Es waren die Anschläge vom 11. September, mit denen Pakistan im Blickfeld einer breiten westlichen Öffentlichkeit auftauchte. Vor dem Beginn des Krieges gegen den Terror war es für die allermeisten Menschen im Westen noch eine terra incognita. In diesen zehn Jahren „Bekanntschaft“ wurde Pakistan zum „gefährlichsten Staat der Erde“ erklärt – ein hoffnungsloser Fall. Am 11. Mai nun wählt Pakistan ein neues Parlament. Wer sich von seinen Vorurteilen nicht lösen will, der sagt: „Na und? Was hat das schon zu bedeuten?“
Tatsächlich wird Pakistan von einem Dreigestirn der Macht beherrscht: Armee, Großgrundbesitzer und Mullahs haben das Land und seine 190 Millionen Menschen fest im Griff. Daran wird sich nichts ändern, vorerst nicht.
Trotzdem ist die bevorstehende Wahl für Pakistan ein historisches Ereignis. Nicht weil sie viel ändern würde, sondern weil sie jetzt stattfindet. Zum ersten Mal in der 65-jährigen Geschichte des Landes hat eine gewählte Regierung ihr fünfjähriges Mandat zu Ende gebracht. Das ist ein Novum. 34 Jahre seiner Geschichte wurde Pakistan von den Militärs beherrscht. Sie putschten ihnen unangenehme Regierungen einfach aus dem Amt.
Wahl unter Raketen und Bomben
Der Effekt dieser komplett absolvierten Amtszeit sollte nicht unterschätzt werden, unabhängig davon, wie gut diese Regierung wirklich war. Demokratie nämlich braucht Zeit, viel Zeit um Wurzeln zu schlagen. Menschen müssen über längere Zeit die Erfahrung machen, dass ihre Stimme zählt und respektiert wird. Die Pakistaner müssen erfahren, dass ihr in der Wahlkabine geäußerter Wille nicht jederzeit von Generälen für ungültig erklärt werden kann. Das macht sie langsam zu Bürgern. Das gibt ihnen Vertrauen und Selbstbewusstsein.
Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die vergangenen Jahre zu den schwersten in der Geschichte Pakistans gehören. Um nur ein Beispiel zu nennen: Seit 2001 sind in Pakistan über 35.000 Menschen im Krieg gegen den Terror ums Leben gekommen; so gut wie täglich feuern Drohnen Raketen auf Pakistan ab. Könnte man sich vorstellen, dass in Deutschland eine Wahl stattfindet, während Zehntausende Menschen dem Terror zum Opfer fallen und das Staatsgebiet mit Raketen einer ausländischen Macht beschossen wird?
Deutschland ist nicht Pakistan. Doch der Vergleich macht deutlich, unter welch immensen Belastungen und Herausforderungen die Pakistaner stehen. Und trotzdem findet eine Wahl statt, trotzdem gehen Millionen in die Wahlbüros. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Pakistaner an die Zukunft ihres Landes glauben, im Unterschied zu den Kritikern im Westen. Sie glauben auch, dass sie durch ihre Stimme ihr Leben verbessern können. Das ist eine gute Nachricht, die leider allzu oft untergeht.
Drohnen töten den Feind aus der Distanz, präzise und billig. Eigene Soldaten sterben dabei nicht. Opfer unter den Zivilisten werden minimiert. Das ist der ideologische Kern des Drohnenkrieges. Er ist sehr verführerisch. US-Präsident Barack Obama setzt seit geraumer Zeit auf Drohnen und mehr und mehr Regierungen folgen seinem Beispiel. Die Aufrüstungsspirale ist im vollen Gange. Über neunzig Staaten entwickeln Drohnen oder haben sie bereits.
Auch der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière ist ein erklärter Drohnenanhänger, nur aus Wahlkampf-Gründen ist er jetzt von der Idee abgerückt, die Bundeswehr umgehend mit bewaffneten Drohnen auszustatten. Wie seine Amtskollegen verspricht auch er sich Sicherheit durch diese neue Waffentechnik.
Die Realität freilich sieht anders aus. Drohnen werden heute fast nur in Stammesgebieten eingesetzt – im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan, in Jemen, in Mali, auf den südlichen Philippen, in Somalia. Die Stämme haben ihren eigenen Ehrenkodex: „Wenn Sie in diesen Gebieten einen Menschen töten, schaffen Sie sich vielleicht 100 Feinde!“ Das sagt der pakistanische Autor Achbar Ahmed. Er hat ein ebenso erschütterndes wie aufklärendes Buch über den Drohnenkrieg geschrieben: The Thistle and the Drone.
Man kann dort nachlesen, was die Drohnenkrieger nicht hören und nicht sehen wollen. Dieser Krieg wird gegen sehr rückständige Gesellschaften geführt, er zerstört ihren sozialen Zusammenhalt, er radikalisiert sie und zwingt sie geradezu zur Reaktion.
Unsere fortgeschrittenen Gesellschaften führen also einen erbarmungslosen Krieg gegen Stämme. Das Ergebnis ist noch mehr Gewalt — sie destabilisiert die betroffenen Staaten. An Pakistan lässt sich das am besten zeigen. Je stärker man den Krieg in den Grenzregionen intensivierte, desto härter waren die Reaktionen. Die pakistanischen Taliban wurden mit dem Beginn des Drohnenkrieges stärker. Sie sind heute eine Bedrohung für den Staat. Der Hass gegen den Westen wächst in der pakistanischen Gesellschaft insgesamt.
Achbar Ahmed kennt die Stammesgesellschafen. Er hat als politischer Beamter im Grenzgebiet zu Afghanistan gearbeitet. Er weiß um ihre Rückständigkeit, wie auch um ihren Stolz und den eisernen Willen, die eigene Identität zu verteidigen. Und er weist auf etwas hin: Auch Osama bin Laden war ein Stammeskrieger.
Zehntausende Pakistaner demonstrierten in Islamabad gegen die Regierung. Ein charismatischer Prediger verlangte deren Rücktritt. Gleichzeitig ordnete das Oberste Gericht die Verhaftung des Premierministers an. Pakistan schien vor wenigen Tagen am Rande einer Revolution zu stehen – und was ist geschehen? Die Regierung machte dem Prediger Tahir ul Qadri einige Zugeständnisse und dieser schickte darauf seine Anhänger einfach nach Haus. Der Premierminister sitzt nicht in Haft. Die Revolution ist abgesagt, ja nicht einmal die Regierung ist gestürzt.
Das ist auf den ersten Blick erstaunlich. Denn Pakistan ist gezeichnet von extremen sozialen Gegensätzen, die Elite des Landes ist korrupt und die Regierung unfähig. Die Voraussetzungen für eine Revolution wären also da.
Doch was wir in diesen Tagen in Pakistan erlebt haben, war nur die Simulation einer Revolution. Darüber sollte man sich, trotz all des Getöses, nicht wundern. Denn in Pakistan fehlt das revolutionäre Subjekt: das Volk. Jenes schwer zu fassende, aus zig Millionen Menschen bestehende Subjekt, das jede Angst ablegt, ist die einzige Kraft, die eine radikale Veränderung herbeiführen kann.
Das pakistanische Volk aber ist immer nur der Zuschauer eines Machtkampfes, der innerhalb der Elite ausgetragen wird. Militär, Justiz und Regierung bekämpfen sich bis aufs Blut – und einigen sich dann wieder. Was so revolutionär erschien, war nichts anderes als die Balancierung der Machtverhältnisse innerhalb der herrschenden Elite. Sie mussten etwas ins Gleichgewicht bringen. Das wars.
Die Pakistaner sind Statisten, eine andere Rolle ist ihnen nie zugedacht worden, eine andere haben sie für sich bisher nicht gewinnen können.
Warum aber ist die Masse der Pakistaner nicht in der Lage, das Joch dieser zynischen Elite abzuschütteln? Warum kann es nicht ins Zentrum der Geschehnisse rücken und sie vorantreiben? Weil Generäle, Großgrundbesitzer und Mullahs – das Dreigestirn der pakistanischen Macht – es bis zur Perfektion verstehen militärischen Krisen (Indien), religiösen Extremismus und feudale Abhängigkeiten zum eigenen Nutzen einzusetzen. Die Pakistaner bleiben Gefangene dieses dichten Geflechts.
Die folgende Geschichte handelt von der Ausbreitung eines sehr gefährlichen Virus‘. Aber sie ist keine Medizingeschichte. Es ist ein Bericht über die Folgen und die Natur des Krieges gegen den Terror, der seit mehr als elf Jahren im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet geführt wird. Beginnen wir mit Mohammed Ishak, der in Pakistan Schluckimpfung gegen Polio verteilt hat, eine infektiöse Krankheit, besser bekannt unter dem Namen Kinderlähmung. Zuletzt tat Ishak dies vergangenen Sommer irgendwo in einem Armenviertel namens Gadap in der pakistanischen Millionenstadt Karatschi.
Es war eine besondere Zeit für Männer wie Ishak. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stand nach eigener Einschätzung kurz davor, die Polioerkrankungen in Pakistan endgültig auszurotten. Noch ein Prozent der Kinder fehlte, dann wäre die gesamte bedrohte Bevölkerungsgruppe geimpft gewesen. Es wäre ein historisches Ereignis gewesen, denn Pakistan gehört zu den letzten drei Ländern, in denen das Poliovirus noch häufig auftritt, Afghanistan und Nigeria sind die beiden anderen. Polio galt nach Pocken als die zweite Infektionskrankheit, welche die Menschheit ausrotten konnte. Mohammed Ishak durfte sich als Vorkämpfer in einer wahrlich großen Schlacht fühlen.
Doch es kam anders. Mohammed Ishak wurde in Gadap von einem Attentäter angeschossen. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Nach ihm fielen weitere Kollegen Morden zum Opfer. Insgesamt kamen in den vergangenen sechs Monaten neun Impfhelfer ums Leben. Allein an zwei Tagen im Dezember starben sechs Impfhelfer, davon fünf Frauen, zwei weitere wurden verletzt. Anfang Januar starben sieben Impfhelfer an einem Tag im Kugelhagel der Attentäter – sechs davon Frauen.
Die WHO hat inzwischen die Polioimpfkampagne in Karatschi und in den Grenzgebieten zu Afghanistan eingestellt, weil sie die Sicherheit für die Mitglieder der Impfteams nicht mehr garantieren kann. Das Poliovirus wird es also auf absehbare Zeit weiter in Pakistan geben. Das ist nicht nur für Pakistan äußerst problematisch. „Solange es Polio in einem einzigen Land gibt, ist das eine Gefahr für alle Länder in der Welt“, sagt der Brite David Hayman, der lange für das Programm der WHO zur Ausrottung von Polio gearbeitet hat. Tatsächlich sind in China erstmals seit 1999 wieder Kinderlähmungen aufgetreten. Genetische Untersuchungen haben ergeben, dass die Viren aus dem benachbarten Pakistan eingeschleppt wurden. In Afghanistan hat sich die Zahl der Neuinfektionen im Jahr 2011 verdreifacht. Der Infektionsherd: die Grenzgebiete zu Pakistan. Das Land der Taliban erscheint meist als Heimstatt wilder Krieger. Vergessen wird leicht, dass die Menschen dort vor allem in bitterster Armut und Rückständigkeit leben. Polio ist ein Zeichen dafür. Krieg ist also nur eine von mehreren Geißeln, unter denen die Bewohner Waziristans zu leiden haben.
Wer aber könnte ein Interesse daran haben, Impfhelfer zu töten? Wer ermordet Menschen, die Kinder vor einer schlimmen Krankheit bewahren wollen? Bis heute hat niemand für die Attentate auf die Impfhelfer die Verantwortung übernommen, doch die Vermutung liegt nahe, dass es die Taliban waren. In den vergangenen Jahren haben sie mehrmals die Impfaktionen denunziert – mit abstrusen Behauptungen, zum Beispiel der, dass die Impfhelfer in Wahrheit den HI-Virus verbreiteten oder dass die Impfung das Ziel habe, muslimische Frauen unfruchtbar zu machen.
Das ließ sich in der westlichen Öffentlichkeit leicht als Obskurantismus abtun. Doch man vergisst dabei leicht: Die Taliban befinden sich in einem Krieg, der mit allen Mitteln ausgefochten wird, und zwar von allen Seiten. Anschläge, Folter, Selbstmordattentate, Drohnenangriffe, Spionage, Betrug. 2011 verhafteten die pakistanischen Geheimdienste einen Arzt namens Shakil Afridi. Er hatte scheinbar auf eigene Faust eine Impfaktion in der Stadt Abbottabad begonnen – nicht gegen Polio, sondern gegen Hepatitis B. Doch die Impfungen waren nur ein Vorwand. In Wahrheit sammelte Afridi genetisches Material, das auf die Spur des damals meistgesuchten Mannes der Welt führen sollte: Osama bin Laden. Die amerikanischen Ermittler vermuteten, dass Bin Laden in einem Haus in Abbottabad lebte. Afridi versuchte, dort wohnende Kinder zu impfen und über diesen Weg genetisches Material zu sammeln. Wenn sie mit Osama verwandt waren, hätte man das nachweisen können; dann wäre das zumindest ein Hinweis darauf gewesen, dass der Gesuchte auch im Haus leben könnte.
Am 2. Mai 2011 drang eine US-Spezialeinheit in das betreffende Haus in Abbottabad ein und tötete Bin Laden. Wie wichtig war dabei die Rolle des Arztes Afridi? Washington schwieg lange dazu, aber als die britische Zeitung The Guardian Shakil Afridis Geschichte öffentlich machte, sah man sich zu einer Stellungnahme gezwungen: „Sein Beitrag war nicht entscheidend, aber sehr wichtig.“ Die pakistanischen Behörden verhafteten Afridi und stellten ihn vor Gericht. Er wurde zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Ironie daran: Afridi wurde nicht nach dem pakistanischen Staatsgesetzen verurteilt, sondern nach den in den Stammesgebieten geltenden Sondergesetzen – sie sind drakonisch und stammen aus der Zeit, als der indische Subkontinent noch britische Kolonie war.
Aus Washington gab es heftigen Protest gegen das Urteil. Verteidigungsminister Leon Panetta setzte sich für Afridi ein: „Dieser Arzt hat nicht gegen Pakistan gearbeitet. Er hat gegen Al-Kaida gearbeitet, und ich hoffe, dass Pakistan das versteht.“ Doch es half nichts. Afridi sitzt immer noch in Haft. Der Fall Afridi belastet nicht nur die Beziehungen zu den USA, er hat unter den Hilfsorganisationen Alarm ausgelöst. Sie fürchten um ihren Ruf. Im Februar des Jahres 2012 schrieb InterAction, der größte Dachverband amerikanischer Nichtregierungsorganisationen, einen Offenen Brief an den damaligen Chef der CIA, David Petraeus: „Die Tatsache, dass die CIA humanitäre Arbeit als Tarnung benutzt, untergräbt die Glaubwürdigkeit und die Integrität aller humanitären Organisationen in Pakistan.“ Diese harsche Beschwerde ist nachvollziehbar. Das ist keine kleine Sache. Denn nur wenn den Helfern geglaubt wird, dass sie unabhängig sind, können sie ihrer Arbeit wirkungsvoll nachgehen.
Die Toten der vergangenen Wochen belegen die geäußerten Befürchtungen: Die Impfhelfer sind zu Zielscheiben geworden. Kaum war Afridi aufgeflogen, ließen die Taliban aus der Region Waziristan verlauten, dass sie in dem von ihnen kontrollierten Gebiet keine Impfaktionen mehr zulassen würden. Das hatte zur Folge, dass allein in Waziristan 280.000 Kinder ohne Impfung blieben. Der Infektionsherd bleibt bestehen, mit gefährlichen Folgen für alle. Zu der Zeit, als Afridi enttarnt wurde, hatte US-Präsident Barack Obama den Drohnenkrieg im Grenzgebiet bereits intensiviert. Fast täglich feuerten die unbemannten Angriffsflieger Raketen in der Gegend ab. Viele wichtige Kommandeure der Taliban und von Al-Kaida kamen ums Leben, mit ihnen aber auch Hunderte unbeteiligte Zivilisten.
So technisch überlegen Drohnen auch sein mögen, ihr Erfolg hängt von der Qualität der Informationen ab, die sie über mutmaßliche Terroristen sammeln. Je mehr Drohnen im Einsatz waren, je mehr Islamisten sie töteten, desto misstrauischer wurden die Taliban gegen jeden Auswärtigen, der sich in ihrem Gebiet aufhielt: Dazu gehören auch die Mitglieder der Impfteams. Die Taliban verdächtigen sie, die Informationen zu liefern, welche die Raketen der Drohnen letztendlich zu ihrem Ziel führen. Das kann man für paranoid halten, doch zeigt es nur, wie der Krieg gegen den Terror sich in diesen Jahren buchstäblich entgrenzt hat.
Jeder ist zum potenziellen Feind geworden. Selbst die Gesundheit von Kindern fällt dem gewaltsamen Kampf des Westens gegen Islamismus zum Opfer. Eine Forderung der Taliban aus Waziristan macht das deutlich: Sie verlangen die Einstellung der Drohnenangriffe – nur dann würden sie die Impfteams wieder arbeiten lassen. Militärexperten würden diese Drohung der Taliban als ein klassisches Beispiel für asymmetrische Kriegführung bezeichnen. Ihre waffentechnische Unterlegenheit kompensieren die Taliban mit absoluter Rücksichtlosigkeit. Der waffentechnisch Überlegene steht ihnen freilich in nichts nach. Die CIA trug den Krieg selbst in die Schlafzimmer der Afghanen. Die Washington Post berichtete im Jahr 2008, dass die CIA Viagra-Tabletten an afghanische Warlords verteilte, damit sie sie mit Informationen über die Taliban versorgten. Die Kriegsherren sollen sehr zufrieden gewesen sein, die CIA auch – die Meinung der Frauen dieser Kriegsherren ist nicht überliefert; viele von ihnen sind minderjährig.
Der Protest gegen das Video über den Propheten Mohammed (The Innocence of Muslims) war in Pakistan besonders heftig. Den Demonstrationen in den Straßen pakistanischer Städte wurde in der Berichterstattung breiter Raum gegeben. Als dann auch noch der Eisenbahn-Minister für den Mord an den Autoren des Videos 100.000 Dollar bezahlen wollte, war das Urteil zementiert: Pakistan ist die Hochburg gewalttätiger Islamisten. Falsch ist das nicht, aber es ist eben nur ein kleiner Teil der Wahrheit — und es verdeckt eine größere, dramatischere Geschichte.
Pakistan ist Kriegsgebiet seit US-Präsident Barack Obama im Frühjahr 2009 den Begriff Afpak prägte. Das Kürzel besagte, dass der Krieg gegen die Taliban und Al-Kaida nicht nur auf Afghanistan beschränkt sei, sondern ab sofort auf Pakistan ausgeweitet werde. Dorthin nämlich zögen sich die Taliban zurück. Obama konnte freilich keine US-Truppen in das Staatsgebiet Pakistans schicken, denn immerhin ist Pakistan bis heute ein „privilegierter Partner der Nato“ — offiziell ein enger Freund. Doch Obama sandte Drohnen. Seit seinem Amtsantritt sind mehr als 3.000 Pakistaner bei Angriffen dieser fliegenden Killermaschinen ums Leben gekommen.
Die offizielle Lesart in den USA ist, dass der Drohnenkrieg effektiv, nützlich und erfolgreich sei. Er schaffe nämlich die Möglichkeit, „Terroristen gezielt zu töten“ und gleichzeitig die zivilen Opfer auf ein Minimum zu beschränken. Ein eben erschienener, umfassender Bericht der Stanford Law School und der New York University Law School stellt dazu geradeheraus fest: „Dieses Auffassung ist falsch!“
Blowback — Rückschlag, das ist ein Begriff, den die CIA für die unbeabsichtigten Folgen amerikanischer Politik geprägt hat. Man kann denselben Sachverhalt auch in etwas härterer Sprache fassen: Die Rache wird kommen, nicht morgen vielleicht, aber in naher Zukunft, vielleicht nicht in Form eines gewaltigen Anschlags, vielleicht in zahlreichen schmerzhaften Schlägen. Das alles wissen wir nicht.
Doch wir erleben bereits jetzt eine bedeutende geopolitische Verschiebung. Pakistan bricht dem Westen weg. Der Drohnenkrieg ist eine der wesentlichen Ursachen für diese sich nun rasant verstärkende Entwicklung. Die Drohnen mögen zwar Terroristen töten, aber ihr zerstörerisches Potenzial entfalten sie auf einer ganz anderen Ebene: Sie kappen die Verbindungen zu Pakistan. Angriff für Angriff entgleitet dem Westen dieses Land.
Die seit Jahren fortgesetzten Drohnenangriffe übermitteln den Pakistanern ja eine ganze Reihe verheerender Botschaften: Die Souveränität eures Staates ist uns egal; wir töten, wen wir wollen, wann wir wollen und wo wir wollen; wir bitten nicht um Erlaubnis; wir sind Euch waffentechnisch überlegen und sind bereit, diese Überlegenheit ohne Zögern einzusetzen. Eure Grenzgebiete zu Afghanistan erklären wir zu gesetzlosen Gebieten; die Menschen dort geben wir zum Abschuss frei, wenn sie uns gefährlich erscheinen; es reicht der Verdacht, es reicht unser Verdacht.
Wer diese Sprache der Drohnen hört, der versteht, dass die Proteste gegen das Video The Innocence of Muslims ein Oberflächenphänomen sind — dahinter wird ein Land sichtbar, das sich in einem unerklärten Krieg mit dem Westen befindet und gedemütigt wird.
Wann immer es um Pakistan geht, taucht eine Frage auf: Wie sicher sind die Atomwaffen dieses Landes? Könnte es sein, dass islamistische Extremisten Nuklearwaffen in die Hände bekommen? Ist es möglich, dass sie darauf ein nukleares Feuer entzünden könnten?
Die pakistanische Regierung und das Militär versichern in schöner Regelmäßigkeit, dass es keinerlei Anlass zur Sorge gebe. Alles sei unter Kontrolle im Atomstaat. Wer das Gegenteil behaupte, der wolle Pakistan diskreditieren.
Doch es gibt immer wieder Zwischenfälle, welche diese Stellungnahmen konterkarieren. Gerade erst hat ein Kommando der Taliban die größte Luftwaffenbasis des Landes angegriffen. Die Angreifer starben zwar nach stundenlangem Gefecht. Die Armee versichert, dass es auf der 70 Kilometer von der Hauptstadt gelegenen Basis keine Atomwaffen gebe. Aber können wir das glauben? Skepsis ist angebracht.
Pakistans Nukleararsenal wird gewiss weiter für große Beunruhigung sorgen. Die Gründe liegen auf der Hand. Pakistan ist ein instabiler, vom Zerfall bedrohter Staat, der von islamistischen Extremisten heimgesucht wird. Das wird sich nicht so schnell ändern. Wir – und vor allem die Pakistaner selber – werden weiter mit einer sehr konkreten nuklearen Gefahr leben müssen.
Der Fall Pakistan aber sollte unseren Blick schärfen für die gewaltigen, mitunter unbeherrschbaren Folgen, die der Besitz einer Atomwaffe mit sich bringt – für den jeweiligen Staat, wie auch für den Rest der Welt.
Wir wissen bis heute nicht, ob der Iran an einer Bombe bauen will oder nicht. Es gibt Verdachtsmomente, doch keine endgültigen Beweise. Wir können aber davon ausgehen, dass eine mögliche iranische Aufrüstung auch andere Staaten dazu verleiten könnte, sich die vermeintlich ultimative Waffe zuzulegen. Saudi-Arabien etwa, die Türkei oder Ägypten. Eine nukleare Aufrüstungsspirale wäre in Gang gesetzt.
Und könnte man wirklich behaupten, dass Staaten wie Ägypten oder Saudi-Arabien auf Dauer stabiler sind als Pakistan?
Es ist leicht, über Pakistans Präsidenten Asif Ali Zardari herzuziehen.
Und es ist auch richtig, ihn zu kritisieren. Zardari ist nämlich ein
unglaublich schlechter Präsident, ja, er ist sogar ein Mann, der sich für
sein eigenes Land nicht interessiert. Während Millionen vor den Fluten
flüchteten, tourte er durch Europa, so, als sei gar nichts geschehen. Jetzt
sagt er bei einer Pressekonferenz in Islamabad: „Ich glaube nicht, dass sich
Pakistan jemals vollständig erholt, aber wir werden vorankommen.“
Selbst wenn er Recht haben sollte, als Präsident darf er das nicht sagen, denn
so nimmt er den Menschen in ihrer Not auch noch das letzte: die Hoffnung.
Man könnte also weiter über Zardari schimpfen. Irgendwann aber wird man
damit durch sein und nichts ist danach erklärt. Das ist schade. Denn
Zardari eignet sich sehr wohl, um Pakistan zu verstehen. Die politische
Tragödie dieses Landes spiegelt sich nämlich in seiner Person wider.
Zardari ist im Jahr 2008 nur deshalb Präsident geworden, weil seine Frau –
Benazir Bhutto – ein paar Monate vor den Wahlen einem Attentat zum Opfer
fiel. Ein politischer Mord stand also am Anfang seiner Karriere. Niemand
erwartete von Zardari, dass er ein guter Präsident werden würde, doch gab es
keinen anderen Kandidaten, der die Lücke nach Bhuttos Tod hätte füllen
können.
Die Pakistaner wählten Bhuttos Partei, die Pakistans Peoples Party (PPP), im
Winter 2008 mit großer Mehrheit. Dieser Wahl waren monatelange
Massenproteste auf der Straße und ein jahrelanger politischer Kampf gegen
das Regime des Generals Pervez Musharraf vorausgegangen. Zardari wurde auf
einen Tsunami der Demokratie ins Amt gespült, doch er wusste damit wenig
anzufangen.
Wie auch? Er ist ein Mann, der sich sein Leben lang damit beschäftigte,
Reichtümer anzuhäufen – häufig wohl auf illegalem Weg. Recht? Gesetz?
Verantwortung? Pflicht? Das ist nicht Zardaris Sache. Sie war es nie. Er war
immer schon der Anti-Staat. Als es dem pakistanische Volk nach vielen
Entbehrungen endlich gelungen war, den Staat von den Generälen wieder zu
erobern, bekamen sie ausgerechnet einen Mann wie diesen zum Präsidenten. Das
ist wahrlich tragisch.
Wenn „wir“ nicht helfen, dann helfen die Taliban. Das ist ein Argument, das man in diesen Tagen und Wochen, da große Teile Pakistans in den Fluten versinken, immer wieder hört. Es soll die Menschen im Westen dazu motivieren, Geld an die notleidenden Pakistaner zu spenden.
Diese Logik hebelt das Grundprinzip humanitärer Hilfe aus: Neutralität. Man hilft Menschen in Not, egal welchen Überzeugungen sie anhängen mögen. Oder sollen wir etwa nicht spenden, weil die Ertrinkenden islamistischem Gedankengut anhängen?
Der Wettlauf mit den Taliban, der mutwillig in den westlichen Medien
ausgerufen wird, ist irreführend und gefährlich. Irreführend ist der
Gedanke, weil er jede Differenzierung a priori ausschließt. Jede islamische Organisation wird schnell zum Taliban deklariert.
Es besteht kein Zweifel darüber, dass sich unter den helfenden Händen zahlreiche befinden, die an anderen Tagen gerne Bomben schmeißen. Da darf nichts verharmlost werden.
Doch wieviele sind es? Wer ist es? Vor allem aber: Man gewinnt den Eindruck als gäbe es in Pakistan nur die Taliban, die helfen. Unter der
Wettkampfbrille der Medien verschwinden alle andere Organisationen, die es durchaus gibt, ja selbst die pakistanische Armee taucht kaum mehr auf. Dabei ist sie eine der wichtigsten Helfer in der Not.
Die Taliban selbst freuen sich über den in den Medien hinausposaunten Wettkampf — selten haben sie so viel Aufmerksamkeit bekommen, selten erschienen sie wie ein ebenbürtiger Gegner. Ihre Bedeutung wird so unverhältnismäßig gesteigert. Zudem sind viele Pakistaner sehr religiös und bei nicht wenigen haben die USA einen sehr schlechten Ruf. Doch deswegen müssen diese Pakistaner im Umkehrschluss nicht gleich mit islamistischem Extremismus sympathisieren oder, mehr noch, selbst Extremisten sein.
Schließlich verrät das Argument von dem „wir oder sie“, dass die Pakistaner wie Stimmvieh betrachtet werden. Es wird morgen blind dem nachlaufen, der ihn heute buchstäblich über Wasser hält. Der Pakistaner als selbstständig denkendes, rationales Subjekt taucht nicht auf. Dabei haben die Pakistaner immer wieder bewiesen, dass sie sehr wohl wissen, was sie von Extremisten zu erwarten haben.
Islamistische, extremistische Parteien sind in der gesamten Geschichte Pakistans bei Wahlen nie weiter als über insgesamt zwölf Prozent der Stimmen gekommen. 2004 haben sie in der Region Pakhtunwha – die heute von den Fluten schwer getroffen ist – in einer Koalition aus islamistischen Parteien zwar die Wahlen gewonnen. Doch vier Jahre später wurden sie abgewählt. Die Wähler hatten sie für ihre Unfähigkeit bestraft.
Marjah? Wer kann sich an Marjah erinnern? Ja genau, da war was. Eine Offensive der Nato im vergangenen Februar. 15.000 Nato-Soldaten sollen daran beteiligt gewesen sein und ebenso viele Soldaten der afghanischen Armee. Zeitweise sah es so aus, als sei Marjah eine Art Stalingrad, eine Schlacht, die die Wende im Krieg bringen würde. Vormarsch, Einmarsch, Befreiung, Halten, gut verwalten. Das waren die Schritte der neuen Nato-Strategie, die in Marjah zum ersten Mal umgesetzt werden sollten. General Stanley McChrystal hatte diese Strategie erfunden, dafür von seinem Präsidenten Barack Obama 30.000 zusätzliche Soldaten gefordert und auch bekommen. Der General hatte sich selbst unter Erfolgsdruck gesetzt. Kein Wunder, dass er mit viel Pomp auf Marjah marschieren ließ. „We have governenment in the box, ready to roll in!“, sagte Stanley McChrystal.
Und heute? Was hören wir von Marjah? Nichts bis sehr wenig. Die Taliban sollen vertrieben worden sein. Ein afghanische Nationalflagge ist auf dem zentralen Platz von Marjah gehisst worden. McChrystal war auch zu Besuch und soll über den Bazaar Marjahs geschlendert sein. Und sonst? Funkstille.
Gut, man müsste hinfahren. Aber das – so heißt es – ist immer noch zu gefährlich. Man könne nur als „eingebetteter Journalist“ mit den Soldaten nach Marjah fahren, was freilich etwas problematisch ist, wenn man sich eine unabhängiges Bild verschaffen wollte. Überhaupt warum ist es unsicher, wenn es doch befreit ist?
Die Geschichte um Marjah ist gespenstisch. Sie könnte für ganz Afghanistan typisch werden. Irgendwann in einer fernen Zukunft, wenn die Nato das Land verlassen haben wird, wird man sich fragen: Afghanistan? Da war doch was, oder? Ach ja, Wiederaufbau, Frieden, Demokratie für eine geschundenes Land. Aber kaum einer wird sich erinnern können. Afghanistan wird von der Bildfläche verschwunden sein. Der Westen wird sich anderen zuwenden.
Ein Zynischer Blick? Nein, Marjah docet. Und die jüngere afghanische Geschichte. Nachdem die Afghanen die sowjetischen Soldaten vertrieben hatten, verlor der Westen das Interesse an Afghanistan. Es versank im Dunkel des Bürgerkrieges. Im Bewusstsein des Westens tauchet es nurab un zu auf, wie eine blutiges, Schrecken erregendes Gespenst. Nur, um schnell wieder zu verschwinden.
1. Der Einsatz dauert zu lange und fruchtet zu wenig
Seit neun Jahren sind Nato-Soldaten in Afghanistan. Zuerst waren es nur ein paar Tausend, heute sind es 140.000. Das hat in Afghanistan nicht zu mehr Sicherheit geführt, sondern zu mehr Unsicherheit.
2. Ein Ziel ist erreicht
Die USA intervenierten 2001 unter anderem in Afghanistan, um dort al-Qaida zu zerschlagen. Das ist im großen und ganzen gelungen – jedenfalls wenn man den US-Generälen glauben kann.
3. Die Nachbarländer schauen zu
Keines der Nachbarländer in der Region scheint ein Interesse daran zu haben, dass die Nato in Afghanistan gewinnt. Weder der Iran, noch Pakistan, noch China, noch Indien, noch Russland – keines diese Länder greift der Nato unter die Arme. Es ist bisher nicht gelungen, die Nachbarländer an einen Tisch zu bringen, um eine regionale Lösung für Afghanistan zu finden. Ohne ihre Mitwirkung wird die Nato keinen Erfolg haben können.
4. Die Taliban sind keine Bedrohung für den Westen
Die Taliban sind keine terroristische Organisation mit einer internationalen Agenda. Sie haben eine nationales Ziel — sie wollen die westlichen Truppen aus Afghanistan vertreiben und in Kabul wieder an die Macht kommen. Selbst wenn ihnen die Rückkehr nach Kabul gelingen sollte, die Taliban des Jahres 2010 sind nicht mehr die Taliban des Jahres 2001.
5. Die Legitimation des Einsatzes ist brüchig
Keine deutscher und wohl auch keine europäische Politiker kann begründen, warum Soldaten in Afghanistan sterben sollen, um einen korrupte Regierung aus Wahlfälschern zu schützen. Der Verweis auf vitale Sicherheitsinteressen reicht als Einsatzbegründung nicht aus (Siehe Punkt 3 und 2)
6. Die Existenz der Nato ist nicht bedroht
Die Nato wird einen Rückzug aus Afghanistan überleben. In Afghanistan zu bleiben, bedroht die Nato stärker als alles andere.