfenbeinküste) anhängig sind, hat dem Gericht zunehmend den Vorwurf der politischen Einseitigkeit und des „Neokolonialismus“ eingebracht. Bensouda, eine ehemalige Staatsanwältin aus Gambia, kann diese Kritik qua Herkunft und qua Persönlichkeit entkräften. Sie verweist mit Verve und Nachdruck auf die horrenden Kriegsverbrechen, die in den vergangenen zehn Jahren auf diesem Kontinent begangen worden sind.

Wo wir gerade bei Afrika sind: demnächst (wahrscheinlich im Januar 2012) soll in Den Haag endlich das Urteil gegen Liberias Ex-Präsident Charles Taylor gefällt werden. Taylor wäre der erste Ex-Staatschef überhaupt, der wegen Gräueltaten während seiner Amtszeit hinter Gitter muss. Angeklagt ist er der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Rebellen mit seiner Unterstützung im Nachbarstaat Sierra Leone begangen haben. Mit diesem Verfahren beendet das von den UN unterstützte Sondertribunal für Sierra Leone seine Arbeit. Das hatte den Prozess gegen Taylor aus Sicherheitsgründen aus der sierra leonischen Hauptstadt Freetown nach Den Haag verlegt.

Fehlt auf diesem virtuellen Rundgang noch ein Blick auf das UN-Jugoslawien-Tribunal (ICTY). Dieses Gericht befindet sich nun schon seit einiger Zeit in dem eigentümlichen Zustand, seine eigene Abwicklung voranzutreiben, während die beiden wichtigsten Verfahren in der Geschichte des Gerichts gerade erst angefangen haben. Radovan Karadzic gefällt sich zunehmend in der Rolle des Verteidigers in eigener Sache. Mit dem Ende seines Prozesses ist nicht vor Ende 2013 zu rechnen.
Und der Prozess gegen Ratko Mladic wird kaum vor Sommer 2012 beginnen. Mladic’s Gesundheitszustand ist offenbar doch fragiler als nach seiner Auslieferung angenommen. Das ruft in Den Haag natürlich sofort böse Erinnerungen an das größte Debakel des ICTY wach: der Herztod von Slobodan Milosevic, der im März 2006 in Untersuchungshaft starb, während der Mammutprozess gegen ihn noch in Gang war.

Die Anklagebehörde des ICTY versucht nun alles, das Verfahren gegen Mladic zu beschleunigen. Ihr Vorschlag, einen ersten Prozess ausschließlich zum Anklagepunkt des Genozids in Srebrenica zu führen und die anderen Anklagepunkte in ein zweites Verfahren auszulagern, hätte vermutlich zu einem recht zügigen ersten Urteil geführt. Nur mochten die Richter sich dieser Idee leider nicht anschließen. Nun haben die Ankläger die gesamte Anklageschrift zusammengestrichen, die neben Srebrenica auch die Belagerung von Sarajevo und zahlreiche andere Tatorte umfasst. Gut für’s Tempo, aber bitter für zahlreiche Überlebende und Angehörige von Opfern, die über anderthalb Jahrzehnte darauf gewartet haben, gegen ihren Peiniger vor Gericht auszusagen.

 

Somalia: Der Krieg, den keiner sehen will

Die gute Nachricht wie immer zuerst: Am vergangenen Freitag hoben die Vereinten Nationen in drei Distrikten in Südsomalia die höchste Alarmstufe auf. Hilfslieferungen in Bay, Bakool und Lower Shabelle hätten die Lage in diesen Dürregebieten so weit verbessert, dass es sich nicht mehr um „Hungergebiete“ (famine zones), sondern „nur noch“ um „Notstandsgebiete“ (emergency zones) handele.

Die schlechte Nachricht gleich hinterher: Mindestens eine Viertel Million Menschen ist nach wie vor akut von Hunger bedroht. Und die Fortschritte in Bay, Bakool und Lower Shabelle sind durch die anhaltende Invasion des kenianischen Militärs akut gefährdet.

Wie berichtet, marschierte die kenianische Armee vergangenen Monat in Somalia ein, um der islamistischen Miliz al-Shabaab, Somalias Version der Taliban, den Garaus zu machen. Nicht, dass man Letzteren irgendetwas Gutes wünschen wollte. Aber abgesehen von Kenias mangelhaften Kapazitäten für ein solches Unternehmen, ist eine Militärinvasion mitten in der schlimmsten humanitären Katastrophe der blanke Wahnsinn. Hilfsorganisationen wie Oxfam warnen, dass der Krieg gegen al-Shabaab die Verteilung von Hilfsgütern massiv behindert und vor allem die Ausgabe von Saatgut verzögert. Das heißt: Obwohl es inzwischen wieder geregnet hat, ist auch die nächste Ernte in Gefahr.

Inzwischen werden erste zivile Opfer der kenianischen Militäraktion gemeldet: Bei Luftangriffen auf die Stadt Jilib sind nach Angaben von Médecins Sans Frontières (MSF) mehrere Menschen in einem Flüchtlingscamp getötet worden. Die internationale Reaktion? Gleich null. Einzig die EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe, Kristalina Georgieva, forderte die Konfliktparteien auf, Zivilisten zu schonen. Diese zaghafte Mahnung verhallte ebenso ungehört wie ein Statement des UN-Kinderhilfswerk (UNICEF), wonach in den umkämpften Gebieten zunehmend Kinder im Kreuzfeuer ums Leben kommen.

Weil die kenianischen Truppen offenbar nicht vorankommen mit ihrer Offensive und sich seit einigen Wochen mühsam durch verschlammtes Gelände schleppen, sollen ihnen nun äthiopische Truppen zu Hilfe kommen und al-Shabaab von nördlicher Seite in die Zange nehmen. Zur Erinnerung: Äthiopien, Somalias historischer Erzfeind, ist schon einmal ins Nachbarland einmarschiert. Das war 2006 – in Mogadischu hatte die Union islamischer Gerichtshöfe mit Unterstützung vor allem von Händlern und lokalen Politikern die Macht übernommen und es mit ihrer Justiz, basierend auf einer strengen Anwendung der Scharia, geschafft, Clan-Fehden und Bürgerkrieg einzudämmen. Al-Shabaab gehörte damals zum radikal islamistischen Flügel dieser Union. Was viele Somalier als repressive Ordnungsmacht – aber eben als Ordnungsmacht – wahrnahmen, war in den Augen der USA und dem äthiopischen Nachbarn ein neues Rückzugsgebiet für al-Qaida. Äthiopische Truppen vertrieben die Gerichtshöfe, machten den Weg frei für die bis heute amtierende Übergangsregierung.

Doch nichts schweißt die notorisch zerstrittenen somalischen Clane und Glaubenskrieger schneller zusammen als die Anwesenheit ausländischer Soldaten. Nach kaum drei Jahren mussten die Äthiopier wieder abziehen. Zurück blieben eine radikalisierte und gestärkte al-Shabaab – und unzählige Gräber. Auf 113 Seiten hat Human Rights Watch die Kriegsverbrechen aller Konfliktparteien während der äthiopischen Okkupation dokumentiert: Massenerschießungen, permanente Bombardements dicht bevölkerter Wohnviertel, gezielte Angriffe auf Krankenhäuser.

Vom Nimbus des „nationalen Befreiers“, den al-Shabaab nach dem Rückzug Äthiopiens genossen hatte, ist inzwischen nichts mehr übrig geblieben. Ihr talibanesker Frauenhass, ihr Verbot der beiden großen somalischen Leidenschaften (Fußball spielen und Khat kauen), ihre demonstrative Verbrüderung mit al-Qaida und ihre gnadenlosen Zwangssteuern haben sie verhasst gemacht – selbst bei den radikalisierten Teenagern und Jungmännern in den Flüchtlingslagern, aus deren Reihen sie bislang ihren Nachwuchs rekrutierten.

Die Rückkehr des alten Erzfeindes könnte einen Déjà-vu-Effekt haben. Das befürchtet US-Presseberichten zufolge auch das amerikanische Außenministerium, während Pentagon und CIA den äthiopischen Einmarsch unterstützen. Vielen Somaliern ist es (noch) egal, wer al-Shabaab zum Teufel jagt. Hauptsache, sie werden zum Teufel gejagt. Die Islamisten hatten maßgeblich zur Hungerkatastrophe beigetragen, weil sie diese zuerst leugneten und viele Menschen mit Gewalt an der Flucht aus den Dürregebieten zu hindern versuchten.

Dass al-Shabaab keine Hilfsgüter in die von ihr kontrollierten Gebiete lasse, stimmt allerdings nicht. Somalische NGOs in Mogadischu kooperieren seit Längerem mit Shabaab-Kommandanten, die in den vergangenen Monaten zunehmend westliche Hilfe verteilt haben (zu den in Somalia üblichen Konditionen: 20 Prozent der Güter gehen an die Miliz). Sei erst einmal eine Abmachung getroffen, erklärte ein westlicher Koordinator von Hilfsprogrammen, dann halte al-Shabaab diese auch zuverlässig ein. „Nicht, dass ich die Mistkerle vermissen würde“, sagte er, „aber was danach kommt, ist schlimmer.“ Vermeintlich regierungstreue somalische Clan-Milizen, die vor allem auf eines aus seien: die Hilfsgüter und die Fahrzeuge, mit denen diese transportiert werden. Gut möglich also, dass für Bay, Bakool und Lower Shabelle bald wieder die höchste Alarmstufe ausgerufen werden muss.

 

Mogadischu – immer eine Reise wert

Aus Mogadischu zu berichten, bedeutet: viel herum sitzen und warten. Darauf, dass sich Termine ergeben, dass das anvisierte Besuchsziel sicher genug ist, dass Sicherheitseskorte und Übersetzer zur Verfügung stehen. Was tut man gegen Warten und Langeweile? Skypen, Chatten, Googeln.

(Merke: In Somalia funktioniert zwar kein Staat, aber das Internet.)

Wenn man also unter dem Stichwort „Mogadischu“ durch die unendliche Weite des Netzes kurvt, findet man einige ungewöhnliche Einträge. Zum Beispiel den Bericht eines gewissen Mike Spencer Bown auf einer Seite des Reisebuchverlages „Lonely Planet“.

Hi all, I’m the first tourist to visit Mogadishu, Somalia and I can recommend it for those who value extremely exciting travel destinations.“ (Hallo, ich bin der erste Tourist in Mogadischu, Somalia, und kann es für all jene empfehlen, die extrem aufregende Reiseziele schätzen.)

Der Eintrag stammt vom 11. Dezember 2010, als in der Stadt noch heftige Kämpfe zwischen islamistischen Al Shabab-Milizen und den Truppen der Afrikanischen Union tobten. Mike, der kühne Globetrotter, weist uns womöglich auf den nächsten Trend im Tourismus hin. Inzwischen ist es chic, beim Urlaub in Brasilien einen Abstecher in die Favelas zu machen – Slum-Sightseeing. Als nächstes kommt dann wohl Häuserkampf-Camping und Kriegs-Sightseeing.

Eher bizarr klingt dieser Mogadischu-Reisetipp:

Mogadischu: Sie finden hier prächtige Sehenswürdigkeiten wie den Garesa Palast, die Sheikh Abdul Aziz Moschee als auch die Fakr-ad-Din-Moschee. (…) Im Zentrum befinden sich Gold- und Silbermärkte sowie zahlreiche Schmuck Händler. Das ist der perfekte Platz wenn Sie auf der Suche nach einem Souvenir für Zuhause sind. (…) Die Sheikh Abdul Aziz Moschee steht an der Lidostrasse. Über diese Mysteriöse Moschee, von der niemand weiß wann diese erbaut wurde, herrscht die Legende, sie sei aus dem Meer aufgetaucht. (…) Durch wechselseitige Konflikte in der Bevölkerung Mogadischus sind viele Menschen geflüchtet. Das hat zur Folge, dass die Stadt etwas ruhiger geworden ist.“

Wie der letzte Satz ganz nonchalant zwanzig Jahre Bürgerkrieg, diverse Selbstmordattentate und ausländische Interventionen zusammenfasst, ist schon bestechend. Aber Souvenir-Shopping sollte man in Mogadischu derzeit unterlassen. Und dass in der Lido-Straße die Sheikh Abdel Aziz-Moschee steht, ist nicht mehr ganz richtig. Es steht noch ein Teil des Minaretts. Der Rest liegt in Trümmern.

Seit die islamistischen Milizen der Al Shabab sich aus Mogadischu zurückziehen mussten, kann man die Abdel-Aziz-Moschee tatsächlich wieder besuchen. Der wenigen Gläubigen, die jetzt die Trümmer bewachen, haben beim Beten zwischen den Trümmern einen fantastischen Ausblick auf den Indischen Ozean.

Eigentlich haben Ungläubige (und besonders solche weiblichen Geschlechts) auch in zerschossenen Moscheen nichts verloren. Doch der Imam und seine drei Glaubensgenossen waren durchaus erfreut, als wir (trotz Kalaschnikow bewehrter Eskorte) eines Mittags auftauchten. Der Imam und seine Freunde sind Anhänger des Sufismus, haben ein eher mystisches Verhältnis zu ihrer Religion und pflegen mit Nicht-Muslimen einen entspannten Umgang. Genau das macht sie in den Augen der Al Shabab-Milizen besonders verhasst, die in den Kriegsmonaten mehrere Sufi-Schreine und andere Heiligtümer zerstört hatten.

Den angeblich mysteriösen Ursprung seiner Moschee konnte er übrigens nicht bestätigen. Aus dem Meer sei sich nicht aufgetaucht, ein irakischer Architekt habe sie vor Jahrhunderten errichtet. Der liege neben dem Minarett begraben, sagte er und deutete auf eine mit Schutt und Unkraut bedeckte Steinplatte.

Die Hüter der Sheikh Abdel Aziz Moschee

Zum Abschied stellte er sich mit seinen Freunden für ein Foto auf. „Schreiben Sie doch bitte, dass wir dringend jemanden suchen, der die Moschee wieder aufbaut.“ Denn jetzt, so sagte der Imam, sei endlich Frieden in die Stadt eingekehrt. Das halte ich für einen frommen Wunsch. Aber seine Bitte gebe ich gern weiter.

 

Zu Besuch bei Cap Anamur in Mogadischu

An manchen Ecken lässt sich erahnen, dass dies einst eine schöne Stadt gewesen sein muss. Ein Handelszentrum mit Hafen, Jahrhunderte alten Moscheen, einer katholischen Kathedrale, pulsierenden Märkten. Nach 20 Jahren Bürgerkrieg ist von Mogadischu eine Trümmerlandschaft geblieben, verstörend schön gelegen am Indischen Ozean. Zwischen den Ruinen haben Abertausende von Flüchtlingen ihre Notunterkünfte aus Ästen, Decken und Plastikplanen aufgebaut. Kioskbuden bieten Kekse und Säfte an, auf dem Bakara-Markt fegen Ladenbesitzer den Schutt zusammen und inspizieren die Granateneinschläge in den Mauern ihrer Geschäfte, soweit diese überhaupt noch stehen. Vor wenigen Monaten tobten hier noch heftige Kämpfe zwischen der islamistischen Al Shabab-Miliz auf der einen und Truppen der Afrikanischen Union und der somalischen Übergangsregierung auf der anderen Seite. Die Gleichzeitigkeit von allgegenwärtiger Zerstörung und trotzigem Überlebensalltag macht einen schwindelig in dieser Stadt.

Straße in Mogadischu

Die Zahl der Flüchtlingscamps nimmt zu, was gleichzeitig eine gute und eine schlechte Nachricht ist. Gut, weil unter den Flüchtlingen viele Vertriebene aus Mogadischu sind, die nun, da in der Stadt nicht mehr gekämpft wird, die Rückkehr wagen. Schlecht, weil die Lebensumstände in den Camps dadurch noch erbärmlicher werden. Deren Versorgung ist bestenfalls chaotisch. Somalische NGOs sind überfordert, niemand überblickt die Zahl der Flüchtlinge oder Camps, UN-Vertreter wagen sich aufgrund der immer noch prekären Sicherheitslage ebenso wenig in die Stadt wie Vertreter ausländischer Hilfsorganisationen. Die Ausnahmen: Ein paar Vertreter des Roten Halbmonds sowie muslimischer NGOs aus der Türkei, Saudi-Arabien, Kuwait oder den Vereinigten Emiraten. Ein kleines Team von „Médecins sans Frontières“. Und Cap Anamur.

Seit August arbeitet ein Ärzteteam der deutschen NGO in Mogadischu, Hauptstadt eines weitgehend kollabierten Staates, auf dessen Territorium sich im Frühjahr mehrere Krisen zu einer gewaltigen Katastrophe gebündelt haben: Die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten am Horn von Afrika hat zu einer Hungersnot geführt, die wiederum Hunderttausende zur Flucht nach Kenia, Äthiopien und nach Mogadischu getrieben hat. In Somalia wird die Not massiv verschärft, weil die am härtesten betroffenen Gebiete unter Kontrolle der islamistischen Al Shabab Miliz stehen. Die wiederum sehen westliche Hilfsorganisationen als Gehilfen der somalischen Übergangsregierung an – und damit als Feind. Al Shabab hat sich zwar im Sommer weitgehend aus Mogadischu zurückgezogen (und ist jetzt vor allem mit der anrückenden kenianischen Armee im Süden Somalias beschäftigt). Aber in der Hauptstadt kam es wiederholt zu Selbstmordattentaten.
Für die Mitarbeiter von Cap Anamur heißt das: Wenig Bewegungsfreiheit, viel Arbeit.

Flüchtlingslager in der Ruine der Kathedrale

Bereits im Juli hatte die NGO Kooperationsmöglichkeiten in Somalia ausgelotet. Im August bezog das erste Ärzteteam Quartier auf dem Gelände des Banadir-Hospitals, eines der wenigen Gebäude in der Stadt, das an bessere Zeiten erinnert. Ein Krankenhaus mit 600 Betten, einer autarken Wasser- und Stromversorgung und relativ gut ausgebildetem Personal. Das alles hinter Mauern, die nicht von Kugeln und Granaten durchsiebt worden sind.

Bis Mitte Oktober hatte Cap Anamur die Kinderabteilung weiter ausgebaut, eine Intensivstation mit Sauerstoffgeräten, Überwachungsmonitoren und Bluttestgeräten eingerichtet und zusammen mit somalischen Kollegen hunderte von Patienten mit Symptomen schwerster Unterernährung behandelt. Säuglinge und Kleinkinder mit den Gesichtern von Greisen, mit Hungerödemen und allen Krankheiten, die in Elendsgebieten noch anfallen: Durchfall, Bronchitis, Lungenentzündung, Würmer, Malaria, Tetanus, Meningitis, Tuberkulose ….

Unterernährtes Kind im Banadir Hospital

Fahrten durch die Stadt und die Flüchtlingscamps sind aus Sicherheitsgründen nur selten möglich. Von Mogadischu bekommen die Cap Anamur-Mitarbeiter mehr zu hören als zu sehen. Der Motorenlärm und das Stimmengewirr eines inzwischen wieder regen Straßenlebens. Hammerschläge von den Baustellen der Kriegs-und Krisengewinner. Und Schüsse – mal näher, mal ferner. Der Verbreitungsgrad von Schnellfeuergewehren in Mogadischu ist rekordverdächtig, irgendjemand schießt alle paar Stunden irgendwohin. Die Somalis zucken nicht einmal mehr mit der Wimper. Also gewöhnt man sich selbst auch schnell daran.

Was nichts daran ändert, dass die Sicherheitslage für Einheimische wie Ausländer, gelinde gesagt, besser sein könnte. Deutlich besser. Die somalische Übergangsregierung ist vor allem damit beschäftigt, sich selbst zu schützen, wobei allerdings der schläfrige Arbeitsmodus von Soldaten und Polizisten nicht so recht zur Bedrohungslage passt. Ohne die Militärmission der Afrikanischen Union (AMISOM), zusammengesetzt aus ugandischen und burundischen Soldaten, wäre Mogadischu vermutlich längst in die Hände von Al Shabab gefallen.

Inzwischen hat Cap Anamur ein zweites Projekt gestartet: eine Ambulanz, geöffnet täglich von Samstag bis Donnerstag. Drei Zelte, acht Betten, eine Apotheke und schon am frühen Vormittag einen Bürgersteig voller Patienten. Das Haus hinter der Krankenstation dient inzwischen als Unterkunft für das Team, derzeit bestehend aus einer Ärztin, einem Krankenpfleger und einem Techniker (zuständig für alles Nicht-Medizinische von Buchhaltung über Reparatur des Sauerstoffgeräts, Computerwartung, Medikamententransport bis zum Bau der provisorischen Tischtennisplatte). Als vor wenigen Wochen eine Entführungsdrohung die Runde machte, beschloss die NGO, das Quartier zu wechseln. Die Kooperation mit dem Banadir-Hospital geht weiter, das Krankenhaus wird auch in Zukunft mit Medikamenten unterstützt.

Und wie eröffnet man in Mogadischu ein Ambulanz?

Vereinfacht, sehr vereinfacht, in etwa so: Man sucht unter Umgehung der einheimischen Immobilienhaie, die es in jedem Katastrophengebiet gibt, ein bewohnbares und bezahlbares Gebäude; man saniert die Wasserversorgung, bezieht über eine Privatfirma teuren Strom, zimmert Betten, baut die Garage zur Apotheke um, stellt zusätzlich eine somalische Ärztin und zwei Krankenpfleger sowie Übersetzer ein. Außerdem heuert man einen Trupp Bewacher an, die den Eingang kontrollieren und bei den seltenen Fahrten in die Stadt auf der Ladefläche des Pick-Up-Trucks mit ihren Kalaschnikows Platz nehmen, was durchaus abschreckend wirkt. (Zum Beten legen sie das Gewehr ausnahmsweise zu ihren Füßen auf den Teppich)

Die Zelte der Ambulanz waren bereits am ersten Tag gut ausgelastet. Malaria, Durchfallerkrankungen, Anämie, Wurmbefall werden ambulant behandelt, unterernährte Kinder ans Banadir-Hospital überwiesen. Für die Polio-Kranken, die auf allen Händen und Füßen in die Ambulanz kriechen, soll demnächst eine kleine Rollstuhl-Werkstatt entstehen.

Bedarf für weitere Projekte herrscht genug. Im gesamten Hafenviertel der Stadt gibt es keine medizinische Versorgung, ebenso wenig in den Flüchtlingslagern. Eine weitere Ambulanz wäre möglich. Oder ein kleines Hospital mit Mutter-Kind-Station.
Nachhaltiges Expandieren in kleinen Schritten. So lange es die Sicherheitslage erlaubt.

P.S.: Wer die Arbeit der Ärzteteams in Mogadischu unterstützen möchte, findet weitere Informationen und Kontonummern auf der Website von Cap Anamur.

 

Operation „Linda Nchi“ – oder: Was macht Kenias Armee in Somalia?

„Al-Shabaab!“ Der Ausruf dieses Namens löst in Ostafrika inzwischen ähnliche Reaktionen aus wie der Name „al-Qaida“ in den USA oder Europa: Terroristen und Islamisten, so der Pawlowsche Reflex, kann man nur mit militärischen Mitteln bekämpfen. Während die USA und ihre Alliierten sich im Irak und Afghanistan langsam selbst abwickeln und in den westlichen Medien das gefühlte Ende des war on terror verkündet wird, ist in Ostafrika der nächste Krieg ausgebrochen. Seit Mitte Oktober befinden sich kenianische Truppen auf somalischem Boden, bombardiert die kenianische Luftwaffe Städte in Südsomalia, um al-Shabaab endgültig den Garaus zu machen. Linda Nchi heißt die Operation. Auf Deutsch: „Verteidigt die Nation.“

Die islamistische al-Shabaab, nach eigenem Bekunden mit al-Qaida alliiert, kontrolliert weite Teile des Südens von Somalia und hat nach Überzeugung der Regierung in Nairobi zuletzt auch mehrfach auf kenianischem Boden zugeschlagen: Im September hatten bewaffnete Somalis ein kenianisches Hotel nahe der Grenze überfallen, eine britische Touristin entführt und deren Mann getötet. Mitte Oktober wurden in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingslagers Dadaab zwei spanische Mitarbeiterinnen der Hilfsorganisation Médecins sans Frontières verschleppt. Kurz darauf entführten Somalis eine Französin aus einem kenianischen Urlaubsort. Von der britischen Geisel fehlt bislang jede Spur, die Französin starb, weil schwerkrank und ohne Medikamente, nach wenigen Tagen in der Hand ihrer Geiselnehmer. Über das Schicksal der MSF-Mitarbeiter ist nichts bekannt.

Seit dem Beginn von Operation Linda Nchi dominiert nun Frontberichterstattung die kenianischen Tageszeitungen, während die Invasion in den USA und Europa mit frappierender Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen wird. Die Obama-Regierung versichert, vom kenianischen Einmarsch in das Nachbarland nicht informiert worden zu sein – geschweige denn, ihn gebilligt zu haben. Zumindest ersteres erscheint unwahrscheinlich. Dann behauptete Kenias Regierung, die französische Marine habe freundlicherweise Al-Shabaab-Stellungen von der Küste aus beschossen. Paris dementierte prompt, gab aber gleichzeitig bekannt, dass man dem kenianischen Militär logistische Hilfe leisten wolle. Unklar bleibt bis auf Weiteres, aus welchem Land die Tiefflieger stammen, die nach Presseberichten wenige Tage nach Beginn der kenianischen Invasion Al-Shabaab-Stellungen mit Lenkwaffen angegriffen haben. Waffen, mit deren Umgang kenianische Piloten gänzlich unvertraut sind.

Klar ist nur so viel: Wer inmitten einer der größten Dürre-und Hunger-Katastrophen einen Krieg anfängt, der pfeift auf das Leben somalischer Zivilisten. Die Hungersnot am Horn von Afrika ist zwar schon wieder aus den internationalen Schlagzeilen verschwunden, deswegen aber mitnichten zu Ende. Es sind immer noch mehrere Millionen Menschen ohne ausreichende Nahrungsmittelversorgung. In einigen der betroffenen Regionen hat es inzwischen geregnet. Um nicht den nächsten Ernteausfall zu riskieren, müssten die Bauern jetzt aussäen, also aus den Flüchtlingscamps in ihre Dörfer zurückkehren. Stattdessen aber begeben sich aufgrund der Bombardements noch mehr Menschen auf die Flucht.

Sicher ist auch: Wer in einem bitterarmen kriegszerstörten Hohlraum von Staat glaubt, eine fanatisch religiöse Miliz mit militärischen Mitteln beseitigen zu können, der hat offenbar nichts, absolut nichts, aus dem Debakel in Afghanistan gelernt. Oder aus dem Jahr 2006, als die äthiopische Armee mit amerikanischer Unterstützung bis Mogadischu marschierte, nur um sich selbst einen demütigenden Rückzug einzuhandeln und die Schlimmsten unter den islamistischen Milizen in Somalia gestärkt zurückzulassen. All das auf Kosten des Lebens Tausender Zivilisten.

Bleibt die Frage, warum Kenia ausgerechnet jetzt zum Militärschlag ausholt. Al-Shabaab schwächelte in den vergangenen Monaten, weil ihre Milizenführer (übrigens ein durchaus heterogener Haufen) bei der Bevölkerung ihren ohnehin geringen Kredit fast völlig verspielt hatten. Verschiedene Fraktionen gerieten in Streit über die Blockade westlicher Hilfe. Einige zeigten Verhandlungsbereitschaft. Die Invasion einer ausländischen Armee dürfte sie wieder zusammengeschweißt haben und könnte auch ihre Stellung in der Bevölkerung wieder stärken.

Kenia hat sich also womöglich sein eigenes „Afghanistan“ eingebrockt. Dabei, so räumt die Regierung in Nairobi freimütig ein, sei es ihr gar nicht so sehr um die jüngsten Entführungen gegangen (die vermutlich auf das Konto von Banditen, nicht von al-Shabaab gehen). Eine Militäraktion sei schon länger geplant gewesen, erklärte Regierungssprecher Alfred Mutua vergangene Woche. Man darf spekulieren, warum: Purer innenpolitischer Machismo reicht als Motiv wohl nicht aus, zumal Kenias Tourismusunternehmer alles andere als begeistert sind von Operation Linda Nchi. Schließlich hat al-Shabaab umgehend Terroranschläge auf kenianischem Territorium angekündigt. In Nairobi gab es bereits zwei Attentate mit Handgranaten auf eine Diskothek und eine Busstation.

Plausibler erscheint, dass Kenia ein lang gehegtes Ziel umsetzen möchte: Die Errichtung einer semi-autonomen Region als Pufferzone auf somalischem Gebiet, um, erstens, al-Shabaab und andere Milizen weiter von der Grenze abzudrängen, und zweitens einen Teil der somalischen Flüchtlinge in den Camps von Dadaab zurück auf die somalische Seite der Grenze zu drängen. Für die Flüchtlinge wäre das der nächste Alptraum. Davon haben sie in ihrem Leben eigentlich genug gehabt. Spätestens an dieser Stelle muss man fragen, warum das weder einer westlichen Regierung noch dem UN-Sicherheitsrat auch nur ein Räuspern wert ist.

 

Boxen oder Wählen – drei Runden Sparring in Kinshasa

Nicht jeder in Kinshasa hält die kommenden Wahlen für das wichtigste Ereignis des Jahres. Man kann sich um politische Macht prügeln, man kann aber auch im Ring nach den Regeln des Internationalen Amateur-Box-Verbandes kämpfen. Und dabei von den Olympischen Spielen in London 2012 träumen.

Das tun jeden Nachmittag gut zwei Dutzend BoxerInnen im Stadion Tata Raphael. (Das große I ist hier durchaus angemessen, weil etwas die Hälfte Frauen sind.)

Das Stadion Tata Raphael, Connoisseurs des Boxsports als historische Stätte des legendären Fights 1974 zwischen Muhammad Ali und George Foreman bekannt, ist über drei Jahrzehnte später Heimat eines Boxclubs mit dem schönen Namen „La tête haute de Muhammad Ali“. Zu deutsch: das erhobene Haupt von Muhammad Ali.

Wer diesen Blog verfolgt, kennt inzwischen Judex Tshibanda Wata, den Trainer und ehemaligen kongolesischen Meister im Weltergewicht, sowie meine persönliche Vorliebe für’s Boxen und für Muhammad Ali’s historischen Aufenthalt im Kongo (wunderbar dokumentiert in dem Film „When We Were Kings“). Kein Kinshasa-Besuch also ohne Gasttraining bei Judex.

In einer völlig verrotteten Halle unterhalb der ebenfalls ziemlich verrotteten Zuschauerränge, wo Ali sich in der Nacht des Kampfes 1974 aufgewärmt haben soll, trainieren seit Jahren KämpferInnen – Anfänger wie Fortgeschrittene, solche ohne Talent wie solche, die Medaillen abräumen. Die Besten haben außerdem Zugang zu den Fitnessclubs der teuren Hotels oder im sehr viel größeren und besser ausgestatteten Stade des Martyrs.

Denn die Trainingsbedingungen im Stadion Tata Raphael sind gewöhnungsbedürftig: Es gibt keinen Ring, keine Sandsäcke und kaum Licht und Sauerstoff, dafür aber viel Luftfeuchtigkeit und eine intensive Geruchsmischung aus Holzkohle, Urin und Müll. In den Gängen des Stadions leben Dutzende von Familien – und manchmal auch Boxer, die anderswo keine Behausung finden. Nachteile dieser Wohnlage: Kein Wasser, keine Toiletten, kein Tageslicht, viele Moskitos und knöcheltiefes Brackwasser in den Gängen nach heftigen Regenfällen. Die Vorteile: Gratis-Stehplätze am Spielfeldrand, wenn am Wochenende die Spiele der kongolesischen Fußball-Liga ausgetragen werden oder die Nationalmannschaft zum Training aufläuft.

Training im Club "La tete haute de Muhammad Ali"

Außerdem bieten die Eingeweide des Stadion ein gutes Versteck, wenn zu Wahlkampfzeiten auf den Straßen Demonstrationen aus dem Ruder geraten. Die ersten Krawalle hat es bereits gegeben. Dass die Stimmung geladen ist, merkt man an den hitzigen Debatten gleich neben dem Stadion, wo sich vor allem Anhänger der oppositionellen UDPS, der Partei des vermutlich stärksten Kabila-Gegners Etienne Tshisekedi, zum parlement de boue einfinden, dem „Parlament des Schlamms“ (heißt so, weil man mit dem Mundwerk Politik macht und mit den Füßen im Dreck steht). Man stelle sich das vor als eine Mischung aus englischer Hyde Park Corner, Poetry Slam und Stuttgart 21-Wutbürger-Vollversammlung.

Geht es nach Judex, können die Wahlen am 28. November gern ohne ihn stattfinden. Er will sein Frauenteam Ende November zu einem afrikanischen Turnier nach Algiers mitnehmen, auf dem nicht nur um Pokale, sondern (sagt Judex) auch um Plätze für die Olympischen Spiele in London gekämpft wird. Auf der Website des afrikanischen Amateur-Boxverbandes ist in diesem Zeitraum zwar nur ein Turnier in Tunis angekündigt. Aber das liegt ja gleich nebenan.

Coach Judex (rechts) mit seinem Team

Algiers oder Tunis – am Ende könnte das egal sein. Judex befürchtet vermutlich zu Recht, dass der kongolesische Verband seinen Kämpferinnen  weder in die eine noch die andere Stadt Flugtickets bezahlen wird. Die kongolesische Regierung schultert dieses Mal bekanntlich einen Großteil der Kosten für die Durchführung der Wahlen, „und dann“, sagt Judex, „bleibt für uns wieder kein Geld.“ Judex mag Politik nicht besonders, weil sie sich, seit er denken und boxen kann, immer störend auf sein Training ausgewirkt hat. Warum muss die Demokratie im Kongo (so es denn eine bleibt) ausgerechnet jetzt ihren großen Auftritt haben – mitten in der Vorbereitungsphase auf die Olympischen Spiele in London. Bei denen wird wahrscheinlich keine kongolesische Kämpferin teilnehmen. Wahrscheinlich. Es gilt, wie immer im Kongo, die Devise: Nichts glauben, alles für möglich halten.

P.S.: Beim Sparring habe ich übrigens genau drei Runden durchgehalten. Dann blieb mir die Luft weg.