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Noch einmal: Über das (erhebliche) Protest-Potenzial einer (möglichen) Sarrazin-Partei

Thilo Sarrazin und seine Äußerungen. Gibt es ein Potenzial, mit einer rechtspopulistischen Partei in Deutschland Fuß zu fassen? Wie groß ist es? Die (mediale) Öffentlichkeit sucht nach Antworten auf diese Fragen. Aber die Demoskopie kann sie kaum liefern. Wir mögen in einer Demoskopie-Demokratie leben – aber bei solchen Fragen stoßen herkömmliche Meinungsumfragen an ihre Grenzen.

Wir kennen das Muster aus dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008: Die Hautfarbe Obamas – hat sie den Ausgang der Wahl beeinflusst? So essenziell die Fragen auch sind: Zu aufgeladen und vorbelastet sind die Themen. Entsprechend groß ist die Gefahr, dass sich die „wahren“ Antworten von Befragten mit Vorurteilen, Ressentiments, aber auch wahrgenommener politischer Korrektheit vermischen. Eine Frage „Beeinflusst Obamas Hautfarbe ihre Wahlentscheidung?“ verbietet sich in einer seriösen Umfrage. Gleiches gilt für die (mögliche) Wahl einer rechtspopulistischen Partei. Auch danach kann man – allen demoskopischen Versuchen zum Trotz – nicht „mal eben“ fragen.

Müssen wir die Forscherflinte ins Korn werfen? Müssen wir schlicht warten, ob sich eine (neue) rechtspopulistische Partei – zum Beispiel um Thilo Sarrazin herum – gründet? Und wie viele Stimmen diese Partei dann am Wahltag bekommt? Oder können wir etwas Besseres tun? Yes, we can.

Am Beispiel Obamas und seiner Hautfarbe haben amerikanische Kollegen gezeigt: Mit klugen, sensiblen Instrumenten, so genannten list experiments, können wir auch Antworten auf sensible Fragen bekommen. Und mit ähnlichen Fragen lässt sich auch das Potenzial einer „Sarrazin“-Partei abschätzen.

„Im Folgenden finden Sie eine Liste von Parteien und ihren Spitzenkandidaten.

  • Partei mit Sigmar GABRIEL an der Spitze
  • Partei mit Renate KÜNAST an der Spitze
  • Partei mit Oskar LAFONTAINE an der Spitze
  • Partei mit Angela MERKEL an der Spitze
  • Partei mit Thilo SARRAZIN an der Spitze
  • Partei mit Horst SEEHOFER an der Spitze
  • Partei mit Guido WESTERWELLE an der Spitze

Wie viele von diesen Parteien kämen bei einer bevorstehenden Wahl für Sie grundsätzlich in Frage?“

Diese Frage soll geeignet sein, das Potenzial einer Sarrazin-Partei abschätzen zu können? Was soll uns die schlichte Anzahl wählbarer Parteien sagen? 1, 2, 3 – nach mehr wird hier nicht gefragt. Tatsächlich ist die Frage als solche wertlos.

Äußerst wertvoll wird sie erst, wenn wir sie ergänzen. In einer zweiten Gruppe von Befragten stellen wir eine nahezu identische Frage – bei einer kleinen Ausnahme: Die „Sarrazin“-Partei fehlt in der zweiten Liste. Konkret: Wir zeigen 500 repräsentativ ausgewählten Menschen die Liste inklusive Sarrazin und 500 anderen, ebenfalls repräsentativ ausgewählten Menschen die gekürzte Liste. 500 Menschen haben Sarrazin als zusätzliche Option, 500 haben diese zusätzliche Option nicht. Diesen winzigen Unterschied bemerken die Befragten aber nicht. Die gesuchte Information nach Sarrazin wird unbemerkt, en passant ermittelt.

Genau das haben wir Anfang vergangener Woche im Rahmen einer Studie an der Universität Mannheim in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut YouGovPsychonomics getan. Und das Ergebnis? Im Durchschnitt nennen die ersten 500 Befragten (mit Sarrazin in der Liste) eine Zahl von 1,83 wählbaren Parteien. Dagegen nennen die zweiten 500 Befragten (ohne Sarrazin in der Liste) im Durchschnitt nur 1,57 wählbare Parteien. Ein Unterschied von 0,26, für den die einzig mögliche Erklärung ist, dass 26 Prozent der ersten Gruppe sich vorstellen können, eine „Sarrazin“-Partei zu wählen. Das Potenzial von Sarrazin liegt nach diesen Zahlen also bei 26 Prozent.

Warum ich an diese Zahl glaube? Kein einziger Befragter musste in der Umfrage direkt angeben: „Ja, ich würde Sarrazin wählen“. Wir haben dieses Potenzial indirekt, aber dennoch zielgenau erfasst.

Wo lässt sich dieses Potenzial verorten? Das größte Potenzial liegt in der Gruppe der Befragten, die 2009 nicht an der Bundestagswahl teilgenommen (oder ihre Stimme einer kleinen Partei gegeben) haben: Über die Hälfte, nämlich 56 Prozent der Befragten aus dieser Gruppe können sich vorstellen, eine Sarrazin-Partei zu wählen. Auch 25 Prozent der Befragten, die 2009 die Linkspartei gewählt haben, sind nach den Ergebnissen dieser Studie bereit, Sarrazin zu wählen. Beides sind eindeutige Hinweise auf vorhandenes Protestpotenzial. Unter den Grünen-Wählern dagegen sind es gerade einmal magere zwei Prozent.

Dies zeigt: Es gibt großen Unmut unter den Wählern. Und ein Blick in die Niederlande oder jüngst nach Schweden zeigt auch: Dieser Protest kann seinen Weg ins Parteiensystem finden. Dies könnte auch in Deutschland geschehen, wie diese Zahlen zeigen. Noch allerdings ist das alles hypothetisch, eine Sarrazin-Partei gibt es nicht. Ob es sie je geben wird – wer weiß das schon? Diese Frage kann auch die beste Methode nicht beantworten.

Zur Methode:

Die Erhebung wurde von YouGovPsychonomics im Zeitraum vom 20. bis zum 22. September durchgeführt, befragt wurden 1000 Personen.

PS: Mittlerweile habe ich hier noch einen Nachtrag zur Validität der Methode veröffentlicht.

 

S21: Yes They Can!

AndreaAm Freitag setzen also sich die Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 erstmals ohne Vorbedingungen an einen Tisch. Na endlich, könnte man sagen. Aber was können wir von einem solchen Treffen erwarten? In meinem letzten Blog-Beitrag habe ich Verfahren der Bürgerbeteiligung beschrieben, die entwickelt wurden, um in solchen Großprojekten die Einbindung aller Positionen zu gewährleisten. Seither wurde ich von vielen Seiten gefragt: Eigentlich gibt es doch ohnehin nur sehr wenig Handlungsspielraum, was könnten solche Verfahren also in Stuttgart nun noch bringen? Oder anders: Können Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 überhaupt noch zueinander finden? Ich meine: Ja, sie können!

Natürlich: Die Beschlüsse sind gefasst, die politische Entscheidungsfindung wird mit größter Wahrscheinlichkeit nicht neu aufgerollt. Ein Beteiligungsverfahren würde somit also realistischerweise nicht zu einem neuen Vorschlag für den Hauptbahnhof führen, da über diesen erneut abgestimmt werden müsste, was die politische Arbeit der letzten Jahre ad absurdum führen würde. Dessen ungeachtet ist jedoch die derzeitige Situation für alle Beteiligten unbefriedigend: Die Fronten sind verhärtet, Bau und Proteste werden trotz des Treffens weitergehen. Somit ist es dringend geboten, einen konstruktiven Dialog zu organisieren. Vier Ziele könnte man auf diesem Weg erreichen:

1. Zunächst einmal muss endlich Klarheit über die derzeit sehr unterschiedlich interpretierten Fakten, Studien und Gutachten geschaffen werden: das berühmte „joint fact finding“. Alle beteiligten Akteure müssen zu einer gemeinsamen Bewertung kommen. Dieser Prozess muss morgen am Runden Tisch begonnen werden, kann dort aber nicht enden.

2. Falls sich die Positionen von Befürwortern und Gegnern des Projektes nach Klärung der Fakten nicht ändern und die alten Beschlüsse weiter Bestand haben (also kein Baustopp bewirkt wird), gibt es dennoch Spielräume bei der konkreten Ausgestaltung. Hier sind vor allem die Stadtplanung und Stadtentwicklung auf dem Bahnhofsgelände gemeint, die durchaus auch noch begleitend zum Bau des neuen Bahnhofs diskutiert werden können.

3. Grundlage für einen solchen Prozess ist es, Handlungsoptionen bzw. Handlungskorridore auszuloten. Diese können (und müssen) die großen, generellen Fragen aufgreifen, die sich mit dem Projekt verbinden, und aufzeigen, wie die Ziele der beteiligten Akteure vereinbart werden können: Wie können wir den Standort Stuttgart stärken? Und wie können dabei Umwelt- und Denkmalschutz, Grundwasserversorgung und ein angemessener Umgang mit Steuergeldern gewährleistet werden? Der im letzten Beitrag bereits erwähnte Anti-Lärm-Pakt im Rahmen des Frankfurter Flughafenausbaus liefert hier ein Beispiel: Die Ausbaugegner erhielten von Landesregierung und den beteiligten Unternehmen die Zusage, dass neben dem Ziel des Ausbaus auch das Ziel des Lärmschutzes verfolgt wird.

4. Ein aus Landesregierung, Wirtschaftsvertretern, Bürgerinitiativen und anderen Gruppen zusammengesetztes Gremium, das Stuttgart 21 kritisch begleitet, hätte zudem Signalwirkung für die Bürgerinnen und Bürger: Politik findet nicht hinter verschlossenen Türen statt! Dies wäre ein besonders wichtiges Ziel, wenn man bedenkt, dass die Proteste gegen Stuttgart 21 längst auch zu einem Symbol für generelle Politiker- und Parteienverdrossenheit geworden sind. Zugleich könnte man so die vielfältigen Erfahrungen und Expertisen der Bürger(-initiativen) nutzen und das Bauvorhaben qualitativ verbessern.

Wir sehen, es gibt zahlreiche Gründe dafür, auch (bzw. gerade!) zu diesem späten Zeitpunkt noch über Verfahren nachzudenken, die den Meinungen der Bürgerinnen und Bürger Gewicht geben und die einen konstruktiven Dialog ermöglichen. Daran sollte übrigens auch der Landesregierung gelegen sein: Ein umsichtiger Konfliktmanager Stefan Mappus hätte im kommenden Wahlkampf mit Sicherheit bessere Karten als ein „brutalstmöglicher Bahnhofsbauer“…

 

Frankfurter Flughafenausbau und Stuttgart 21: Der Vergleich lohnt!

AndreaDer Vergleich ist in den Sozialwissenschaften (wie auch im Alltagsleben) eine beliebte Herangehensweise, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten und vor allem aus den Erfahrungen anderer zu lernen. Es wundert mich, dass in Bezug auf Stuttgart 21 selten das Beispiel des Ausbaus des Frankfurter Flughafens bemüht wird – wir haben es hier mit ähnlichen d.h. vergleichbaren Phänomenen zu tun: Beide sind für die jeweilige Region wichtige Infrastrukturprojekte, die Landesregierungen stehen kritischen Bürgern bzw. Anwohnern gegenüber, die Themen sind lokal verwurzelt und emotionalisieren bestimmte Gruppen. Was aber ist im Falle der jüngsten Stufe des Frankfurter Flughafenausbaus anders gelaufen, als wir es bei Stuttgart 21 beobachten? Warum gab es hier weniger Unruhe und Protest?

Nun, in Hessen hat man aus einem Vergleich gelernt: In diesem Fall dienten die Erfahrungen mit den massiven Protesten im Rahmen des Ausbaus der legendären „Startbahn West“ als mahnendes Beispiel. Im Vorfeld der nächsten Ausbaustufe initiierte die hessische Landesregierung – damals führte Hans Eichel die rot-grüne Koalition als Ministerpräsident an – ein zweijähriges Mediationsverfahren mit 21 Vertreterinnen und Vertretern aus allen Stakeholder-Gruppen: Städte und Gemeinden, Wirtschaft, Gewerkschaften, Landes- und Bundesregierung sowie eine Bürgerinitiative saßen zusammen am Tisch. Drei prominente Mediatoren wurden eingeschaltet und am Ende wurde ein „Mediationspaket“ verabschiedet, das von fast allen Konfliktparteien anerkannt wurde – der Kern dieses Paketes war das Regionale Dialogforum Flughafen Frankfurt (RDF).

Dieses Regionale Dialogforum führte in der Flughafenregion einen kontinuierlichen und öffentlichen Dialog mit allen regionalen Akteuren – insgesamt 33 Teilnehmer waren mit dabei, es herrschte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Befürwortern und Gegnern der Erweiterung. Die Ziele des Dialoges waren die gemeinsame Faktenklärung („joint fact finding“) und die Erstellung von politischen Entscheidungsgrundlagen unter Einbeziehung der Bevölkerung.

Das Ergebnis der in Dialogform geführten Verhandlungen war Grundlage für den Anti-Lärm-Pakt vom 12. Dezember 2007, einer gemeinsamen Erklärung des Landes Hessen, der Fraport AG, der Deutschen Lufthansa AG und der Deutschen Flugsicherung. Zentraler Punkt: Erweiterung bei gleichzeitigem aktivem Schallschutz. Die Moral von der Geschicht‘: Auch die Gegner des Projektes sahen ihre Argumente vertreten und akzeptierten Entschlüsse, die von ihrer eigenen Position abwichen. Denn mit dem Prozess gingen sie d’accord! So konnte das auch im Falle dieses Flughafenausbaus durchaus in der Bevölkerung vorhandene Konfliktpotenzial konstruktiv in die politische Entscheidungsfindung eingebracht werden.

Der Fall Stuttgart 21 stellt sich natürlich ein wenig anders dar: Die politischen Entscheidungen sind bereits gefällt. Dennoch wäre es auch jetzt noch möglich, die Bevölkerung in die Weiterentwicklung der Pläne einzubeziehen – in Frankfurt etwa läuft gegenwärtig das „Forum Flughafen und Region“, das die Umsetzung der Erklärung von 2007 begleitet. Eine solche Maßnahme könnten auch im Falle von Stuttgart 21 dazu beitragen, dass die Kritiker des Projektes einen konstruktiven Beitrag leisten und ihre Bedenken einbringen können – und dies scheint angesichts der aktuellen Proteste dringend geboten.

 

Stuttgart 21: Neue Verfahren braucht das Ländle – oder: „deliberative polling“ auf Schwäbisch

AndreaAls gebürtige Stuttgarterin überrascht mich meine Heimatstadt: Zwar sind die Schwaben bekannt für ihre Ausdauer und Beharrlichkeit, aber nicht unbedingt für politischen Widerstand. Vor allem nicht für einen Widerstand, der eng mit der CDU verbunden ist und diese Partei kritisiert, die in Baden-Württemberg seit 57 Jahren ununterbrochen regiert.

Was lässt sich aus politikwissenschaftlicher Perspektive hier sagen? Auf zwei Ebenen möchte ich das Problem platzieren, auf der Polity- und auf der Politics-Ebene. Fangen wir mit der Polity, also dem institutionellen Gefüge an: Sowohl die Mechanismen der repräsentativen Demokratie als auch die der partizipativen Demokratie „greifen“ im Fall von Stuttgart 21 nicht. Das Projekt hat alle parlamentarischen und demokratischen Instanzen durchlaufen und wird von den Bürgen, die dort ja repräsentiert werden sollen, dennoch mit einer Massivität abgelehnt, die auf eine tiefe Erschütterung ihres Vertrauens in die Politik schließen lässt (siehe hierzu auch den sehr interessanten Beitrag „Politiker, hört die Signale!“ von Susanne Gaschke).

Partizipative Elemente wie Volksentscheide oder Petitionen bergen wiederum zwei große Risiken: Einerseits führen sie oft zu einer Zementierung des Status Quo, da die erforderlichen Stimmenanzahlen nicht erreicht werden, durch die ein Entscheid überhaupt erst Gültigkeit erlangt. Andererseits kann im Falle einer Bewegung, welche die nötigen Quoren erfüllt hat, eine „Tyrannei der engagierten Minderheit“ entstehen, da sich meist eine recht homogene Gruppe an Bürgerinnen und Bürgern bei einem solchen Verfahren beteiligt, die nicht alle Meinungen und Interessen in der Bevölkerung auffangen kann und will (beispielhaft hierfür kann die sehr unterschiedliche Partizipation am Hamburger Volksentscheid in den einzelnen Stadtteilen stehen, die mit sozioökonomischen Merkmalen der Bevölkerungsgruppen zu korrelieren scheint). Dieses Problem – in aller Kürze skizziert – ist das demokratische Dilemma von Volksentscheiden.

Ein möglicher neuer Weg wäre das in den USA von James Fishkin entwickelte „deliberative polling“. Dieses Verfahren bindet die Politcs-Dimension (also die Prozess-Ebene) mit ein: Es geht es nicht nur darum, die Präferenzen von Individuen zu aggregieren und in die Politik einzuspeisen, wie es etwa bei Volksentscheiden der Fall ist. Vielmehr soll zunächst über diese Präferenzen gesprochen werden. „Deliberation is the name of the game“, die Demokratie als kommunikatives System! Und wie genau funktioniert dies? Eine repräsentativ zusammengestellte Gruppe von Bürgern berät zwei oder drei Tage lang gemeinsam sowie in Kleingruppen über das Thema, zu welchem sie zudem ausgewogenes Informationsmaterial erhält. Außerdem haben die Bürger die Möglichkeit, Experten zu befragen. Auf dieser Grundlage soll gewährleistet werden, dass am Ende eine informierte Entscheidung steht, die jedoch nicht in erster Linie von den aktiven Interessengruppen selbst getroffen wird (die sich an einer Volksabstimmung überdurchschnittlich beteiligen würden), sondern von Personen, welche die gesamte Breite der Bevölkerung repräsentieren.

Die Nachteile eines solchen Verfahrens liegen insbesondere darin, dass sie vergleichsweise viel Zeit benötigen, teuer sind und nur auf regionaler Ebene gut funktionieren. Im Falle von Stuttgart 21 wären diese Probleme jedoch lösbar: Eine Entschleunigung täte dem Prozess vermutlich ohnehin gut, der ausschließliche Bezug auf ein regionales Vorhaben ist gegeben und im Vergleich zu den Milliarden Euro, die für das Projekt ausgegeben würden, hielten sich die Kosten für eine solche Veranstaltung wie das „deliberative polling“ in Grenzen.

„Not macht erfinderisch“ – auch das könnte ein Wahlspruch der Schwaben sein. Vielleicht könnte man die aktuelle Not der verhärteten Fronten zwischen Ausbaugegnern und -befürwortern nutzen und neue Wege beschreiten, die zu besseren Ergebnissen führen könnten. Erfinden müsste man ein solches Verfahren nicht einmal, es existiert bereits.

Literatur:

Ackerman, Bruce & Fishkin, James S. (2005). Deliberation Day. Yale University Press.

Fishkin, James S. (2009). When the People Speak. Deliberative Democracy and Public Consultation. Oxford University Press.

 

Zum Amt des Vizekanzlers

Wenn Guido Westerwelle auftritt, wird er oft als „Vizekanzler“ angekündigt, und manchmal bezeichnet er sich selbst so. Wenn man allerdings in unserer Verfassung nach dem Amt eines Vizekanzlers sucht, wird man nicht fündig. Teil 6 des Grundgesetzes (GG) legt die Rahmenbedingungen fest, unter denen die Bundesregierung gebildet wird, wie lange sie im Amt ist, welche zentrale Rolle ein Bundeskanzler bei all dem spielt und wie man den Bundeskanzler wählt oder wieder loswerden kann. Doch wo ist der Vizekanzler? Er tarnt sich offenbar als „Stellvertreter des Bundeskanzlers“ in Artikel 69 GG. Dort heißt es lapidar (Abs. 1): „Der Bundeskanzler ernennt einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter.“ Mehr ist in unserer Verfassung über den vermeintlichen Vizekanzler nicht geregelt.

Aber die Absätze 2 und 3 machen klar, dass es sich bei diesem Stellvertreter kaum um ein eigenständiges Amt handeln kann, denn das Amt eines jeden Bundesministers endet mit der „Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers“ (Art. 69 Abs. 2 GG). Der „Vize“, wenn man ihn denn so bezeichnen möchte, wird nicht etwa automatisch Nachfolger eines zurückgetretenen oder gestorbenen Kanzlers, wie dies beispielsweise mit dem Vizepräsidenten der USA der Fall ist. Sollte der Bundeskanzler aus dem Amt geschieden sein und der Bundespräsident ihn nicht ersucht haben, das Amt bis zur Wahl eines Nachfolgers weiter auszuüben, kann entweder der bisherige Kanzler oder der Bundespräsident einen Bundesminister ersuchen, die Geschäfte des Bundeskanzlers kurzzeitig weiterzuführen (Art. 69 Abs. 3 GG). Dass ein solcher Geschäftsführer der ehemalige Stellvertreter sein muss, ist nicht zwingend, auch wenn Walter Scheel als Bundesaußenminister und Stellvertreter im Frühjahr 1974 neun Tage lang die Geschäfte des zurückgetretenen Kanzlers Willy Brandt bis zur Wahl Helmut Schmidts führte.

Im Grundgesetz spielt der Stellvertreter des Bundeskanzlers demnach eine alles in allem vernachlässigbare Rolle. Doch vielleicht verleiht ihm die Geschäftsordnung der Bundesregierung nach Art. 65 Satz 4 ja größere Bedeutung. Dort heißt es in §8 immerhin: „Ist der Bundeskanzler an der Wahrnehmung der Geschäfte allgemein verhindert, so vertritt ihn der gemäß Artikel 69 des Grundgesetzes zu seinem Stellvertreter ernannte Bundesminister in seinem gesamten Geschäftsbereich. Im übrigen kann der Bundeskanzler den Umfang seiner Vertretung näher bestimmen.“ Demnach schlüpft der Stellvertreter nur dann in die Rolle des Kanzlers, wenn dieser „allgemein verhindert“ ist. Das kann schon einmal vorkommen, auch wenn der Kanzler bestimmen kann, inwieweit der Stellvertreter tatsächlich den Regierungschef „geben“ kann.

Guido Westerwelle, soviel ist klar, genießt die Rolle des Vertretungskanzlers und hat ihre Ausübung am 4. August 2010 sogar mit einer Pressekonferenz zu zweitrangigen Themen medial inszeniert. Das ist genauso neu wie die ständige Verwendung des Titels „Vizekanzler“ in und durch die Medien. Die bisherigen Stellvertreter eines Bundeskanzlers haben um ihre Vertretungsfunktion wenig Aufhebens gemacht, egal ob sie der FDP, der SPD, der CDU oder den Grünen angehörten. Eine Ausnahme mag es mit Jürgen Möllemann gegeben haben, der 1992/93 für immerhin acht Monate Stellvertreter des Bundeskanzlers Helmut Kohl war und mit dieser Tatsache ebenfalls nicht hinterm Berg hielt.

Ob nun Stellvertreter oder Vizekanzler, es handelt sich dabei um nicht mehr oder weniger als eine zusätzliche Funktion eines Bundesministers. Im politischen Alltag spielt die Stellvertreterfunktion selten eine Rolle und wird sich dann auch auf mit dem Kanzler abgestimmte Handlungen wie die Leitung von Kabinettssitzungen beschränken. Und falls der Kanzler endgültig abhanden kommt, wird der Bundestag binnen kurzer Zeit einen ganz neuen wählen. Es gibt also keinen sachlichen Grund, die Rolle des Stellvertreters des Bundeskanzlers immer wieder besonders hervorzuheben oder gar das eigentlich ausgeübte Amt, nämlich das des Bundesministers, das eine notwendige Bedingung für die Rolle des Stellvertreters ist, mit der Bezeichnung „Vizekanzler“ zu ersetzen. Will man sich fußballerischer Analogien bedienen, dann ist Philipp Lahm wahrscheinlich schon jetzt mehr Kapitän der Fußballnationalmannschaft als Guido Westerwelle je Kanzler der Bundesrepublik.

 

Kann man die Verständlichkeit von Politikern objektiv messen?

Jan KercherDie Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker ist nicht erst seit den berühmten sprachlichen Entgleisungen des einstigen bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber Anlass für öffentliche und wissenschaftliche Kritik. So berechtigt diese Kritik auf den ersten Blick erscheint: Die Ergebnisse der Verstehens- und Verständlichkeitsforschung belegen, dass die Verständlichkeit von geschriebenen oder gesprochenen Texten stark von den individuellen Verständnisvoraussetzungen des jeweiligen Lesers bzw. Zuhörers bestimmt werden (z.B. Bildung, Vorwissen).
Ansätze für eine Überwindung dieser Problematik bieten die Messinstrumente der Lesbarkeitsforschung, die ursprünglich entwickelt wurden, um die Lesbarkeit von Schulbüchern ökonomisch erfassbar zu machen. Hierfür wurden sogenannte „Lesbarkeitsformeln“ entwickelt, die auf objektiv messbaren Textmerkmalen basieren, für die zudem eine leserübergreifende Relevanz für die Lesbarkeit eines Textes nachgewiesen werden konnte. Hierzu zählen insbesondere die durchschnittliche Wortschwierigkeit und Satzkomplexität.
Die bekannteste und am häufigsten verwendete Lesbarkeitsformel ist der Reading Ease Index von Rudolf Flesch (häufig auch als „Flesch-Formel“ bezeichnet). Sie basiert auf der durchschnittlichen Satzlänge in Wörtern und der durchschnittlichen Wortlänge in Silben und ermittelt Werte von 0 (kaum verständlich) bis 100 (sehr leicht verständlich). Für die englische Sprache wurden seit Ende der 1920er Jahre mehrere hundert solcher Formeln entwickelt, die ab Ende der 1960er Jahre auch als Grundlage für die Entwicklung deutscher Formeln dienten.
Damit zurück zur eigentlichen Fragestellung: Kann man die Verständlichkeit von Politikern anhand dieser Formeln objektiv messen? Eine aktuelle Untersuchung der Universität Hohenheim hat nun erstmals anhand einer experimentellen Untersuchung überprüft, ob Lesbarkeitsformeln dazu geeignet sind, die Verständlichkeitsbewertungen und Verständnistestergebnisse von unterschiedlichen Rezipientengruppen für Politikerreden vorherzusagen. Als Untersuchungsobjekte dienten hierbei Video-Podcasts von Angela Merkel sowie eine Weihnachtsansprache von Horst Köhler.
Das Fazit der Untersuchung: „Zusammenfassend ergeben sich […] eine ganze Reihe von Indizien, die dafür sprechen, dass objektiv messbare Textmerkmale, wie sie von den Formeln erfasst werden, tatsächlich für eine Messung der Politikerverständlichkeit geeignet sind. […] Dass alle Stimuli im Rahmen der vorliegenden Untersuchungen audiovisuell rezipiert wurden, bestätigt die wenigen bislang vorhandenen Belege für solch eine Übertragbarkeit der Prognoseinstrumente der Lesbarkeitsforschung“ (Kercher 2010: 115).
Wie kann man diese beachtliche Prognosekraft eines schlichten Instruments wie der Lesbarkeitsformeln angesichts der Komplexität des Phänomens Verständlichkeit erklären? Aus früheren Untersuchungen lässt sich ableiten, dass die Formeln aufgrund der vielen Interaktionen und Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Textmerkmalen indirekt wesentlich mehr messen, als in den Formeln direkt enthalten ist: „Dies dürfte das eigentliche Geheimnis für den Erfolg der Lesbarkeitsformeln sein“ (Best 2006: 28).

Quellenverweise:

  1. Best, Karl-Heinz (2006): Sind Wort- und Satzlänge brauchbare Kriterien zur Bestimmung der Lesbarkeit von Texten?. In: Wichter, Sigurd / Busch, Albert (Hrsg.): Wissenstransfer – Erfolgskontrolle und Rückmeldungen aus der Praxis. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 21-31.
  2. Kercher, Jan (2010): Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker anhand quantitativer Textmerkmale. In: Faas, Thorsten / Arzheimer, Kai / Roßteutscher, Sigrid (Hrsg.): Information – Wahrnehmung – Emotion: Politische Psychologie in der Wahl- und Einstellungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 97-121.
 

A Belgian Tsunami. Causes and consequences of a remarkable election result

Gastbeitrag von Steven Lauwers / guest article by Steven Lauwers

A few years ago, the Walloon public broadcaster aired a breaking news item, on the occasion of the 1st of April, announcing Flanders had declared its independence. The reactions to this fictional news item varied greatly: while some viewers were outraged, others were panicking and internationally, not all media outlets understood the joke. Since 2007, when international media were covering the elections and the subsequent struggle to form a government and get out of the political padlock, the end of this tiny country has been the focus in many discussions. Belgium seemed unable to resolve its disputes and lost a lot of international confidence. To make things worse, the Flemish Liberal Party (Open VLD), after months of unsuccessful negotiations, stepped out of the federal government, causing its fall early this year. At exactly the moment that Belgium became president of the European Union and needs to help Europe find a solution for the deep economic crisis it is facing, the country is struggling, yet again, to assemble its own government. And with the surprising victory of the NVA, the New Flemish Alliance, could this be the end of Belgium as we know it?

Belgium is divided into linguistic areas. If we exclude the German-speaking area for a moment, we can say that the North (Flanders) is unilingual Dutch, the South (Wallonia) unilingual French and the capital, Brussels, bilingual. The country consists of 10 provinces, which also form the constituencies, with one exception: Flemish-Brabant. This province, part of the Flemish linguistic area, has been split into two constituencies, Leuven and Brussels-Halle-Vilvoorde (B-H-V). B-H-V consists of the capital Brussels and its agglomeration, grouped under the name Halle-Vilvoorde (H-V). As Brussels is bilingual, many of the inhabitants in the surrounding H-V area speak French. Francophones in both Brussels and H-V are allowed to vote for Francophone parties from Wallonia and Brussels, despite the fact that H-V is unilingual Dutch. The other way around is impossible: Flemish parties that stand for election in B-H-V cannot get votes across the linguistic border for their list. In the fifties, Wallonia was renown for its thriving mining and steel industry. As this industry did not modernize its infrastructure adequately, it lost its ability to compete at an international level, while Flanders’ industry was rising around the same time. During the last decennia unemployment and subsequently poverty in Wallonia have grown steadily and many Walloons have to be supported by social security, provided by the federal government of Belgium. The money for this is mainly provided by the Flemish industry and Flanders’ taxpayers. The Flemish part of the country is growing tired of this one-way sponsorship, while Wallonia does not seem to want to change the current situation: it is neither able to provide the social security its inhabitants need, with unemployment rates twice as high as the national average, nor to improve their weak economy.

Belgium has been struggling for years to find an agreement on these issues, which is a prerequisite for many parties to even start talking about other issues. These problems can only be resolved by changing the constitution, which requires a two thirds majority in the Senate and the Chamber of Representatives; this majority also only counts if it consists of a majority in both linguistic communities. The search for an agreement on these topics has paralyzed Belgian politics and put governing the nation on hold, exacerbating problems such as the growing national economic deficit. Earlier this year, the Flemish Liberal party decided to step out of the coalition, causing the government to fall and new elections to be held earlier than anticipated. This action added to the voters’ frustration about the political mess.

Combining all these elements, one should have noticed the signs of the „tsunami“ that was about to hit Belgium. Many Flemish voters sought refuge to the one party that had been criticizing this situation all along: the New Flemish Alliance (NVA). This center-right oriented party, which only held a few seats in the Senate or the Chamber of Representatives until now, won the elections in Flanders with nearly 30% of the votes. In Wallonia, almost 40% of the voters have put their hopes in the the Socialist Party (PS). And still, the outcome of these elections was a wake-up call for everybody. The floodwave changed the political landscape completely and left a lot of casualties behind in every political party including budget cuts and resigning politicians. The two parts of the country have spoken with a clear voice and it is more obvious than ever that Belgian people live in a country with two completely different democracies, two different cultures and two different opinions. The presidents of both parties embody what the different linguistic communities feel the other one stands for: Bart De Wever (president of the NVA) sees nationalism and separatism as the solution to the current chaos and represents a Flemish part that is clearly in search of its identity; Elio Di Rupo (president of the PS) on the other hand embodies the kind of socialism the Flemish voters dislike, the long-term social security and support, which they perceive as the opposite of change and progress.

 

The international media often describes the NVA as a separatist party, with its only goal being Flemish independence. There is no denying that their programme reflects this idea, Bart De Wever claims he does not strive for complete independence at this stage. In the run-up to the elections, he clearly stated that his first priority is to find a solution for the problems that paralyze Belgium and at a later stage consider how Flanders can gain greater independence. Looking for a solution all political players are likely to support is probably the smartest move. He might have won the battle around the elections, but hasn’t won the war yet.

With such a strong political voice in each part of the country, asking for the exact opposite, a solution seems very hard to find. However, both parties seem to realize that a profound change is necessary and that these elections could very well be the last opportunity. The extreme right party as an example lost a tremendous amount of voters to the NVA, a sign that Belgians are not asking for the end of Belgium as a country as we know it, but are giving the politicians a final chance to work it out. As long as Belgians are looking for a compromise, they are still looking for a solution as one country. With one strong voice on each side, a two thirds majority – necessary for the constitutional changes needed to stabilize Belgium – seems much more possible than with a large number of political voices that are in complete disarray.

The parties now face the challenge of finding a compromise. The NVA will have to prove that its main goal is indeed bringing back stability to Belgium and not only striving for Flemish independence. The PS on the other hand will have to show that they want to move forward and have understood that Flanders is asking for change in order to be willing to keep negotiating in the future. There is more at stake than just securing a victory in the next elections.

The Tsunami has left many casualties and changed the political landscape completely. It is too early to say how Belgium will recover, but whatever the outcome of the ongoing negotations will be, it will define the future of Belgium. “Historical” is a word that is used much too often, but there is no other word that better emphasizes the importance of this situation.

 

Warum die Primarschule in Hamburg gescheitert ist

von Andrea Römmele und Henrik Schober

AndreaDer Hamburger Volksentscheid über die Schulreform hat eine eindeutige Siegerin hervorgebracht: die Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“. 58 Prozent der Wähler haben der Bürgerinitiative zugestimmt, während der konkurrierende Vorschlag, der immerhin von allen in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Parteien unterstützt wurde, nur 45,5 Prozent Zustimmung verzeichnen konnte.* Somit haben die Bürger entschieden, dass das bisherige System der vierjährigen Grundschule bestehen bleibt und das gemeinsame Lernen nicht auf sechs Jahre ausgedehnt wird.

Volksentscheide sind in Deutschland eine relative neue Form demokratischer Beteiligung und nicht zuletzt deshalb ist die Analyse des Hamburger Ergebnisses bundesweit von Interesse: Warum konnte sich der gemeinsame Vorschlag nicht durchsetzen? Lassen sich aus dem Scheitern dieses Vorzeigeprojektes Erfolgskriterien für Volksentscheide im Allgemeinen ableiten?

Unserer Ansicht nach gibt es zwei Argumente, die den Ausgang der Abstimmung erklären können.

Das Partizipationsargument: Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 39,3 Prozent, hat sich allerdings zwischen den Stadtteilen stark unterschieden. Während in Nienstedten der Spitzenwert von 60,3 Prozent erreicht wurde, konnten in Billbrook gerade einmal 12,5 Prozent verzeichnet werden. Dabei ist auffällig, dass die Wahlbeteiligung in den sozial schwächeren Stadtteilen eher gering war, während sie in den wohlhabenderen Gegenden überdurchschnittlich hoch ausgefallen ist. Die beiden erwähnten Stadtteile sind dafür exemplarisch: Nienstedten verzeichnet mit 0,5 Prozent die geringste Arbeitslosenquote unter den Stadtteilen, Billbrook mit 15,4 Prozent die höchste.

Dies bestätigt einen gängigen Befund der Partizipationsforschung, nach dem die Wahlbeteiligung in sozial schwächeren Schichten generell niedriger ist als in den wohlhabenderen Schichten. Das Dilemma: Eigentlich sollte die Schulreform gerade für jene sozial Schwachen Vorteile bringen, sie konnten aber nicht mobilisiert werden. Dieser Umstand kam der Bürgerinitiative zu Gute: Ihr Plädoyer für den Erhalt des Gymnasiums hat insbesondere die wohlhabenden und partizipationsbereiten Schichten angesprochen. Der entsprechende Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau, Bildungschancen und politischer Partizipation wurde verschiedentlich nachgewiesen (siehe hierzu ausführlich van Deth 2009). Die Zielgruppe der Bürgerinitiative war also geradezu ideal dafür geeignet, das Regierungsvorhaben durch einen Volksentscheid zu kippen.

Das Kampagnenargument: Neben diesen sozialstrukturellen Argumenten können Aspekte aus dem Bereich der Kampagnenforschung herangezogen werden. Zum einen hat die Bürgerinitiative ihre Kampagne sehr viel früher begonnen als die Regierung. Ein Grund dafür liegt möglicherweise in der Diskussion darüber, ob sich die Bürgerschaft hätte neutral verhalten müssen, wie es von einigen Gegnern der Schulreform gefordert wurde. Zwar haben sich letztlich alle Parteien klar positioniert, allerdings hatte die Kampagne gegen die Schulreform zu diesem Zeitpunkt bereits einen gewaltigen Vorsprung. Dabei ist auch anzumerken, dass sich die Bürgerinitiative eine lange Kampagne leisten konnte. Es können somit zwei Grundregeln moderner Kampagnenführung bestätigt werden (siehe auch Perron und Kriesi 2008): Es lohnt sich, früh anzufangen und viel zu investieren!

Ein weiterer Vorteil der Kampagne gegen die Reform war, dass sie ihre Botschaft sehr viel plastischer und emotionaler darstellen konnte. Mit entsprechender Rückendeckung durch die Boulevardpresse wurde vor dem Qualitätsverlust des Gymnasiums und vor Nachteilen für begabte Kinder gewarnt. Die Wähler konnten so emotionalisiert und damit auch mobilisiert werden. Die Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens hingegen, etwa der langfristige sozioökonomische Nutzen oder die Chancen auf bessere Integration, konnten nicht veranschaulicht werden. Ohne eine konkrete Vision ist es aber sehr schwer, die Zielgruppen zu mobilisieren oder gar andere Wähler zu überzeugen.

Aus Sicht der Wissenschaft liefert der Volksentscheid also keine neuen Erkenntnisse, sondern bestätigt die bestehenden Befunde. Die Befürworter der Primarschule konnten weder die bildungsferneren Zielgruppen ausreichend mobilisieren noch in den bildungsnahen Bevölkerungsschichten genügend Unterstützung einwerben. Zudem konnte der Vorsprung der Kampagne „Wir wollen lernen“ nicht mehr aufgeholt werden.

Was bleibt? Es gibt nach wie vor starke Unterschiede in der Partizipationsbereitschaft, die auch und gerade bei der Vorbereitung von Volksentscheiden berücksichtigt werden müssen. Die Kernfrage der Wahlkampfforschung lautet: do campaigns matter – machen Kampagnen einen Unterschied? Unter dem Eindruck des Hamburger Ergebnisses kann festgestellt werden: Wahlkämpfe können auch Volksentscheide maßgeblich beeinflussen, campaigns do matter

* Über die beiden Vorschläge wurde getrennt abgestimmt. Die Vorlage der Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ erhielt 58 Prozent Ja-Stimmen und 42 Prozent Nein-Stimmen, die Vorlage der Bürgerschaft erreichte einen Anteil von 45,5 Prozent Ja-Stimmen bei 54,5 Prozent Nein-Stimmen.

Literaturhinweise:

Van Deth, Jan W.: Politische Partizipation, in: Kaina, Viktoria/Römmele, Andrea (Hg.): Politische Soziologie. Ein Studienbuch. Wiesbaden, 2009.

Perron, Louis/Kriesi, Hanspeter: Neue Trends in der internationalen Wahlkampfberatung, in: Zeitschrift für Politikberatung 1(1), 2008.

 

Das rot-grüne Koalitionsabkommen in NRW: wirklich ein Angebot nur an die Linke?

Die Bildung der rot-grünen Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen hat in den letzten Tagen die Debatte entfacht, ob solche Bündnisse künftige Optionen für die Bundesebene darstellen. Die Diskussion darüber basiert auch auf der Beobachtung, dass Minderheitsregierungen im internationalen Vergleich durchaus erfolgreiche Modelle darstellen, die in ihrer Stabilität solchen Koalitionsregierungen, die sich auf eine Mehrheit im Parlament stützen können, in nichts nach stehen. Auch die Minderheitsregierungen, die bereits auf Ebene der deutschen Bundesländer wie etwa in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 bestanden, wurden nicht vorzeitig durch Koalitionen abgelöst, die über eine Mehrheit im entsprechenden Landtag verfügt hätten.

Minderheitsregierungen benötigen aber nichtsdestotrotz die Unterstützung von Abgeordneten der Opposition, so dass die inhaltlichen Vorschläge der Regierung von einer Mehrheit im Parlament verabschiedet werden können. Um dieses Ziel zu erlangen kann eine Minderheitsregierung sich entweder von Gesetzesinitiative zu Gesetzesinitiative wechselnde Partner im Parlament suchen, die das jeweilige Vorhaben unterstützen. Oder die entsprechende Minderheitsregierung konzentriert sich auf eine bestimmte Oppositionspartei und vereinbart eine fixe Unterstützung für die gesamte Legislaturperiode.

Die neu gewählte nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) scheint die erstgenannte Strategie vorzuziehen und nicht nur auf die Stimmen der Linken, sondern auch auf partielle Unterstützung von CDU und FDP im Landtag von NRW zu setzen. Ist diese Hoffnung von Frau Kraft begründet? Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, liegt in der Analyse der im Koalitionsabkommen von Rot-Grün festgelegten inhaltlichen Ziele, die in der kommenden Legislaturperiode umgesetzt werden sollen. Mit Hilfe inhaltsanalytischer Verfahren lassen sich die Positionen der Parteien in Nordrhein-Westfalen auf Grundlage der Wahlprogramme sowie der Landesregierung auf Basis des Koalitionsabkommens für die Politikbereiche Wirtschaft und Soziales einerseits sowie Gesellschaft andererseits bestimmen. Die folgende Abbildung zeigt die Positionen der nordrhein-westfälischen Parteien zur Wahl 2010 sowie der Landesregierungen 2005 und 2010 (die Balken um die ermittelten Positionen geben den statistischen Schwankungsbereich an).

Es wird zum einen deutlich, dass sich – wie erwartet – die in den Koalitionsabkommen von Schwarz-Gelb und Rot-Grün formulierten Politikziele deutlich unterscheiden: so umfasste das Koalitionsabkommen von CDU und FDP aus dem Jahr 2005 wirtschaftsliberalere und gesellschaftspolitisch konservativere Positionen als das Regierungsprogramm von SPD und Bündnisgrünen vom Juli 2010. Dieser von Rot-Grün beabsichtigte Politikwandel in Richtung einer stärker auf sozialen Ausgleich setzenden Wirtschaftspolitik sowie einer progressiveren Gesellschaftspolitik – sichtbar etwa an den schulpolitischen Vorhaben der Regierung Kraft/Löhrmann – sollte der Fraktion der Linken deutlich lieber sein als die vom Kabinett Rüttgers/Pinkwart betriebenen Politik.

Dennoch ist die Distanz zwischen der ermittelten Position des Wahlprogramms der Linken und dem rot-grünen Koalitionsabkommen nicht unbeträchtlich. Dies gilt insbesondere für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen. Vielmehr kann die rot-grüne Regierung in NRW auf die Unterstützung der CDU im letztgenannten Politikbereich hoffen, da sich das Wahlprogramm der Christdemokraten kaum von der wirtschaftspolitischen Position des Koalitionsabkommens unterscheidet. In gesellschaftspolitischen Fragen könnte Rot-Grün auf die Unterstützung der FDP hoffen, da es hier deutliche Schnittmengen zwischen Liberalen und dem Programm der neuen Landesregierung gibt. Sollten sich also CDU und FDP von Inhalten und weniger von Parteipolitik in ihrem Verhalten im Landtag leiten lassen, dann kann die Regierung Kraft/Löhrmann in der Tat darauf hoffen, von Fall zu Fall Mehrheiten für Gesetzesvorlagen zustande zu bekommen. Dabei wäre nicht unbedingt die Linke die Fraktion, auf die Rot-Grün Rücksicht nehmen sollte, sondern vielmehr Christ- und Freidemokraten aufgrund der – sich nach Politikfeld unterscheidenden – vorhandenen inhaltlichen Schnittmengen. Von daher gibt es große Chancen, dass die rot-grüne Minderheitsregierung die komplette Legislaturperiode überdauert, wenn Frau Kraft geschickt agiert und alle Oppositionsfraktionen in den Prozess der Politikgestaltung mit einbezieht.

 

Das Kopf-an-Kopf-Rennen, das nie eines war

Als die Massenmedien den Volksentscheid in Bayern wenige Tage vor der Abstimmung für sich entdeckten, fehlte in kaum einem Bericht der Hinweis darauf, dass die Ja- und die Nein-Seite Kopf an Kopf lägen. Womöglich haben diese Berichte die beiden Kampagnenseiten zusätzlich angestachelt, womöglich auch die Beteiligung am 4. Juli ein wenig gesteigert. Ob solche Wirkungen aufgetreten sind, wissen wir (noch) nicht. Bemerkenswert sind die Berichte in jedem Fall, und zwar aus zwei Gründen.
Als Grundlage für die Kopf-an-Kopf-Diagnose diente eine Telefonumfrage, die TNS Infratest im Auftrag von „Bayern sagt Nein!“ durchgeführt hatte, und zwar in der Zeit vom 8. bis zum 23. Juni. Merkwürdigerweise wurden Ergebnisse dieser Mitte Juni geführten Interviews noch Anfang Juli als aktueller Stand dargestellt. Dies legt den Eindruck nahe, dass die geradezu gebetsmühlenhaften Hinweise, dass es sich bei Umfrageergebnissen um Momentaufnahmen handele, in der öffentlichen Kommunikation weitgehend ungehört verhallen.
Es kommt hinzu, dass die Kopf-an-Kopf-Diagnose die Realität offenbar nicht zutreffend beschrieb. Diese Einsicht verdanken wir einem – unkoordinierten – Methodenexperiment. Denn zwischen 8. und 23. Juni fand nicht nur eine Befragung im Auftrag der Nein-Seite statt, sondern auch im Rahmen des Forschungsprojekts zum Volksentscheid an der Universität Bamberg. Beide Erhebungen verwendeten die gleiche Befragungsmethode im gleichen Zeitraum – gelangten aber zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wie Tabelle 1 zeigt, zeichnete sich in der Umfrage im Auftrag der Nein-Seite ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. In der Bamberger Untersuchung war dagegen eine deutliche Mehrheit für ein Ja zu erkennen, wie im gesamten Erhebungszeitraum vom 25. Mai bis zum 3. Juli. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen gab es demnach nicht – wie auch nicht bei der Abstimmung am 4. Juli.

Tabelle 1: Angaben zum Stimmverhalten am 4. Juli in den beiden Befragungen

  „Bayern sagt Nein!“ Uni Bamberg
Dafür 48 62
Dagegen 49 29
Ungültig 0
Weiß nicht 2 6
Keine Angabe 1 3
N 740 1327

Quelle: „Volksentscheid Bayern – Nichtraucherschutz-Gesetz Juni 2010“ Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung und eigene Analysen der Daten aus dem Bamberger Projekt zum Volksentscheid. Aus Vergleichsgründen werden nur Personen betrachtet, die „bestimmt“, „wahrscheinlich“ oder „vielleicht“ am Volksentscheid teilnehmen wollten.

Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Der Schlüssel dürfte in den Frageformulierungen liegen. In der Bamberger Untersuchung wurde gefragt: „Beim Volksentscheid am 4. Juli können Sie für oder gegen den Gesetzentwurf ‚Für echten Nichtraucherschutz!‘ stimmen. Wie werden Sie stimmen: für oder gegen den Gesetzentwurf?“ Das Aktionsbündnis der Nein-Seite ließ fragen: „Die Befürworter des Volksentscheids wollen ein komplettes Rauchverbot durchsetzen, die Gegner wollen, dass das geltende Nichtraucherschutzgesetz Bestand hat, dass also auch weiterhin in abgetrennten Räumen oder in Festzelten geraucht werden darf. Wie würden Sie beim Volksentscheid am 4. Juli abstimmen: für den Gesetzentwurf oder dagegen?“ Diese Formulierung bietet den Befragten wesentlich mehr Informationen als das Bamberger Instrument – und vermutlich mehr Informationen, als viele der eher wenig informierten Befragten vor dem Interview besaßen. Zudem scheinen die Hinweise auf das „komplette Rauchverbot“, auf den „Bestand des geltenden Nichtraucherschutzgesetzes“ und auf die Möglichkeit, „weiterhin in abgetrennten Räumen oder in Festzelten“ zu rauchen, manche Befragte zu einem Nein veranlasst zu haben. Im Ergebnis bildete das Interview offenbar die Meinungsbildung einiger Bürger nicht zutreffend ab, so dass die Umfrage einen falschen Eindruck von der Stimmungslage in Bayern vermittelte.
Man könnte versucht sein, dieses Beispiel zum Anlass zu nehmen, die Umfrageforschung und ihre Ergebnisse zu verwerfen. Das hieße jedoch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn Umfragen können wichtige Erkenntnisse über die Gesellschaft an den Tag bringen, wenn sie sorgfältig und sachkundig konzipiert, durchgeführt und interpretiert werden – und dabei kann es gelegentlich auf vermeintlich vernachlässigbare Details ankommen.