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Afghanistan verschwindet nicht von Europas Horizont

In Brüssel läuft eine Geberkonferenz für Afghanistan, es ist die elfte Afghanistan-Konferenz, seit der Westen 2001 intervenierte. Rund 57 Milliarden Euro Hilfen sind seitdem in das Land geflossen. Nach der Konferenz, die an diesem Mittwoch zu Ende geht, werden sehr wahrscheinlich weitere 3 bis 4 Milliarden Euro hinzukommen, die bis 2020 jährlich gezahlt werden. Die Ausgaben für den Militäreinsatz des Westens in Afghanistan betragen ein Vielfaches dieser Summe. Weiter„Afghanistan verschwindet nicht von Europas Horizont“

 

Das Projekt Afghanistan ruht

Wir werden Afghanistan nicht den Rücken kehren – das hatte die deutsche Bundesregierung versprochen, als sie das Feldlager Masar-i-Scharif 2013 nach zehn Jahren an die afghanischen Sicherheitskräfte übergab. Nun, es ist anders gekommen.

Gewiss, die Bundeswehr ist noch da. Das Kontingent wurde sogar aufgestockt, nachdem die Taliban im vergangenen Jahr überraschend für kurze Zeit die Stadt Kundus einnehmen konnten. Doch von einem starken deutschen Engagement in Afghanistan kann man nicht mehr sprechen. Das gilt auch für alle anderen westlichen Staaten. Afghanistan ist auf deren Agenda weit nach unten gerutscht, jedenfalls Afghanistan als Wiederaufbauprojekt. Weiter„Das Projekt Afghanistan ruht“

 

Eine absurde Afghanistandebatte

Die Taliban erobern Kundus, und in Deutschland debattiert man über eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes über 2016 hinaus. Das ist völlig absurd.

Der Westen hat 14 Jahre lang versucht, Afghanistan in den Griff zu bekommen. Hunderte westliche Soldaten sind gestorben, Zehntausende Afghanen haben ihr Leben gelassen, und viele, viele Milliarden sind Richtung Kabul geflossen. Und heute müssen wir darüber reden, ob die „Taliban das Land überrennen“!

Kann man da wirklich glauben, dass die Bundeswehr und ihre Verbündeten die Lage stabilisieren könnten, wenn sie länger als 2016 blieben? Nein, kann man nicht. Weiter„Eine absurde Afghanistandebatte“

 

Der Fall Kundus

Am 30. Juli 2015 wurde der Tod des Führers der Taliban, Mullah Omar, offiziell bekannt gegeben. Am 29. September 2015 eroberten die Taliban die 300.000-Einwohner-Stadt Kundus im Norden Afghanistans.

Spezialeinheiten der afghanischen Armee haben inzwischen Kundus wieder in ihre Hand bekommen, doch die Taliban haben einen wichtigen symbolischen Sieg eingefahren: Kundus nämlich ist die erste größere Stadt, die sie seit ihrer Vertreibung aus Kabul vor 14 Jahren für kurze Zeit einnehmen konnten.

Keine zwei Monate brauchten die Taliban also, um sich vom Verlust ihres charismatischen, historischen Führers zu erholen und stärker aufzutreten als je zuvor. Wie war das möglich? Weiter„Der Fall Kundus“

 

Was Drohnen anrichten

Drohnen töten den Feind aus der Distanz, präzise und billig. Eigene Soldaten sterben dabei nicht. Opfer unter den Zivilisten werden minimiert. Das ist der ideologische Kern des Drohnenkrieges. Er ist sehr verführerisch. US-Präsident Barack Obama setzt seit geraumer Zeit auf Drohnen und mehr und mehr Regierungen folgen seinem Beispiel. Die Aufrüstungsspirale ist im vollen Gange. Über neunzig Staaten entwickeln Drohnen oder haben sie bereits.

Auch der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière ist ein erklärter Drohnenanhänger, nur aus Wahlkampf-Gründen ist er jetzt von der Idee abgerückt, die Bundeswehr umgehend mit bewaffneten Drohnen auszustatten. Wie seine Amtskollegen verspricht auch er sich Sicherheit durch diese neue Waffentechnik.

Die Realität freilich sieht anders aus. Drohnen werden heute fast nur in Stammesgebieten eingesetzt – im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan, in Jemen, in Mali, auf den südlichen Philippen, in Somalia. Die Stämme haben ihren eigenen Ehrenkodex: „Wenn Sie in diesen Gebieten einen Menschen töten, schaffen Sie sich vielleicht 100 Feinde!“ Das sagt der pakistanische Autor Achbar Ahmed. Er hat ein ebenso erschütterndes wie aufklärendes Buch über den Drohnenkrieg geschrieben: The Thistle and the Drone.

Man kann dort nachlesen, was die Drohnenkrieger nicht hören und nicht sehen wollen. Dieser Krieg wird gegen sehr rückständige Gesellschaften geführt, er zerstört ihren sozialen Zusammenhalt, er radikalisiert sie und zwingt sie geradezu zur Reaktion.

Unsere fortgeschrittenen Gesellschaften führen also einen erbarmungslosen Krieg gegen Stämme. Das Ergebnis ist noch mehr Gewalt — sie destabilisiert die betroffenen Staaten. An Pakistan lässt sich das am besten zeigen. Je stärker man den Krieg in den Grenzregionen intensivierte, desto härter waren die Reaktionen. Die pakistanischen Taliban wurden mit dem Beginn des Drohnenkrieges stärker. Sie sind heute eine Bedrohung für den Staat. Der Hass gegen den Westen wächst in der pakistanischen Gesellschaft insgesamt.

Achbar Ahmed kennt die Stammesgesellschafen. Er hat als politischer Beamter im Grenzgebiet zu Afghanistan gearbeitet. Er weiß um ihre Rückständigkeit, wie auch um ihren Stolz und den eisernen Willen, die eigene Identität zu verteidigen. Und er weist auf etwas hin: Auch Osama bin Laden war ein Stammeskrieger.

 

Wider den Afghanistan-Pessimismus

2014 werden die letzten Nato-Kampftruppen Afghanistan verlassen haben. Gerade mal 10.000 Mann wollen die US-Amerikaner im Land belassen. Was wird danach geschehen? Die meisten Szenarien, die derzeit darüber entwickelt werden, sind düster. Sie reichen vom Bürgerkrieg bis zur Rückkehr der Taliban an die Macht.

Es gibt sicher viele gute Gründe daran zu zweifeln, dass Afghanistan nach 2014 Frieden finden wird. Trotzdem ist es schon erstaunlich, wie wenig man den Afghanen selber zutraut. Immerhin ist Afghanistan ihr eigenes Land. Da kann man annehmen, dass sie selbst am besten wissen werden, wie es zu einer Versöhnung unter ihnen kommen kann.

Aber nein: Wir glauben, dass der Abzug der Nato–Soldaten unweigerlich in einer weiteren Katastrophe mündet. Wenn die Eltern aus dem Haus sind, dann streiten sich die Kinder. Das ist eine unverhohlen paternalistische Haltung, die hier zum Ausdruck kommt.

Der Zweck dieser Behauptung ist leicht durchschaubar. Die imaginierte, vorweggenommene Gewalt in Afghanistan dient dazu, den zu Ende gehenden Einsatz zu rechtfertigen. „Seht Ihr, was sie ohne uns machen! Sie schlagen sich tot!“ Das bedeutet im Umkehrschluss: „Als wir noch da waren, war es besser!“ Tatsächlich hat sich die Nato immer gerne als eine Art gütiger Vater dargestellt, der die ungezogenen, gewalttätigen Kinder unter Kontrolle hielt. Nichts liegt der Wahrheit ferner.

Die Nato war immer Kriegspartei, sie unterstützte eine Seite gegen die andere. Und wenn ihre Vertreter auch behaupteten, sie wollten Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte durchsetzen, verfolgten sie dabei doch eigene strategische Interessen. Das ist legitim, nur sollte man es auch aussprechen. Den Krieg hat die Nato jedenfalls nicht beendet, eher hat sie ihn befeuert.

Könnte es aber sein, dass die Afghanen nach 2014 Frieden finden? Möglich ist es, auch wenn es schwierig wird. Hier sind eine paar Argumente dafür, dass es so kommen könnte.

Die afghanische Armee hat bereits in großen Teilen des Landes die Sicherheitsverantwortung übernommen. Sie wird immer wieder in Kämpfe verwickelt und zunehmend mehr ihrer Soldaten kommt dabei ums Leben. Aber insgesamt hat die Anzahl der Anschläge, Attentate und Angriffe abgenommen. Das bedeutet, dass auch die Taliban ihre Strategie verändert haben.

Warum? Viele Taliban haben immer gesagt, dass sie zur Waffe greifen, um gegen die Besatzer zu kämpfen und dafür, dass diese vollständig abziehen. Möglich, dass jetzt eine ganze Reihe von Taliban — immerhin ist das eine sehr heterogene Gruppe — die Waffen schweigen lässt, weil ihnen gelungen ist, was sie erreichen wollten.

Die Geschichte des modernen Afghanistan gibt wenig Anlass zu Optimismus, doch an eines sollte man doch erinnern: Das große Unglück kam für Afghanistan meist von außen.

 

Die Lichtgestalt Petraeus überdeckte das Scheitern der Weltmacht USA

General David Petraeus ist während seiner aktiven Laufbahn so gelobt worden, wie kaum ein anderer Offizier der US-Armee. Ob Politiker oder Journalisten, man lag ihm zu Füßen. Er war der „beste Soldat seiner Generation“ — wie es in Washington auch jetzt noch heißt. Nun, da er über eine Affäre gestürzt ist, stellt sich die Frage: Wie wurde Petraeus zum Helden? Was brauchte er dafür?

Ehrgeiz, Intelligenz, Machtinstinkt — das alles hat Petraeus ohne Zweifel, sonst wäre er nicht so schnell so weit gekommen. Doch er brauchte auch etwas anderes, damit er glänzen konnte: eine Katastrophe. Genau dies war der Irakfeldzug der US-Armee im Jahre 2007. Damals übernahm Petraeus im Irak das Kommando. Er hatte sich dafür empfohlen, weil es ihm als Kommandeur der 101. Luftlandedivision gelungen war, die Lage in der äußerst gewalttätigen irakischen Millionenstadt Mosul zu beruhigen.

Petraeus wandte dort seine Strategie der counterinsurgency an – der Aufstandsbekämpfung. Er hatte darüber ein Buch geschrieben, das in Militärkreisen schnell zu einem der meistgelesenen Werke wurde. Es war die Bibel für eine ganze Generation von Offizieren. Als Petraeus 2007 von dem damaligen Präsidenten George W. Bush zum Oberkommandeur der amerikanischen Truppen im Irak ernannt wurde, war der Begriff counterinsurgency bald in aller Munde. Petraeus stieg vor dem blutigen Hintergrund eines grausamen Krieges zu einer Lichtfigur auf. „King David“, diesen Spitznamen bekam er im Irak verpasst.

„Köpfe und Herzen“ gewinnen

Seine Strategie fasste er in drei Wörtern zusammen: clear, hold, build – also: erobern, halten, aufbauen. Damit wollte Petraeus die „Köpfe und Herzen der Iraker“ gewinnen. Immer wieder strich er heraus, dass die US-Armee zu diesem Zwecke auch „kulturell sensibel“ sein sollte. Das heißt, die Soldaten sollten wissen, in welchem Umfeld sie agierten, sie sollten die lokalen Sitten und Gebräuche respektieren.

Im Grunde waren dies Selbstverständlichkeiten, nur konnte sie keiner so gut verkaufen wie Petraeus. Schon gar nicht zu diesem so günstigen Zeitpunkt: Die US-Armee war spätestens 2007 mit ihrer shock and awe-Strategie gescheitert, die auf Überwältigung durch schiere Überlegenheit fußte.

Petraeus erhielt aus Washington alles, was er wollte. Viele, viele Millionen Dollar und Zehntausende Soldaten. Petraeus war der Architekt des surge, der Aufstockung. 30.000 zusätzliche Soldaten bekam er im Irak, und 30.000 Soldaten zusätzlich schickte Präsident Barack Obama im Jahr 2009 auf Drängen von Petraeus auch nach Afghanistan.

Im Irak beruhigte sich ab 2007 die Lage. Bis dahin hatte der Bürgerkrieg horrende Ausmaße angenommen. Petraeus gilt seither als der Mann, der die Wende im Irak brachte. Allerdings ist nicht klar, worin diese Wende bestehen soll. Die USA sind aus dem Irak abgezogen, und nicht einmal die Befürworter dieses Krieges würden behaupten, dass er gewonnen wurde. Der Irak ist den USA verloren gegangen. Sie haben dort so gut wie keinen Einfluss mehr.

Ein ähnliches Schicksal droht den USA und ihren Verbündeten in Afghanistan. Auch dort konnte der von Petraeus durchgesetzte surge den Krieg nicht entscheiden. Nach dem geplanten Abzug 2014 droht Afghanistan wieder ein schrecklicher Bürgerkrieg.

Todesschwadronen und schwache Partner

Petraeus‘ Strategie hat nicht funktioniert. Man könnte nun behaupten, das sei nicht seine Schuld, er habe nur größeren Schaden abwenden können. Doch in Wahrheit gründet sein Ansatz clear, hold, build auf ein paar äußerst fragwürdigen Voraussetzungen.

Clear hieß, die US-Soldaten sollten so viele Gegner töten, bis sie das Feld räumten. Sie mussten weiter immer bereit sein, den Feind zu töten, damit er nicht auf das geräumte Feld zurückkehren konnte. Darum war Petraeus auch der König der verdeckten Operationen. Die Killteams – nichts anderes als Todesschwadronen – schwärmten nachts aus. Sie verbreiteten Angst und Schrecken. Wie sollte man eine Zivilbevölkerung bei Tag gewinnen, wenn man bei Nacht seine Killer losschickte?

Auf diese Frage konnte Petraeus keine Antwort geben. Auch als CIA-Chef hielt er bis zuletzt an dieser Strategie fest. Er sandte Drohnen nach Pakistan, nach Jemen und in andere Länder, um Feinde mit gezielten Schlägen zu eliminieren. Petraeus war bis zum Schluss ein Schattenkrieger par excellence.

Hold, das bedeutet, dass man Partner vor Ort hatte, auf die man sich verlassen konnte. Denn die US-Truppen konnten nicht auf Dauer bleiben. Lokale Kräfte aber durchaus. Petraeus setzte dabei schlicht und einfach auf Geld. „Money is ammuniton“ wiederholte er immer wieder. Er ließ im Irak und in Afghanistan Unsummen an bewaffnete Gruppen auszahlen. Er tat dies wohl in der Illusion, dass man sich Loyalität kaufen kann.

Geld für Waffen, die sich gegen US-Soldaten richteten

Doch die vielen Millionen Dollar, die Petraeus ohne größere Kontrolle verteilen ließ, förderten die Korruption. Dieses Geld untergrub alle Versuche, staatliche Autorität aufzubauen. Und Petraeus‘ Politik hatte noch eine weitere, für die USA besonders bittere Folge: In vielen Fällen kauften sich zum Schein gewendete Aufständische mit US-Dollar Waffen, mit denen sie später auf US-Soldaten schossen.

Build stützt sich auf die Idee, dass es in dem betreffenden Land Kräfte gibt, die in der Lage sind, einen Staat für alle Bürger aufzubauen. Aber das ist weder in Afghanistan noch im Irak geschehen. Im einen wie im anderen Land ist der Staat, soweit er überhaupt existiert, von ethnischen (Tadschiken in Afghanistan) oder religiösen (Schiiten im Irak) Gruppen besetzt. Er wird nur dazu benutzt, um die Angehörigen der eigenen Gruppe zu fördern. Staatliche Autorität blieb auch schwach, weil sie von der allgegenwärtigen Korruption ausgehöhlt wurde.

Wenn man all dies in Betracht zieht, muss man sich also fragen, worin eigentlich der Erfolg von Petraeus bestand? Was machte ihn zum besten Soldaten seiner Generation? Die Antwort: Petraeus war die mediale überhöhte Figur, die das Scheitern der Weltmacht auf dem Feld überdecken half.

 

Fehler eingestehen, Vorurteile revidieren

Die Taliban greifen das Botschaftsviertel in Kabul an. In Pakistan befreien sie Hunderte ihrer Kameraden aus einem Gefängnis. In verschiedenen Teilen des Landes flammen Kämpfe auf. Die Frühjahrsoffensive der Taliban hat begonnen, und es sieht nicht gut aus für das Nato-geführte Militärbündnis.

Spätestens 2014 will die Nato Afghanistan verlassen haben. Und dabei stellt sich nicht mehr die Frage, ob sie ihre Ziele erreichen wird. Es geht schon lange nicht mehr um Demokratie, Rechtsstaat, Staatsaufbau — es geht nur mehr um die Frage, ob Afghanistan nach einem Abzug dem Westen ganz verloren gehen wird. Ganz verloren, das hieße, keine Truppen mehr im Land, keine Freunde mehr unter den Menschen, keinen Einfluss in Kabul. Afghanistan würde aus dem Machtbereich des Westens herausfallen.

Kein Problem? Oh doch, das wäre ein Problem. Afghanistan grenzt an die ressourcenreichen  Staaten Zentralasiens, es grenzt an den Iran, an China, an Pakistan. Diese geostrategische Lage macht Afghanistan wichtig, auch für den Westen. Und da ist die Gefahr des Terrorismus. Afghanistan könnte sich wieder in eine Heimstatt für Al-Kaida verwandeln. Aus diesen Gründen sollte der Westen zusehen, dass er auch nach 2014 in Afghanistan über Einfluss verfügt.

Wie aber soll das geschehen?

Zunächst einmal, indem man ehrlich ist. Wenn die Nato den Krieg verloren hat, dann aus eigenem Verschulden. Es ist ein viel bedientes Klischee, dass die Afghanen unbezähmbare Krieger seien, die noch nie in ihrer Geschichte besiegt worden sind. Doch mit diesem eingängigen Vorurteil verdeckt man nur die eigenen Fehler. In Wahrheit wollen die Afghanen in ihrer großen Mehrheit teilhaben am Fortschritt. Gewiss auf ihre Art und Weise, doch ihre Sehnsucht nach Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit ist ungebrochen. Vom Krieg haben sie genug.

Die Nato jedoch hat die Friedenssehnsucht der Menschen nicht genutzt, sie war nicht in der Lage, ihr eine Gestalt zu geben. Das aber wäre möglich gewesen, vor allem in den Jahren zwischen 2002 und 2005. Die Afghanen wollten, dass es einen Bruch mit ihrer jüngeren Geschichte gibt. Sie wollten, dass die Kriegsherren entwaffnet und aus dem Verkehr gezogen werden. Nur der Westen hatte in diesen Jahren die Macht, das zu tun. Es ist folgerichtig, dass die Afghanen eben dies von der Nato erwartet haben.

Natürlich hätte man nicht alle Kriegsherren verhaften oder vor Gericht stellen können. Doch wenn man einige der größten von ihnen sichtbar ins Abseits gedrängt hätte — die Afghanen hätten die Botschaft verstanden: Die Zeit für einen Neuanfang ist gekommen.

Doch eben das geschah nicht. Die Kriegsherren ließ man gewähren, weil man meinte, sie brauchen zu müssen im Kampf gegen den Terror. Man glaubte das auch deshalb, weil man gefangen blieb in den Vorurteilen über Afghanistan, nach denen das Land besonders kriegerisch und ungebändigt sei. Ungebändigt, das mag sein, aber nur in Bezug auf den Wunsch, selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. Grundsätzlich kriegerisch, das ist Blödsinn.

Wenn also der Westen Einfluss behalten will, dann ist es höchste Zeit sein Bild von Afghanistan und den Afghanen zu revidieren und sich die eigenen Fehler einzugestehen. Dafür ist es nie zu spät. Doch schwer ist es schon, denn es würde deutlich werden, wie blind man zehn Jahre lang war.

 

Wo ist der Erfolg?

Marjah? Wer kann sich an Marjah erinnern? Ja genau, da war was. Eine Offensive der Nato im vergangenen Februar. 15.000 Nato-Soldaten sollen daran beteiligt gewesen sein und ebenso viele Soldaten der afghanischen Armee.  Zeitweise sah es so aus, als sei Marjah eine Art Stalingrad, eine Schlacht, die die Wende im Krieg bringen würde. Vormarsch, Einmarsch, Befreiung, Halten, gut verwalten. Das waren die Schritte der neuen Nato-Strategie, die in Marjah  zum ersten Mal umgesetzt werden sollten. General Stanley McChrystal hatte diese Strategie erfunden, dafür von seinem Präsidenten Barack Obama 30.000 zusätzliche Soldaten gefordert und auch bekommen. Der General hatte sich  selbst unter Erfolgsdruck gesetzt. Kein Wunder, dass er mit viel Pomp auf Marjah marschieren ließ. „We have governenment in the box, ready to roll in!“, sagte Stanley McChrystal.

Und heute? Was hören wir von Marjah? Nichts bis sehr wenig. Die Taliban sollen vertrieben worden sein. Ein afghanische Nationalflagge ist auf dem zentralen Platz von Marjah gehisst worden. McChrystal war auch zu Besuch und soll über den Bazaar Marjahs geschlendert sein. Und sonst? Funkstille.

Gut, man müsste hinfahren. Aber das – so heißt es – ist immer noch zu gefährlich.  Man könne nur als „eingebetteter Journalist“ mit den Soldaten nach Marjah fahren, was freilich etwas problematisch ist, wenn man sich eine unabhängiges Bild  verschaffen wollte. Überhaupt warum ist es unsicher, wenn es doch befreit ist?

Die Geschichte um Marjah ist gespenstisch. Sie könnte für ganz Afghanistan typisch werden. Irgendwann in einer fernen Zukunft, wenn die Nato das Land verlassen haben wird,  wird man sich fragen: Afghanistan? Da war doch was, oder? Ach ja, Wiederaufbau, Frieden, Demokratie für eine geschundenes Land. Aber kaum einer wird sich erinnern können. Afghanistan wird von der Bildfläche verschwunden sein. Der Westen wird sich anderen zuwenden.

Ein Zynischer Blick? Nein, Marjah docet. Und die jüngere afghanische Geschichte. Nachdem die Afghanen die sowjetischen Soldaten vertrieben hatten, verlor der Westen das Interesse an Afghanistan. Es versank im Dunkel des Bürgerkrieges. Im Bewusstsein des Westens tauchet es nurab un zu auf, wie eine blutiges, Schrecken erregendes Gespenst. Nur, um schnell wieder zu verschwinden.

 

Sechs Gründe für den Abzug

1. Der Einsatz dauert zu lange und fruchtet zu wenig

Seit neun Jahren sind Nato-Soldaten in Afghanistan. Zuerst waren es nur ein paar Tausend, heute sind es 140.000. Das hat in Afghanistan nicht zu mehr Sicherheit geführt, sondern zu mehr Unsicherheit.

2. Ein Ziel ist erreicht

Die USA intervenierten 2001 unter anderem in Afghanistan, um dort al-Qaida zu zerschlagen. Das ist im großen und ganzen gelungen – jedenfalls wenn man den US-Generälen glauben kann.

3. Die Nachbarländer schauen zu

Keines der Nachbarländer in der Region scheint ein Interesse daran zu haben, dass die Nato in Afghanistan gewinnt. Weder der Iran, noch Pakistan, noch China, noch Indien, noch Russland  –  keines diese Länder greift der Nato unter die Arme. Es ist bisher nicht gelungen, die Nachbarländer an einen Tisch zu bringen, um eine regionale Lösung für Afghanistan zu finden. Ohne ihre Mitwirkung wird die Nato keinen Erfolg haben können.

4. Die Taliban sind keine Bedrohung für den Westen

Die Taliban sind keine terroristische Organisation mit einer internationalen Agenda. Sie haben eine nationales Ziel — sie wollen die westlichen Truppen aus Afghanistan vertreiben und in Kabul wieder an die Macht kommen. Selbst wenn ihnen die Rückkehr nach Kabul gelingen sollte, die Taliban des Jahres 2010 sind nicht mehr die Taliban des Jahres 2001.

5. Die Legitimation des Einsatzes ist brüchig

Keine deutscher und wohl auch keine europäische Politiker kann begründen, warum Soldaten in Afghanistan sterben sollen, um einen korrupte Regierung aus Wahlfälschern zu schützen. Der Verweis auf vitale Sicherheitsinteressen reicht als Einsatzbegründung nicht aus (Siehe Punkt 3 und 2)

6. Die Existenz der Nato ist nicht bedroht

Die Nato wird einen Rückzug aus Afghanistan überleben. In Afghanistan zu bleiben, bedroht die Nato stärker als alles andere.