+++Beleidigte+++
Die Liebe war intensiv, aber schon damals nicht ohne Probleme. Jetzt ist sie erloschen und die Verschmähten schmähen einander.
So muss man die mittlerweile erkaltete Beziehung zwischen Wikileaks und den ehedem exklusiv berichtenden Medien New York Times und The Guardian beschreiben. Bill Keller, Chefredakteur der New York Times hatte erst vor wenigen Tagen in einem längeren Essay mit Wikileaks-Gründer Assange abgerechnet. Der Guardian brachte am Wochenende den Netzkritiker Evgeny Morozov in Stellung, um die Bedeutung von Wikileaks zu relativieren. Auch Ian Katz, Deputy Editor des Guardian, breitete am Samstag seine Version der beendeten Kooperation aus. Sensationeller Weise verwies er ausführlich auf die Bedeutung der journalistische Kompetenz des Guardian und seiner Partner, ohne die die publizistischen Erdstöße des letzten Jahres nicht denkbar gewesen wären. In ihrem Artikel Übernachtet und unrasiert beschreibt ZEIT-Autorin Khue Pham übrigens ausführlich, wie die Redakteure der ehemals exklusiven Medienpartner nun in Büchern ihre Versionen der Wikileaks-Saga erzählen.
+++Gefürchtete+++
Unterdessen spielte Wikileaks der neuen Braut, dem britischen Telegraph, in der letzten Woche zahlreiche weitere Depeschen zu. Die publizierten Dokumente beschäftigen sich unter anderem mit bisher unbekannten Erkenntnissen und daraus folgenden neuen Ermittlungen zu den Terroranschlägen am 11. September 2001 in New York, der langfristigen Bedeutung des Terrors in Großbritannien, den Geheimverhandlungen rund um den Lockerbie-Anschlag und den daraus resultierenden diplomatischen Verwicklungen und neuen Erkenntnissen über die schwierigen Verhandlungen zwischen dem Ölriesen BP und dem russischen Staatsunternehmen Rosneft. Dazu kommen etliche Berichte und veröffentlichte Depeschen zu Themen wie Iran, China, Somalia usw. Heraus ragt die Aufdeckung einer konspirativen Absprache zwischen der US-Regierung und der russischen Staatsspitze. So gab die USA unter anderem Seriennummern britischer Atomraketen an die russische Seite weiter. Sie gehörten ganz offenbar zur Verhandlungsmasse des gerade ratifizierten START-Abkommens. Der staunende Leser fragt sich, warum sich manche Medien bisher vor allem auf den Botschaftsgossip fokussiert haben, wenn solche Geschichten noch in den Depeschen schlummern.
Mit Blick auf die aufkommende Diskussion über den tatsächlichen Impact der Wikileaks-Veröffentlichungen der letzten Monate, stellte Greg Mitchel, Autor des amerikanischen Politmagazins The Nation, auf seinem dortigen, sehr empfehlenwerten Wikileaks-Blog noch einmal über dreißig der bedeutendsten Wikileaks-Veröffentlichungen zusammen. Die massiven Bitten der saudischen Regierung, den amerikanischen Druck auf den Iran und sein Atomprogramm zu erhöhen, die Spionageversuche der US-Regierung bei den Vereinten Nationen, die tatsächlichen Zustände in Afghanistan (Korruption, Wahldesaster), die diplomatischen Geheimabsprachen der USA und Großbritanniens im Vorfeld des Irak-Kriegs, die Einflussnahme der USA auf Flugzeuggeschäfte (Boeing vs. Airbus), um nur eine beliebige Auswahl aufzulisten. Weitere Fragen erübrigen sich.
+++Verhörte+++
Währenddessen muss sich Wikileaks-Gründer Assange heute einer weiteren Anhörung stellen. In London soll geklärt werden, ob dem Auslieferungsantrag der schwedischen Justiz stattgegeben wird. Assanges Rechtsanwälte planen derweil offenbar ihre Verteidigungsargumente online zu veröffentlichen. Transparenz als Strategie überrascht nicht. Erst letzte Woche hatte das amerikanische Magazin Wired geleakte Verhandlungsdokumente des Assange-Verfahrens veröffentlicht. Unter anderem die Abbildung eine zentralen Beweisstücks: ein angeblich vorsätzlich beschädigtes Kondom.
+++Zaudernde+++
Man wird das Gefühl nicht los. Dem Westen passt die Demokratiebewegung im arabischen Raum nicht ins Konzept. Angeblich droht die Instabilität einer ganzen Region. Ängste vor einer möglichen Islamisierung werden subtil geschürt. Statt mit einem siechenden Regime undurchsichtige Verhandlungen zu führen, wünscht man sich klare Bekenntnisse zur Demokratiebewegung. Auch neue Depeschen, die der Guardian heute veröffentlichte, belegen, dass auch die amerikanischen Botschaftsexperten in Kairo nicht davon ausgehen, dass Ägypten nur die Wahl hat zwischen Diktatur und Islamisierung bleibt. Es scheint, als wäre der Diktator einfach nur praktisch.