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Die ganze Menschheitsgeschichte auf einer Karte

Europa hat in der Menschheitsgeschichte lange keine Rolle gespielt. Wer diese Aussage so einfach in den Raum stellt, erntet vielleicht nicht sonderlich viel Interesse für seine These. Worten allein mangelt es oft an Überzeugungskraft.

Nicht umsonst heißt es von überzeugenden Sätzen, man „führe jemanden etwas vor Augen.“ Das jedenfalls macht die interaktive Karte, die Wikipedia-Einträge entlang eines Zeitstrahls auf einer Map anzeigt und dabei bunt aufleuchten lässt: „Wenn es nach der freien Enzyklopädie im Netz geht, dauerte es fast 1100 Jahre, bis außerhalb von Europa irgendwas Interessantes passierte.“ So beschreibt De-Bug den Eindruck, den die Visualisierung beim Betrachter hinterlässt.

Sie ist aber auch einfach so hübsch anzusehen, ganz ohne Erkenntnisinteresse.

A History of the World in 100 Seconds“ von Gareth Lloyd hat auch den Preis der „Best Visualization“ beim Matt Patterson’s History Hackday gewonnen.

Zum Verfahren heißt es laut eigener Beschreibung, man habe für die Karte ein großes Paket (30 Gigabyte) von Wikipedia-Artikeln genommen, daraus 424.000 Artikel mit Koordinaten und 35.000 Referenzen zu Ereignissen destilliert und in der Folge daraus 15.000 Orte ermittelt. Diese Orte wiederum hat man dann in ihrer zeitlichen Abfolge auf der Karte verzeichnet – fertig.

 

Traue keiner Statistik…

die du nicht selbst gefälscht hast. So geht der vielzitierte Satz. Man könnte diesen Ansatz konsequent weiterdenken: Lebe so, dass die Statistik stets in deinem Sinne gefälscht wird.

Das bedarf wohl einer Erläuterung. Zunächst der Hintergrund: Der britische Autor David McCandless hat für die kommenden Wochen eine Hoch-Zeit der Beziehungsabbrüche voraussagt. Diese Prognose leitet er aus Statusmeldungen ab, in denen Facebook-Mitglieder angeben, mit wem sie liiert sind und in welcher Weise. 10.000 solcher Bekundungen hat er sich angeschaut und auf den Verlauf eines Jahres heruntergebrochen. Dabei trat zu Tage, dass vor allem im Frühling und zwei Wochen vor Weihnachten die meisten Beziehungen in die Brüche gehen. (Der dazugehörige Facebook-Graph diente McCandless als Beispiel in seinem jüngsten Ted talk über „The beauty of data visualizations – die Schönheit der Datenvisualisierung“.)

Dass diese Kurve aber am 1. April ebenfalls einen kleinen Peak für Trennungen hat, zeigt auch schon, auf welch schwachen Füßen diese Daten stehen.

Zum einen geben viele überhaupt keinen „Beziehungsstatus“ in ihrem Facebook-Account an. Die meisten finden das nämlich eher peinlich. Zum anderen machen die, die das doch tun, hier gerne auch mal Späßchen. So hat man auf einmal im Bekanntenkreis auffällig viele verheiratete und auch gleichgeschlechtlich verheiratete Menschen, die im wahren Leben der Ehe eher abgeschworen haben. Oder eben nicht mit ihrer besten Freundin verheiratet sind, sondern mit ihrem Mann.

Wenn soziale Netzwerke als Quelle von gesellschaftlichen Studien nun tatsächlich wichtiger werden, wie etwa hier behauptet, sollte man sich der Botschaft seiner Angaben umso bewusster sein. Wer zum Spaß auf Facebook heiratet, könnte dieser Logik zufolge langfristig zu dem Eindruck beitragen, Heiraten erfreue sich wieder wachsender Beliebtheit. Single-Überschuss, Vereinzelung, bindungsunwillige Egomanen? Alles Unsinn, Facebook zeigt doch, dass Heiraten wieder angesagt ist!, wäre hier die selbst gefälschte Botschaft. Wer sich dazu auch noch kulturen- und religionenübergreifend vermählt, könnte damit wirksam der Behauptung entgegen treten, die Gesellschaft zerfiele in immer mehr Parallelgesellschaften. Und wer als Frau jüngeren Männern das Ja-Wort gibt, bekämpft damit Vorurteile über das unterschiedliche Paarungsverhalten von Männern und Frauen.

Und so weiter.

Das Gute an dieser Art von gesellschaftlichem Engagement: Man sendet die richtige Botschaft, spart aber die Kosten für eine echte Hochzeit. Und den Trennungsärger sowieso.

 

Twitter voller Eintagsfliegen?

Die Social-Media-Experten des Unternehmens Sysomos haben in einer Studie untersucht, was einer durchschnittlichen Meldung auf Twitter so an Aufmerksamkeit widerfährt. Dafür haben sie 1200 Millionen Tweets aus einem Zeitraum von zwei Monaten ausgewertet. Resultat: 71 Prozent versendeten sich einfach so, sie wurden weder beantwortet noch weiter geleitet.

Das wertet Sysomos als fehlende Resonanz. Offensichtlich hätten die Meldungen nicht in ausreichendem Maß den Wunsch ausgelöst, in ein Gespräch einzusteigen oder den Inhalt mit anderen Followern zu teilen.

Es klingt, als hätten Tweets ein einsames, kurzes Leben. Hinzu kommt, dass von den Tweets, auf die irgend jemand antwortete, 85 Prozent nur ein einziges „reply“ erhalten hätten. Groß angelegte Kommunikation sähe anders aus, wie Networkworld dazu schreibt.

Dabei können wir eigentlich froh sein, dass Twitter nicht nur aus Antworten und Weiterleitungen besteht. Schon jetzt verlinken oft zahlreiche Leser auf die gleiche Quelle, ohne dass man das auf den ersten Klick erkennt. Und schon jetzt steigt man in manche Debatten nur schwer ein, wenn man den Anfang einmal verpasst hat. Zudem mischt sich auf Twitter so einiges: private Meldungen, persönliche Gedanken, Aufmacher großer Magazine, Wichtiges und Belangloses…

Die eigentliche Erungenschaft ist dabei nicht, dass alle miteinander reden. Es ist die Tatsache, dass alles die gleiche Chance hat, wahrgenommen zu werden.

Vielleicht lässt sich der durch die Studie implizierte Anspruch an „gute“ Twitter-Kommunikation mit der Erfahrung erwidern, dass auch zu große Tischrunden eher zu weniger guten Gesprächen führen. Wer über ein konkretes Thema reden will, tut das besser im kleinen Kreis. Was nicht heißt, dass es dabei keine Zuhörer geben darf.

Und im Unterschied zu Medien wie Fernsehen oder Zeitung macht Twitter es eben möglich, dass jeder sich jederzeit einmischen KANN. Von einem MÜSSEN war ja nie die Rede.

 

Auf die Kürze kommt es nicht an

In seinem Blog The Future Buzz möchte Adam Singer einen Mythos wiederlegen: Den von der notwendigen Kürze von Texten im Internet. Er bezieht sich dabei auf einen aktuellen Post seines Bloggerkollegen Rob Birgfeld, der (wie so viele vor ihm) behauptet, dass längere Texte im Netz keinen Erfolg hätten. Und der daraufhin ein paar Regeln für gute Blogposts formuliert.

Zu den Tipps, die Birgfeld für gute Texte gibt, gehört etwa der Hinweis auf kurze Titel und Ankündigungen: Man solle seinen Punkt in 140 Zeichen klarmachen können, Linkadresse inklusive, in Tweetlänge also. Wenn man zudem wünsche, dass jemand den eigenen Hinweis retweete, solle man weitere 15 Zeichen herauswerfen.

Außerdem sollten Blogger ihre Beiträge „vom Kopf auf die Füße stellen“, rät Birgfeld. Soll heißen, schneller auf den Punkt kommen und auf umständliche Einstiege verzichten. Auch Video-Beiträge sollte man so kurz halten wie möglich. Sind sie länger als fünf Minuten sollten sie Hinweise enthalten, an welcher Stelle ein konkretes Thema zur Sprache komme. Im Web, wo alles von Mund zu Mund weitergetragen werde, müssten die Informationen eben auch mundgerecht serviert werden, argumentiert Birgfeld: In kleinen, gut zu kommunizierenden Häppchen eben.

Adam Singer hält diese vermeintlichen Schreibregeln für pure Behauptungen, für die es bis auf weiteres an Beweisen mangele. „Wenn man sich einige der populärsten digitalen Persönlichkeiten im Netz anschaut, wird man hingegen feststellen, dass ihre Texte eher in die Tiefe gehen“, schreibt er.

Die Pflicht zur Kürze scheint eher durch ständige Wiederholung zu einer Regel geworden zu sein, als durch überprüfbare Fakten, glaubt Singer. Entscheidend seien eben gute Einstiege, gute Videos und gute Texte, die dürfen dann eben auch lang sein, und zwar genau so lang, wie ihre Inhalte tragen: „Of course, don’t go longer than you can be interesting.“

Im Netz ließen sich sowohl komplexe als auch simple Ideen verbreiten. Ob diese zwischen Communities weitergetragen würden, hänge nicht davon ab, wie kurz sie seien, sondern ob sie es wert seien, weitererzählt zu werden.

Und in der Tat, wenn man sich die Debatten in und übers Netz so anschaut, hat man nicht das Gefühl, dass sie nun ausgerechnet unter mangelnder Komplexität leiden. Ob nun Jeff Jarvis fragt: „Was würde Google tun?“, Chris Anderson: „The Long Tail“ erklärt oder Nicholas Carr fragt, was das Internet mit unserem Gehirn anstellt, dann passt die Frage zwar in eine Twitterzeile. Aber die Thesen sind groß genug, unzählige Blogs zu füllen.

 

Wie der Cybermob angeblich die Freiheit bedroht

Die Slate-Kolumnisten Ron Rosenbaum und Lee Siegel vom New York Observer haben einen Essayband herausgegeben, in dem sie sich den „New Threats for Freedom“ widmen, den modernen Bedrohungen für die Freiheit also. Dazu gehört ihrer Meinung nach – wie sollte es anders sein – auch das Internet. Das Problem sei der sogenannte „Cyber Mob“. Gemeint sind all die Menschen, die unter dem Schutzmantel der Anonymität ihren dunkelsten Instinkten freien Lauf ließen und herumpöbelten und zankten.

Die Verdienste des Internets hätten eben auch ihre Kosten, moderiert Michael Goodwin seine Gesprächsrunde mit den beiden Autoren auf Big Question Online an. Und die seien vor allem deshalb so gefährlich, weil man sie zunächst gar nicht wahrnehme, bei all dem vermeintlichen Nutzen des Netzes, wie auch Rosenbaum sofort beipflichtet.

Rosenbaum gesteht, das digitale Zeitalter anfangs abgelehnt zu haben. Damals habe er geglaubt, es würden lediglich drei Gruppen von Menschen vom Internet profitieren: Neonazis, Pädophile und Bill Gates. Zumindest mit Bill Gates lag er daneben, wie er inzwischen eingesteht. Doch würden Tarnnamen und falsche Identitäten Menschen Schutz bieten, die diesen Schutz nicht verdienten.

Lee Siegel pflichtet dem bei und warnt noch schärfer als Rosenbaum vor dem „interaktiven Mob“. Was er sagt, klingt kulturpessimistisch: Partizipation führe nur dazu, dass die breite Masse allen ihren Geschmack diktiere. Die Diktatur des Kommentariats, sozusagen.

Jedes kulturelle Zeitalter, so scheint es, führt die gleichen mahnenden Debatten.

Interessant ist vor allem der Versuch, die Positionen der beiden Skeptiker im politischen Umfeld zu verorten. Sie geben sich nämlich in dem Interview keinesfalls sofort als marktliberale Hardliner oder religiöse Hinterwäldler zu erkennen. So beschreibt Ron Rosenbaum, aus welchem Grund er das erste Mal unter den Attacken des Cybermobs zu leiden hatte: als er einen Blogpost gegen die konservative Tea-Party-Bewegung verfasste nämlich.

Und Lee Siegel klagt, der Motor des Internets sei in Wirklichkeit nicht der Wunsch nach mehr Partizipation und Demokratisierung – Werte, die offensichtlich auch er zu teilen wüsste. Nein, der Motor der weiteren Entwicklung des Internets sei vielmehr der Kommerz, die Geschäftsinteressen ganz bestimmter Firmen. Teilweise könnte man ihm in dieser Sorge sogar zustimmen.

Dennoch sind die anderen in ihrem Buch versammelten „Bedrohungen“ sehr aufschlussreich: „Die Regierung“, ist nämlich eine weitere. Es könne nicht ihre Aufgabe sein, für Gerechtigkeit im Leben zu sorgen. „Single Frauen“ sind freiheitsgefährdend, denn seit sie nicht mehr von ihren Männern abhängig seien, würden sie dem Staat auf der Tasche liegen. Weitere Feindbilder sind die Europäische Union, „Die Antireligös-Orthodoxen“, die „partizipative Kultur“ und die „Multikulturalisten“.

Und allein an den diesen Schlagworten zeigt sich der konservative Geist, der diese Anti-Internet-Mob-Positionen offensichtlich nährt.

 

Das System weiß, wer wieder mordet

Die Mitglieder eines Bewährungsausschusses müssen entscheiden, ob ein Häftling vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden darf, weil er sich geändert hat. Meistens besteht so ein Bewährungsausschuss aus Psychologen, Juristen oder Kriminologen. Sie machen – menschlich – immer wieder Fehler. Manchmal kosten diese Fehler Menschenleben, wenn die Entlassenen rückfällig werden und wieder morden.

Im US-Bundesstaat Pennsylvania töteten vorzeitig entlassene Häftlinge im Jahr 2008 zwei Polizisten, auch 2009 starb ein Polizist durch einen Ex-Knacki, und in diesem Jahr gab es bereits vier Tote durch einen unvorhergesehenen Rückfall.

Richard Berk von der Universität von Pennsylvania möchte die Bewährungsentscheidungen deshalb jetzt an Computer delegieren. Sein System könne voraussagen, glaubt er, welcher Häftling rückfällig werde und welcher nicht. Vom Staat hat er dafür immerhin 228.000 Dollar bekommen. Er will das System mit den Daten der vergangenen Jahrzehnte füttern und dann verlässlichere Prognosen erstellen.

Ob und wie gut das funktioniert, ist noch nicht klar. Einen entscheidenen Vorteil aber hätte es auf jeden Fall: Der Computer bekommt kein schlechtes Gewissen, wenn er sich doch einmal irrt. Und niemand wäre Schuld.

 

Merkel klagt, Internet mache Politikern das Leben schwer

Politikvermittlung ist ein schwieriges Geschäft geworden. In einem aktuellen Interview mit der Bunten klagt Bundeskanzlerin Angela Merkel über die „Vielzahl der Informationskanäle“, insbesondere das Internet. Dadurch würde „es immer schwieriger, ein Gesamtmeinungsbild zu erkennen“. Durch den „sehr großen technischen Wandel“ sei es schwerer geworden, „alle Menschen, alle Generationen zu erreichen, denn diese nutzen die einzelnen Medien mittlerweile sehr unterschiedlich“. Und vor allem die jungen Menschen informierten sich ausschließlich über das Internet, „und das oft sehr punktuell“.

Ohne das dumpfe Unbehagen genauer benannt zu haben, wird die Kanzlerin damit all jenen aus der Seele sprechen, die das Internet insgeheim für die Übel der Welt verantwortlich machen. Aber ausgerechnet die Erreichbarkeit ist das Problem des Netzes eigentlich nicht. Und auch die Politiker versuchen in letzter Zeit ja nun permanent, sich in der Überwindung ihres Technikskeptizismus gegenseitig zu überbieten. Und junge Bürger mit Blogs, über Twitter und Video-Kolumnen anzusprechen.

Dass die Öffentlichkeit immer fragmentierter und kleinteiliger wird, ist als Diagnose indes so richtig wie banal. Spontan fielen einem da aber eher positive Attribute ein: Freiheit und Auswahl zum Beispiel. Sicher war es früher einfacher für Politiker, ihre Botschaften zu übermitteln, wenn ohnehin alle gezwungen waren, die gleichen drei Fernsehprogramme zu gucken. Natürlich gehen Gemeinsamkeiten verloren, wenn man nicht mehr davon ausgehen kann, dass der Kollege gestern die gleiche Sonntag-Abend-Unterhaltung im Fernsehen genossen hat. Aber was bringt es, über etwas zu klagen, von dem man genauso sicher weiß, dass man es keinesfalls zurückhaben möchte?

Sehnsucht schwingt mit, wenn sich die Kanzlerin an früher erinnert. „Es ging alles ruhiger zu. Die Menschen unterhielten sich morgens am Arbeitsplatz über die gleichen Themen.“ Auch das ist nicht die Schuld des Internets. Sondern liegt wohl eher daran, dass die Leute keine Zeit mehr haben, es ruhig angehen zu lassen. Weil sie sonst mit ihrer Arbeit nicht fertig würden. Aber wer weiß, vielleicht arbeitet ja ausgerechnet Merkels Koalition an einem Gesetz, dass die 30-Stunden-Woche zur Pflicht erhebt.  An mangelndem Gesprächsstoff am Arbeitsplatz würde das ganz sicher nicht scheitern.

Für die Politik besteht die Beschleunigung ganz zweifellos darin, dass es die Kommentare zu ihren Taten und Worten eben nicht erst in den Abendnachrichten oder in der Presse am nächsten Morgen zu lesen gibt. Sondern dass die ersten Einschätzungen bereits kurz nach oder sogar noch während der Veranstaltung im Netz verbreitet werden. Wo sie auch noch bis in alle Ewigkeit festgehalten bleiben.

Zudem fallen die Kommentare im Netz oft noch viel unmittelbarer, auch emotionaler aus, wie Studien etwa zu den Unterschieden zwischen Blogs und traditionellen Medien belegen. Wer früher verärgert vor sich hin grummelnd die Zeitung zuschlagen musste, oder sich nur lauthals vom Fernsehsessel aus beklagen durfte, kann seinen Frust heute mit wenigen Klicks im Netz verarbeiten. Das ist nicht immer angenehm, weder für Politiker, noch für alle anderen Berufsgruppen, die im Netz bewertet und kommentiert werden können. Dadurch wird ja aber nur der Ärger offenbart, den es früher genauso gab, – nur eben nicht so transparent.

Und ein „Gesamtmeinungsbild“ gab es auch früher nicht. Was sollte das überhaupt sein? Waren früher etwa alle einer Meinung? Nein, divergierende Meinungen wurden früher höchstens weniger wahr genommen und sind jetzt eben sichtbarer.

Im Grunde muss das Internet hier also wieder dafür herhalten, dass ganz andere Dinge falsch laufen. Und dass die Welt sich weiterentwickelt und damit komplizierter wird, ist eine wiederkehrende Klage. Angeblich war früher ja sogar das Wetter besser. Und wie es heißt, viel weniger unberechenbar.

 

Traffic der „Times“ bricht um zwei Drittel ein

Vor noch nicht einmal einem Monat hat die Times für ihren Online-Auftritt auf Paid Content umgestellt. Seitdem muss man sich im Netz registrieren und für ihre Artikel bezahlen. Dadurch hat die Seite 90 Prozent* ihrer Online-Leserschaft verloren, wie heute im Guardian zu lesen ist.

Von 150.000 Lesern, die sich zuvor registriert hatten, entschieden sich schließlich nur noch etwa 15.000 dafür, für die Inhalte zu zahlen. Das zeigt sich auch in den Besucherzahlen. Im März besuchten im Schnitt 1,2 Millionen Leser die Seite, aktuell sind es den Analysen des Guardian nach nur noch 195.000.

Die Zahlen scheinen die Verantwortlichen indes nicht zu überraschen, die Verluste waren einkalkuliert. Außerdem sei den Berechnungen von Dan Sabbagh zufolge – er ist der ehemalige Medien-Korrespondent der Times – ein typischer Times-Print Leser „mindestens 2,5 Mal so wertvoll“ wie ein durchschnittlicher Online-Leser.

Falls die 15.000 zahlenden Leser jeweils zwei Pfund pro Woche in das Angebot investieren, würde die Times in etwa 120.000 Pfund pro Monat einnehmen – zusätzlich zu den Einnahmen aus dem Printgeschäft.

Eine interessante Rechnung. Fragt sich, ob sie aufgeht und damit die Verluste aus den geringeren Werbeeinnahmen auf der Seite ausgeglichen werden können.

* Update vom 21.07.2010: Zahlreiche andere Medien verweisen abweichend vom Bericht des Guardian auf einen Einbruch von lediglich 66 Prozent. Sie beziehen sich damit auf eine etwas ältere Studie, über die auch der Guardian zuvor berichtet hat.

 

ARD und ZDF müssen ihre Archive löschen

Was macht ein Redakteur einer Online-Redaktion der ARD? Schöne Artikel schreiben, könnte man meinen.

Falsch, erzählt Stefan Niggemeier in seinem interessanten Artikel auf den Medienseiten der FAZ. – Er löscht sie!

Tatsächlich sind derzeit viele Mitarbeiter der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten damit beschäftigt, eine Klausel des Zwölften Rundfunkstaatsvertrag umzusetzen. Sie ist dazu geschaffen worden, die Tätigkeiten von ARD und ZDF im Netz zu beschränken. Damit die gebührenfinanzierten Sender den privaten Medien online nicht zu viel Wasser abgraben.

Deshalb dürfen einige ihrer Angebote künftig gar nicht mehr im Netz auftauchen, oder müssen jetzt gelöscht werden. Anderen wiederum wird nur noch eine begrenzte Verweildauer zugestanden. Ein wahnsinniger, bürokratischer Aufwand ist die Folge. Die Bewertungskriterien, ob und wie lange ein Text im Netz bleiben darf, sind komplex bis undurchschaubar.

Zum Teil müssen die Sender auch neue Systeme einführen, damit sie Online-Angebote schon bei ihrer Erstellung mit einem Löschdatum versehen können. Das ganze soll bis Ende August umgesetzt sein. „Ich werde von Rundfunkgebühren dafür bezahlt, mit Rundfunkgebühren erstellte Inhalte zu löschen“, zitiert Niggemeier einen verantwortlichen Redakteur.

Niggemeier benennt das Paradox: „Dabei sind sich die Online-Leute einig, dass die Idee einer begrenzten Vorhaltezeit dem Medium Internet widerspricht. Eigentlich ist es ein einziges, unaufhörlich wachsendes Archiv.“

„Ob die privaten Konkurrenten von ARD und ZDF im Internet, die mit den Vorgaben im Rundfunkstaatsvertrag besser vor der gebührenfinanzierten Konkurrenz geschützt werden sollen, vom Entfernen der älteren öffentlich-rechtlichen Inhalte profitieren, ist ebenso zweifelhaft wie die Frage, ob gerade diese Art der Beschränkung öffentlich-rechtlicher Aktivitäten im Netz sinnvoll ist“, schreibt er. „Es ist ein Kompromiss, der eigentlich niemanden glücklich machen kann – Ausdruck der Unfähigkeit der Medienpolitiker, sich auf klare Vorgaben über das zu einigen, was ARD und ZDF erlaubt sein soll und was nicht.“

Seltsam, dass sich dagegen so wenig Widerstand erhebt. Das liegt vielleicht auch daran, dass viele Zeitungs-Macher und private Sender, relevante Wärter der Öffentlichen Meinung also, die gebührenfinanzierte Konkurrenz lieber heute als morgen in noch viel, viel engere Grenzen verweisen würden. Oder, noch besser: Das Prinzip GEZ gerne auch auf ihre eigenen Medieninhalte übertragen sähen.

 

Wer anderen mit Inkasso droht, muss selber zahlen

Die Webseite Woot!, die jeden Tag ein anderes Produkt vertreibt, ist von Amazon aufgekauft worden. Das fand die Nachrichtenagentur Associated Press so interessant, dass sie dazu eine Meldung veröffentlichte.

Soweit, so normal. Wenn man sich dabei nicht an dem Originalposting vom Woot!-Geschäftsführer Matt Rutledge bedient hätte, das Woot! auf dem eigenen Blog veröffentlicht hatte. Und wenn man nicht zuvor so hart gegen Blogger vorgegangen wäre, die sich bei AP bedienten.

Denn nun hat Woot! eine Rechnung geschickt. Und 17 Dollar 50 von AP verlangt – entsprechend den von der Agentur bei Bloggern angesetzten Sätzen und den insgesamt 17 zitierten Worten. Natürlich nur ein Scherz. Doch mit ernstem Hintergrund: AP nämlich ermahnt seit einiger Zeit Blogger, vom Zitieren aus AP-Nachrichten doch bitteschön Abstand zu nehmen oder aber bei AP wenigstens vorher um Erlaubnis zu fragen. Ganz gleich, wie kurz die Zitate auch sein mögen.

Um das Procedere möglichst einfach zu handhaben, hatte AP sogar ein Formular ins Netz gestellt. Gegen eine geringe Gebühr konnte man dort die Lizenz zum Zitieren erwerben.

Woot! hat nun auf der Grundlage dieses Formulars und des AP-Preisindexes die geforderte Gebühr ermittelt.

Als Kompensation bot Woot! an, AP könne anstelle der Gebühr auch die auf der Woot!-Seite gerade angebotenen Kopfhöhrer kaufen – zwei Paar bitte. Mit recht scharfen Worten bat man allerdings, den Beleg über die beiden Kopfhörer noch bis zum Ende des Tages bei Woot! vorzuzeigen. „Wir gehören jetzt auch zu den großen Playern“, hieß es dazu. „Zwingt uns nicht, die Angelegenheit an ein Inkasso-Büro zu übergeben.“

Bei AP nahm man das weniger humorvoll. Das Blog TechCrunch zitiert aus einer Mail von AP Media Relation Chef Paul Kroford. Der darin die etwas lahme Entschuldigung anbringt, man habe auch schon selbst mit dem Woot!-Chef ein Interview geführt (wenn auch offensichtlich zu anderen Themen). Außerdem deutete er wohl an, dass die hauseigenen Reporter mit der Berichterstattung über das Öl-Loch derzeit ziemlich ausgelastet seien.

Was bei TechCrunch natürlich nur auf höhnische Kommentare trifft. „Hat er wirklich die Ölkarte ausgespielt? Ja hat er“, schreibt der Autor. Um dem Ganzen noch eins drauf zu setzen übernimmt TechCrunch dann noch eine AP-Meldung über das Öl-Leck im Golf. Das müsste ja eigentlich in Ordnung gehen, heißt es dazu. Schließlich hätte man ja darüber gesprochen.