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Dem Yemen droht die Eiserne Faust

Tunesien, Ägypten, Libyen und jetzt der Yemen. Nordafrika ist im Umbruch, aber der Weg zu den geforderten Freiheitsrechten ist mehr als steinig. Während Tunesien Fortschritte auf dem Weg Richtung Demokratie macht, kommt es in Ägypten wenige Wochen nach dem Sturz Mubaraks schon zu heftigen Auseinandersetzungen um die geplante Verfassung und in Libyen hetzt ein grotesker Despot das Militär auf die eigene Bevölkerung.

Auch im Yemen scheinen die Tage des autokratisch regierenden Präsidenten Saleh gezählt. Die Armee stellt sich gegen den Präsidenten. Ein mächtiger General betreibt die Ablösung des verhassten Führers. Nur leider droht mit diesem General ein Nachfolger, dem man keinem Volk der Welt wünscht. WikiLeaks-Depeschen aus dem Jahr 2005, die gerade vom britischen Guardian veröffentlicht wurden, charakterisieren einen korrupten Militär mit großer Affinität zum politisch radikalen Islam. Sein Name Ali Mohsen al-Ahmar, genannt die Eiserne Faust.

 

Kurz und klein (6): Krieg, Protest, Reaktor, Rücktritt

+++Krieg+++

Ist der Krieg in Libyen der erste WikiLeaks-Krieg der Geschichte? Der Papierform nach unterscheidet sich der Waffengang gegen Gadhafi zwar kaum von den Kriegen gegen die Taliban oder Saddam Hussein. Aber eines scheint völlig anders, die transparente Vorgehensweise der US-Regierung. Das jedenfalls ist die Meinung des amerikanischen Journalisten und Bloggers Tom Watson.

Die Gründe für seine steile Theorie sieht Watson überraschenderweise auch bei WikiLeaks. Eine Position, die maximalen Disktinktionsgewinn verspricht, aber nicht durch maximale Logik glänzt. In einem streitbaren Artikel legt er dar, dass es sich bei dem Militäreinsatz in Libyen aus ganz unterschiedichen Gründen um den ersten WikiLeaks-Krieg handelt. Nicht nur die libysche Bevölkerung, die, wie die aufbegehrenden Gesellschaften in Tunesien und Ägypten, aus den US-Depeschen Motive ihrer Proteste bezieht, sondern auch die libysche Führung mit ihrem irrwitzigen Führer Muammar al Gadhafi an der Spitze, hat die Konsequenzen aus den WikiLeaks-Veröffentlichungen gezogen.

Von Beginn an verzichtete der Gadhafi-Clan auf alle Kompromisse und verstärkte sofort nach dem Aufkommen der ersten Proteste die Repressionen. Nach dem Motto: Die Wahrheit über uns Schweinehunde ist sowieso bekannt, was sollen wir noch zimperlich sein. So habe man sich das Schicksal der Ben-Alis und Mubaraks ersparen wollen. Watson geht aber noch weiter, dieser Logik folgend, macht er WikiLeaks für die Eskalation der Gewalt mehr oder weniger mitverantwortlich.

Aber auch die amerikanische Regierung hat ihre Konsequenzen aus dem Cablegate-Desaster gezogen und eine strategische Kehrtwende vollzogen. Überraschend defensive und erstaunlich transparente versuche die US-Administration den Konflikt international abzusichern. So Watson in seinem Artikel.

Mit seiner kühnen Theorie denkt er, nach eigener Aussage, nur zu Ende, was Assange selbst noch vor wenigen Tagen ansprach. Die Bedeutung von Facebook und Twitter im Kontext der nordafrikanischen Revolutionen werde überschätzt, die von WikiLeaks hingegen weitgehend unterschätzt. Aber im Gegensatz zu Assange kommt Watson zu einem anderen Schluss: Der Libyen-Krieg ist bei ihm fast die zwingende Folge der WikiLeaks-Veröffentlichungen. Wenn die Depeschen diesen beanspruchten Anteil an den Unruhen haben, dann haben sie ihn auch an diesem neuen Krieg.

+++Protest+++

Weltweit kam es am zurückliegenden Wochenende zu Protestaktionen gegen die Haftbedingungen des ehemaligen Obergefreiten der US-Armee und mutmaßlichen Whistleblower, Bradley Manning. Das Protestbündnis Stand with Bradley hatte in etlichen Städten weltweit zu Demonstrationen aufgerufen.  In Washington kam es zu Protesten vor dem Weißen Haus. Unter anderem wurde dabei einer der berühmtesten Whistleblower der jüngeren Geschichte, Daniel Ellsberg, verhaftet. Ellsberg hatte in den 1970er Jahren für die Veröffentlichung der sogenannten Pentagon Papiere gesorgt. Sie dokumentierten die vorsätzliche Irreführung der amerikanischen Öffentlichkeit durch die US-Regierung während des Vietnamkriegs.

Die Proteste des Wochenendes richteten sich gegen die 22 Anklagepunkte und insbesondere die Haftbedingungen Mannings. Wir hatten mehrfach berichtet. Zu Demonstrationen kam es in zahlreichen Städten der USA zudem in Finnland, Groß Britannien und Österreich. In Deutschland dagegen gab es keine Veranstaltung. Bleibt nur die Frage warum?

+++Reaktoren+++

Es ist seit Tagen bekannt und kann doch nicht oft genug wiederholt werden. Wie WikiLeaks-Depeschen aus den Jahren 2006 und 2008 belegen, waren die Risiken, die Erdbeben für japanische Atomkraftwerke darstellen könnten, seit Jahren nachzulesen. Bleibt nur zu hoffen, dass die Risiken für andere Atomkraftwerke außerhalb Japans mittlerweile nachgelesen wurden. Inklusive der nötigen Konsequenzen.

+++Rücktritt+++

Die Welt richtet ihre Augen nach Japan und Nordafrika. Über die Bedeutung der Wikileaks-Depeschen dort berichteten wir. Aber auch andernorts ist Cablegate noch immer Ausgangspunkt für lokale oder regionale Krisen. Das Verhältnis der USA zu Mexiko ist zuletzt wiederholt erschüttert worden, nachdem durch veröffentlichte Depeschen zuletzt bekannt geworden war, wie sich der US-Botschafter in Mexiko über die vermeintlich nachlässige Haltung der mexikanischen Behörden im Kampf gegen den organisierten Drogenhandel beschwert hatte. Jetzt musste der Botschafter seinen Posten räumen. Es ist nicht der erste Botschafter den WikiLeaks-Veröffentlichungen seinen Posten gekostet haben. Und es wird nicht der letzte sein.

 

Anonymous – bewaffneter Arm von WikiLeaks?

Das manche das Hackerkollektiv Anonymous mittlerweile als den bewaffneten Arm von WikiLeaks bezeichnen, ist vermutlich ziemlicher Unsinn. Zunehmend sichtbar aber wird, dass Anonymous weltpolitisch mitmischen will.

Erst vor wenigen Tagen wurde ein Manifest mit dem Titel Open Letter to the World veröffentlicht. Kurz darauf folgte der Aufruf zur Operation Bradical. Mit den Mitteln des Crwodsourcings sollen belastende Informationen gegen die Ankläger des vermeintlichen Whistleblowers Bradley Mannings gesammelt werden. Auch scheint es bereits mehrere Cyberangriffe auf das Gefängnis gegeben zu haben, in dem Manning inhaftiert ist. Währenddessen wurden die umstrittenen Haftbedigungen Mannings weiter verschärft, wie Christiane Schulzki-Haddouti auf Futurzone.at berichtet. Daniel Ellsberg schämt sich im Guardian für den Umgang der US-Regierung mit Bradley Manning.

Nun folgt die nächste offensive des Hackerkollektivs. Wie Adrian Chen auf Gawker.com berichtet, behauptet Anonymous jetzt über belastende Dokumente und E-Mails der amerikanischen Großbank Bank of America zu verfügen. Am morgigen Montag sollen diese Dokumente im Rahmen des Projekts OperationLeaks auf der Seite AnonLeaks.ch veröffentlicht werden.

 

RadioLeaks in Schweden gestartet

Wie die taz heute berichtet, hat der schwedische Rundfunk die Leakingplattform www.RadioLeaks.se gestartet. Die Zahl der Whistleblowingportale wächst also weiter (siehe auch Übersicht Leakingportale).

In Schweden scheint WikiLeaks übrigens besonders inspirierend zu wirken. Gleichzeitig zum Start von RadioLeaks wurde bekannt, dass die leitende Ermittlerin, die das Verfahren gegen WikiLeaks-Gründer Julian Assange in Schweden angestrengt hat, schon länger mit einem der vermeintlichen Vergewaltigungsopfer befreundet sein sollen. Zu dem soll sie sich clevererweise auf ihrer Facebook-Seite abfällig über Assange geäußert haben („…hochgejubelte, platzfertige Blase…„). Nicht gerade das, was man vorbehaltlose Ermittlungen nennen kann.

Whistleblower, die sich mit dem Gedanken tragen der Netzseite RadioLeaks.se Dokumente zuzuspielen, werden übrigens vor der Nutzung der Seite RadioLeaks.org gewarnt. Dort wartet nämlich eine suspekte Überraschung.

 

Zwei Prozent

Mehr ist noch nicht veröffentlicht von den 251.287 Depeschen, die Wikileaks im letzten Jahr zugespielt wurden. Gerade einmal zwei Prozent. Während in der Presse in den letzten Tagen überall die 100-Tage-Cablegate-Bilanz gezogen wurde, ließ es sich Wikileaks nicht nehmen, einen Tag später ein eigenes Zwischenfazit vorzulegen. Der Hinweis auf die noch ausstehenden 98 Prozent stand ganz vorn. Und klang nach Drohung. Der Rest fiel erwartungsgemäß aus. Kurz gesagt: Die Welt ist eine andere. Es könnte stimmen.

Hilfreicher war da schon die gestrige Veröffentlichung von WL Central. Das Portal mit WikiLeaks-Nachrichten und -analysen stellte noch einmal alle bisherigen Quellen und Onlinewerkzeuge zusammen, mit denen sich jeder seine eigenen Schneisen in den Depeschendschungel schlagen kann. Neben diversen Standardquellen wie WikiLeaks oder der Cablegate-Seite des Guardian, wurden auch Datensammlungen wie die Google-Fusion-Tabelle mit allen getaggten Cables oder Cablegatesearch.net aufgeführt.

Dazu erläutert WL Central zahlreiche atemberaubende Data Mining Tools, mit denen jeder im Handumdrehen eigene Tiefenbohrungen in den Datenbeständen vornehmen kann. So herausragende Werkzeuge wie die Depeschensuchmaschine Cablesearch.org, die visuell spektakuläre Netzseite Kabels oder das spielerische Wordle der norwegischen Zeitung Aftenposten sollen hier nur stellvertretend für zahlreiche Superwerkzeuge genannt werden.

Für alle, die auf eigene Faust in das Depeschen-Universum eindringen wollen, ist der WL Central Artikel mit dem schlichten Titel Cablegate Resources ein Muss.

 

Als Assange noch ein Niemand war

Wikileaks ist für die Leakingkultur das, was die Entdeckung des Feuers für die Menschheit oder der Erfindung des Rads für die Zivilisation war. Mehr als ein Quantensprung. Nach den schweren Beben, die Wikileaks im letzten Jahr auslöste, gibt es mittlerweile etliche WikiLeaks-Klone und Nachahmer. Mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten versuchen sie, Whistleblowern eine adäquate Plattform für Ihre Dokumente anzubieten. Vor Wochen haben wir hier bereits einen ersten Überblick aktueller Plattformen zusammengestellt. Der Index aller relevanten Leakingplattformen soll ständig erweitert werden. Für Links und Hinwiese sind wir übrigens jederzeit dankbar.

Aber bereits vor Wikileaks gab es eine Plattform, die sich der Ideologie der totalen Transparenz verschrieben hatte: www.cryptome.org. Die Berliner Gazette hat heute ein Portrait des Gründers John Young veröffentlicht. Das Portrait ist zwar schon etwas älter und ursprünglich in der amerikanischen Wired erschienen, ist aber dennoch lesenswert. Atemberaubend ist der Unterschied der Protagonisten. Hier der junge Hacker, energetisch, getrieben. Dort der altgewordene Idealist. Verhärtet, spröde.

 

Three-Strikes? Two-Strikes? No Strikes! Positionspapier zum Leistungsschutzrecht geleakt

Das Leistungsschutzrecht gehört zu den Kampfbegriffen in der digitalen Welt. Die einen drohen mit ihm. Die anderen fühlen sich von ihm bedroht. In der Kurzform geht es darum, dass zahlreiche Zeitungsverleger für die digitale Nutzung von Überschriften und Kurzteasern, genauer die Verlinkung von Artikeln zum Beispiel bei Nachrichtenaggregatoren wie Google-News, zukünftig ein Entgelt fordern wollen. Nur so sei das Überleben des Journalismus zu gewährleisten. Das jedenfalls wird behauptet. Andere sehen darin ein bloßes politisches Druckmittel der Verlegerlobbyisten, um Staat und Regierungen langfristig zu Zugeständnissen wie beispielsweise verringert Steuersätze zu bewegen. Sie argumentieren zudem, ein Leistungsschutzrecht würde die notwendige Zirkulation der Informationen im Netz behindern.

Nun spaltet die Diskussion um den bedrohten Journalismus nicht nur die Medienhäuser (siehe auch Die sieben Brachnenmythen zum Zustand des Journalismus), sondern auch das Lager der Wirtschaftsvertreter überhaupt. Das Netzportal irights.info berichtet heute über ein bisher unveröffentlichtes Positionspapier des DIHK. Aus dem geleakten Dokument geht eindeutig hervor, dass sich die DIHK in keiner Weise mit dem Konzept des Leistungsschutzrecht anfreunden kann, denn auch für viele Wirtschaftsbetriebe entstünden neue, aus Sicht der DIHK künstliche Kosten. Nicht zuletzt soll ja auch die gewerbliche Nutzung von Presseinhalten demnächst kostenpflichtig werden. Die DIHK lehnt zudem die Einführung sogenannter Three-Strikes Lösungen für Urheberrechtsverletzer klar ab.

Die Diskussion bleibt also hitzig. Abzuwarten ist, wer das nächste Geheimpapier leakt. Vielleicht ein Referent aus dem Kanzleramt, der aktuelle Gesetzesentwürfe anonym veröffentlicht? Oder ein Mitarbeiter der Springerzentrale, der das Papier mit der Gesamtstrategie rausschießt – natürlich streng geheim, ohne namentlich genannt werden zu wollen? Man wird sehen. Festzustellen bleibt jedenfalls, dass das Angebot an Leakingportalen in Deutschland unvollständig ist. Denn zwischen Wikileaks und Weltpolitik auf der einen Seite und regionalen Anbietern wie Bayern-Leaks oder themenspezifischen wie Greenleaks klafft eine Lücke. Noch gibt es keinen Anbieter, der sich auf die Auseinandersetzungen rund um Themen wie Urheberrecht oder politische Partizipation in der digitalen Welt spezialisiert hat. Auch irights.info hat noch keine explizite Leakingstruktur auf seiner Netzseite. Auch sind nach eigener Aussage momentan keine entsprechenden Umbauten der Seite geplant. Aber inhaltlich haben die irights-Macher schon mehrfach bewiesen, dass sie anonyme Zusendungen journalistisch sauber aufarbeiten. Aber falls jemand unbedingt eine Alternative sucht. Im Notfall nehmen wir das Geheimpapier mit dem Gesetzentwurf auch an. Anonym versteht sich.

 

Dschihadisten vs. Wahnsinnige?

Die Lage in Libyen wird täglich dramatischer, aber nicht klarer. Während Gadhafi in immer neuen Fernsehansprachen als Staatsschauspieler mit Zügen eines rasenden Wüstlings auftritt, werden die Auseinandersetzungen in weiten Teilen des Landes immer blutiger. Auch wenn mittlerweile EU- und UN-Beobachter ins Land reisen sollen, bleibt die Einschätzung der Lage und ihrer Akteure schwierig. Libyen ist weiterhin eine Black-Box. Die US-Depeschen sind deswegen eine der wenigen nützlichen, aber auch mit großer Vorsicht zu genießenden Quellen (siehe Drehbuch der Revolution – Bedeutung der Depeschen für die arabische Revolution).

Während also flächendeckende Berichte fehlen, sprießen Mutmaßungen. Ist Gadhafi bereit Giftgas einzusetzen? Wieviele Söldner hat er angeheuert? Wer steht auf der anderen Seite? Welche Kräfte dominieren die Aufständischen? Eine Veröffentlichung des britischen Telegraph von heute auf Grundlage neuer Wikileaks-Depeschen nährt jetzt eine weitverbreitete Angst im Westen. Sind in den Reihen der Aufständischen Dschihadisten in der Mehrzahl? Oder sind sie zumindest in der Lage, die Aufständischen zu steuern? Die Antworten stehen aus.

 

Kurz und klein (5): Schauspieler, Drogendealer, Knastinsassen

++++Schauspieler++++

Während sich der umstrittene Wikileaks-Gründer Julian Assange in dieser Woche mit Antisemitismusvorwürfen herumschlagen musste, wurde bekannt, dass Steven Spielberg an der Verfilmung der Assange-Story interessiert sein soll. Zumindest hat seine Produktionsfirma Dreamworks gerade die passenden Rechte erworben. Natürlich kursierten gleich erste Schauspielernamen im Netz. Mr. Bourne-Identity Matt Damon wird hoch gehandelt. Aber auch der gebürtige Australier und Galdiator-Darsteller Russel Crowe ist angeblich im Gespräch. Eventuell sollte man die Wikileaks-Verfilmung dann allerdings eher als Historiendrama anlegen. Ob in der römischen Antike oder im englischen Mittelalter wäre noch zu debattieren. Fehlt eigentlich nur noch jemand, der den ehemaligen Gouverneur von Kalifornien ins Spiel bringt. Dann könnte man die Wikileaks-Verfilmung auch als Science-Fiction in die Kinos bringen.

++++Drogendealer+++

Unterdessen starrt die Welt nach Libyen. Der dortige Diktator bringt aktuell die Luftwaffe gegen die Revolution in Stellung (siehe auch Das Drehbuch der Revolution). Andere Weltregionen geraten da schon mal aus dem Blick – zumindest aus europäischer Perspektive. Aber auch anderswo rumort es kräftig. In Mexiko zum Beispiel. Was umgehend Auswirkungen auf die mexikanischen Beziehungen zu den USA hat. Denn die schätzen die dortigen Aktivitäten der mexikanischen Regierung im bürgerkriegsähnlichen Drogenkrieg gegen die großen Mafiakartelle neuesten Wikileaks-Veröffentlichungen zufolge eher desolat ein. Im Zuge eines Staatsbesuchs des mexikanischen Präsidenten Calderon im weißen Haus, kam es dementsprechend zu dem, was im Nachrichtensprech gerne Austausch von Meinungsverschiedenheiten genannt wird und nichts anderes ist, als ein handfester Krach der amerikanischen Nachbarn.

++++Knastinsassen+++

Auch die Anklage gegen die vermeintliche Wikileaksquelle Bradley Manning in den USA ist zwischenzeitlich um sage und schreibe 22 Punkte erweitert worden. Die US-Justiz scheint an dem inhaftierten Obergefreiten der US-Army nicht nur ein Exempel statuieren zu wollen, sondern gleich mehrere Dutzend. Offenbar gilt in Sachen Whistleblower das Prinzip Abschreckung. Beschämenderweise wurde gleichzeitig bekannt, dass Manning wiederholt gezwungen wurde, Tage und Nächte nackt in seiner Einzelzelle zu verbringen. Nicht gerade das, was man von einem Rechtsstaat erwartet, der seit Kurzem die Machthaber im arabischen Raum zu Diktatoren erklärt hat und ihnen wegen Menschenrechtsverletzungen die Legitimationen abspricht.

 

Das Drehbuch der Revolution

Ben-Ali ist weg. Mubarak ist weg. Gadhafi wankt. Jetzt geraten die Saudis in den Blick. Eine Revolution und ihre Etappen. Seit Wochen rast eine Umwälzung durch Arabien. Mit einer Dynamik, wie wir sie eigentlich nur aus Drehbüchern kennen. Denn auch Filmplots werden gestaucht erzählt, um den flüchtigen Zuschauer bei Laune zu halten. Figuren werden überzeichnet, Situationen dramatisiert und Spannungsbögen verstärkt.

Aber die Geschichte, die uns hier dargeboten wird, ist real, der Plot atemberaubend. Mit schnellen Schnitten wird in kurzer Zeit erzählt, was vor Monaten noch für Jahre unmöglich schien. Dabei sind die Protagonisten teilweise so unrealistisch bizarr, dass man sie keinem Drehbuchautor durchgehen lassen würde. Aber die Wirklichkeit ist gerade mit Hochgeschwindigkeit auf der Überholspur unterwegs. Und die US-Depeschen, die Wikileaks tagtäglich veröffentlicht, spielen eine wichtige Rolle.

Über die Dekadenz der tunesische Herrscherfamilien berichteten wir hier schon ausführlich (Tunesien: Die erste Wikileaks-Revolution?). Sie machte unter anderem mit der Käfighaltung einiger Löwen zu Unterhaltungs- zwecken von sich reden. Eskapaden dieser Art wirken jedoch eher kleinbürgerlich gegen den Größenwahn des libyschen Gadhafi-Clans (siehe auch Tage des Zorns).

Während die Söhne Gadhafis ja bereits einschlägig bekannt sind, zeigt sich ihr Vater in diesen Tagen nicht nur als schillernder Halunke und Menschenfeind, sondern auch wieder als Mann mit einer Vorliebe für verstörende Auftritte. Seine groteske 20-Sekunden-Ansprache in einer theaterreifen Kulisse, zwischen Ruinen, Autoteilen und einem Regenschirm ist dem Zuschauer noch präsent (man war überzeugt Ausschnitte einer Beckett-Inszenierung aus den 80er Jahren zu sehen), da legte er gestern bereits nach. Während sein Land auseinanderbricht, erklärt der Mann mit der Neigung zur Fanatsieuniform in einem Gespräch mit dem amerikanischen Fernsehsender ABC in aller Seelenruhe, dass sein Volk ihn liebe und bereit sei, für ihn zu sterben. Derartige Äußerungen in einem von Bürgerkriegsszenen erschütterten Land, dürften bestenfalls noch als Anschauungsmaterial für Studenten der Psychopathologie dienen.

Aber die Bizarrerien der arabischen Herrscher sind längst noch nicht alle bekannt. Unser Revolutionsfilm ist erst in Teilen erzählt. Und den Wikileaks-Depeschen kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Sie sind zwar nicht der Plotkicker, jenes Ereignis, das eine Geschichte in Gang bringt. Aber sie haben die elementare Funktion, uns die Background-Storys zu erzählen. Denn so wie jede gute Drehbuchfigur eine Geschichte hat, die weit über die erzählte Zeit des Films hinausgeht, so haben auch die arabischen Herrscher jeweils eine Geschichte, die weit über die aktuelle Umsturzsituation hinausgeht. Und diese Geschichten legen uns die US-Depeschen dar, die Wikileaks wohl dosiert veröffentlicht. Es sind Geschichten aus jener Zeit, in denen die Diktatoren der arabischen Welt noch Staatsmänner waren, mit denen man gute Geschäfte machen konnte.

Die Background-Geschichten erzählen uns das, was die Diplomaten, Dienste und dementsprechend jene Politiker des Westens, die sich jetzt mit Abscheu distanzieren, schon seit Jahren wussten. Ob es nun Bahrains Kronprinz ist, über den durch Wikileaks-Depeschen unlängst bekannt wurde, dass er sich nicht gerade als Fan der Demokratie versteht (by the way: so hübsch codiert, kommt ein autoritärer Anspruch selten daher). Oder unsere Buddys aus Saudi Arabien, die überraschender Weise doch nicht das sind, was man lupenreine Demokraten nennen könnte. Das Maß an Rücksichtslosigkeit, Selbstherrlichkeit und Skrupellosigkeit entspricht wohl dann doch eher dem, was es ist – einer absolutistischen Monarchie. Und sie sind es, auf die wir jetzt unsere Hoffnungen setzen. Zumindest was die stabile Versorgung des Westens mit Erdöl angeht, da der Kollege Größenwahn aus Tripolis sich erstmal für einen blutigen Kampf gegen sein eigenes Volk entschieden hat.

Bleibt nur noch die Frage, um was für eine Art Film es sich handelt. Komödie und Liebesfilm scheiden aus. Kommen nur noch Groteske, Drama und Tragödie in Betracht. Sie haben die freie Wahl.