Im Sommer 2014 gewannen die chinesischen Spieler im norwegischen Tromsø zum ersten Mal Gold bei einer Schacholympiade und Ende April 2015 gewannen sie jetzt auch noch die Mannschaftsweltmeisterschaft. Die Zahlen bestätigen den Aufstieg des chinesischen Schachs zur Weltmacht. Immer zu Monatsbeginn veröffentlicht der Weltschachbund Fide seine neue Weltrangliste und Chinas Mai-Bilanz kann sich sehen lassen.
Zwar haben die Chinesen immer noch keinen Spieler unter den Top Ten, aber dafür acht Spieler unter den Top 50. Außerdem stellen sie mit Hou Yifan die Nummer eins bei den Frauen.
Auch beim Nachwuchs glänzt China: Neue Nummer eins bei den Junioren ist ab dem 1. Mai nicht mehr der Ungar Richard Rapport, sondern der Chinese Wei Yi, Jahrgang 1999, und so mit knapp 16 Jahren bereits Nummer 33 der Welt. Bei den Frauen gehen die Plätze zwei und drei an die Chinesinnen Lei Tingjie und Guo Qi. Ihre Kolleginnen Ni Shiqun und Wang Jue folgen auf Rang neun und zehn.
In der Länderrangliste, die sich nach dem Elo-Schnitt der zehn besten Spieler bzw. Spielerinnen eines Landes berechnet, liegt China bei den Frauen auf Platz eins, bei den Herren hinter Russland auf Platz zwei. Da ist noch Raum nach oben.
Achtmal im Jahr verrät die holländische Schachzeitschrift New in Chess, wo das Spitzenschach steht. Sie erscheint auf Englisch, gilt als eins der besten Schachmagazine der Welt und setzt auf Hintergrundberichte, Analysen und Interviews. Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Wimbledon des Schachs, dem großen Traditionsturnier im holländischen Wijk aan Zee, das Anfang des Jahres stattfand. Gewonnen hat der Weltmeister Magnus Carlsen, die Plätze zwei bis fünf teilten sich vier Spieler, die alle als Weltmeisterkandidaten gelten. Einer ist Wesley So, 21 Jahre jung, Nummer acht der Weltrangliste, auf den Philippinen geboren, seit Kurzem US-Amerikaner. Wie stark er ist, zeigte So in Wijk aan Zee gegen den Ukrainer Wassili Iwantschuk, einen der besten Spieler der Welt. Weiter„Die vergebliche Suche nach der Perfektion“
Nigel Short zählt zu den besten hundert Spielern der Welt und manchem Schachfreund kommt es vor wie gestern, als man Nigel Short ein Wunderkind nannte. Mit zwölf nahm der Engländer als jüngster Teilnehmer aller Zeiten an den Britischen Meisterschaften teil, mit fünfzehn wurde er Vize-Weltmeister der Unter 20-Jährigen. Dreizehn Jahre später, 1993, zog Short auch im Kampf um den Welttitel den Kürzeren. Beide Titel gewann Garri Kasparow. Weiter„Das Schach verfällt dem Jugendwahn“
Der Schachweltmeister Fahim Mohammad wäre schon immer gerne ein ganz normaler Junge gewesen. Während andere jugendliche Talente online Schach spielen, mit dem Computer Eröffnungen studieren und die Eltern Trainer zahlen, hatte Fahim keinen Computer, keinen Internetanschluss, nicht einmal einen festen Wohnsitz und manchmal auch keine Kleidung für den Winter.
Das kürzlich im Heyne-Verlag erschienene Buch Spiel um dein Leben, Fahim! erzählt die wundersame Geschichte dieses Flüchtlingskindes, das 2012 französischer Schachmeister der unter 12-Jährigen wurde. Damals lebten er und sein Vater ohne Papiere illegal in Frankreich. Ein Jahr später wurde Fahim sogar Schülerweltmeister.
Fahim wurde 2000 in Bangladesch geboren, wo sein Vater Nura erst als Feuerwehrmann arbeitete und später eine Autovermietung besaß. Der Vater war leidenschaftlicher Schachspieler und sein Sohn belegte bereits als Siebenjähriger den zweiten Platz bei einem großen Turnier in Kalkutta. Fahim lebte in Bangladesch behütet in einem „großen Haus“ mit seinen Eltern und seinen Geschwistern. „Das Leben war schön“, sagt er in dem Buch.
Das änderte sich 2008. In Bangladesch herrschten politische Unruhen, auf den Straßen kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen und die Regierung verhängte eine Ausgangssperre. „Mehrmals kamen Fremde zu uns“, sagt Fahim. „Sie tauchten einfach auf und wollten meinen Vater sprechen. Sie stellten eine Menge Fragen, die ich nicht verstand. Sie durchsuchten die Wohnung, machten viel Lärm.“
Kein Geschrei, kein Gebrüll, keine Verletzten. Eigentlich ist Schach ziemlich harmlos. Doch das Spiel gefällt nicht allen. Vor allem nicht den religiösen Oberhäuptern. Jahrhundertelang missfiel Schach den jeweiligen Sachwaltern des Göttlichen auf Erden.
Schon 1005 forderten islamische Geistliche in Ägypten, man solle alle Schachfiguren und Spiele verbrennen.
Ein halbes Jahrhundert später beklagte sich Petrus Damiani (1007-1072), laut Wikipedia „einer der einflussreichsten Geistlichen des 11. Jahrhunderts“, beim Papst, Priester und Laien würden zu viel Zeit mit dem Schach verbringen und bat um ein Verbot des Spiels. Damiani hatte andere Leidenschaften. Als Buße für tatsächliche oder vermeintliche Sünden oder weil er glaubte, es würde Gott gefallen und ihm Bonuspunkte im Himmel bringen, peitschte er sich gern. Heute gilt er als Patron gegen Kopfschmerz.
Auch Rabbi Maimonides (1155-1204), den Wikipedia wiederum als „einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten aller Zeiten“ führt, war kein Freund des Schachs und zählte es zu den verbotenen Spielen.
Eine einheitliche Linie in der Einstellung der verschiedenen Religionen zum Schach lässt sich jedoch nicht erkennen. Vom 12. bis zum 16. Jahrhundert verboten die Päpste das Spiel gerne und häufig, doch Johannes Paul I. und Johannes Paul II. hatten nichts gegen eine kleine Partie. Mittlerweile ist Theresa von Ávila sogar offizielle katholische Schutzheilige des Schachs und im Judentum war Schach – Maimonides hin oder her – ab dem 16. Jahrhundert auch am Sabbat erlaubt.
Viswanathan Anand: Bei der WM im vergangenen Jahr gewann Anand keine einzige Partie, verlor krachend gegen Magnus Carlsen. Etliche Experten rieten dem Inder nach dieser Niederlage zum Rücktritt. Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik, der 2008 in Bonn gegen Anand um den Titel gespielt hatte, war anderer Meinung. Er ermunterte den Freund und Rivalen zur Teilnahme am Kandidatenturnier. Ein guter Rat: Anand gewann souverän, Kramnik wurde Dritter. Deshalb durfte Anand im November 2014 noch einmal gegen Carlsen um den WM-Titel spielen. Dieses Mal als Herausforderer. Er verlor zwar wieder, aber wesentlich knapper (und unglücklicher) als vorher.
Am Samstag beginnt im russischen Sotschi der WM-Kampf im Schach. Es treten an: der Weltmeister Magnus Carlsen und der Herausforderer Viswanathan Anand. Ende ist voraussichtlich am 28. November. Nachdem der Inder Anand seinen Titel 2013 im heimischen Chennai mit 3,5:6,5 deutlich an Carlsen abgeben musste, qualifizierte er sich überraschend durch einen starken Auftritt beim Kandidatenturnier in Chanty-Mansisk für einen Rückkampf. Wer wird diesmal gewinnen? Unsere drei Experten wagen eine Prognose.
Im Vergleich mit Chennai sind die Rollen vertauscht: Carlsen empfängt als Weltmeister seinen Herausforderer Anand. Es ist kein klassischer Rückkampf, wie er in den 1950er und 1960er Jahren üblich war, als jeder Verlierer ein automatisches Recht zu einer Revanche besaß. Anand musste sich im Qualifikationsturnier von Khanty-Mansijsk durchsetzen und er tat es bravourös, zumal seine Hauptkonkurrenten Kramnik und Aronian indisponiert agierten.
Danach machte sich Anand rar und zog sich ins Trainingslager zurück, seit März spielte er sechs gewertete Partien. Niemand kann einschätzen, wie gut er in Form ist. Seine Niederlage beim Schnellschachturnier auf Korsika gegen den Durchschnittsgroßmeister Sergey Fedorchuk von Mitte Oktober kann höchstens als ein schlechtes Omen gewertet werden, ein Gradmesser ist sie nicht.
Und Carlsen? Er tat 2014 das, was von einem Weltmeister erwartet wird, nämlich spielen, spielen, spielen. 39 Partien bestritt er in der gleichen Zeit. Brilliert hat er selten, was dieses Jahr neben dem Aufsteiger Fabiano Caruana aber schwer war. Bei der Olympiade schlug er Caruana zwar, sein Gesamtergebnis war trotzdem enttäuschend, genauso wie seine vorzeitige Abreise für die norwegischen Fans. Die Erstürmung der „magischen“ Schallmauer von 2.900 Elo-Punkten scheint vorerst gestoppt. Carlsens Freestyle wendet sich nun auch häufiger mal gegen ihn, er überstand fast kein Turnier ohne Niederlage.
Es muss sich zeigen, ob Anand etwas aus dem verlorenen Match im Vorjahr gelernt hat, ob er gemerkt hat, dass Carlsen zwar ein genialer Koch ist, aber mit dem gleichen Wasser wie alle kocht. Ob es Anand gelingt, in Carlsens langweiligen Turmendspielen wachsam zu bleiben, aber trotzdem nicht in Panik zu verfallen? Ob es ihm gelingt, in seiner Vorbereitung Systeme zu finden, in denen Carlsen nicht einfach die prinzipielle Auseinandersetzung verweigern kann, sich stellen muss? Dann haben wir die Chance auf ein offenes Match.
Einen Tipp auf Anand mag ich trotzdem nicht riskieren. Ich glaube, dass Carlsen dieses Jahr bislang nur Spaß getrieben und alles für die WM gespart hat, vielleicht sogar etwas Revolutionäres, dass wir es uns noch gar nicht vorstellen können. Etwa eine neue Eröffnung oder eine ganze Matchstrategie oder auch bloß eine Sitzhaltung. Zu erwarten wäre das von ihm.
Meine Prognose: 6,5:4,5 für Magnus Carlsen. (Ilja Schneider)
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Der Ausgang des WM-Kampfs 2014 scheint nach den Erfahrungen im Vorjahr klar zu sein. Warum sollte Anand jetzt plötzlich eine Chance haben gegen den damals überlegenen Carlsen?
Ganz so eindeutig liegen die Dinge diesmal aber nicht. So hatten viele geglaubt, Anand würde sich nach seiner Niederlage gegen Carlsen vom Turnierschach zurückziehen. Doch beim Kandidatenturnier feierte er ein überraschendes Comeback, sicherte sich souverän das Recht auf Revanche.
Carlsen hingegen dominierte die Schachszene als Weltmeister nicht so überzeugend wie in der Zeit vor dem Titel. Zwar wurde er 2014 Weltmeister im Blitz- und im Schnellschach, aber beim Norway-Superchess-Turnier musste er Sergei Karjakin den Vortritt lassen. Beim Sinquefield Cup landete er ganze 3 Punkte hinter Fabiano Caruana und bei der Schacholympiade verlor Carlsen gleich zwei Partien und erzielte mit 6 aus 9 weniger Punkte, als seine Fans erwartet hatten.
Trotzdem sprechen die Zahlen für den 23-jährigen Weltmeister und gegen den 44-jährigen Herausforderer. Vor allem die Elo-Zahl. Carlsen, die Nummer eins der Weltrangliste, hat aktuell 2.863 Punkte, 78 mehr als Anand, mit 2.785 die Nummer sechs der Welt. Im November 2013 hatte Carlsen 2.870 Punkte, Anand 2775.
Auch die Geschichte spricht für Carlsen. Bislang konnte sich noch kein Ex-Weltmeister für einen Rückkampf qualifizieren und den gewinnen. Wenn ein Weltmeister seinen Titel zurückgewann, dann nur im direkten, zuvor vereinbarten Revanchekampf.
Andererseits hat Anand eine erstaunliche Karriere vorzuweisen. 1995 spielte er das erste Mal um den WM-Titel: im World Trade Center gegen Garri Kasparow. Anand verlor, zwölf Jahre später wurde er Weltmeister. Neunzehn Jahre nach seinem ersten WM-Kampf ist Anand jetzt Herausforderer, das hat noch nie jemand vor ihm geschafft.
Aber was bedeuten Zahlen? Entscheiden werden Einstellung und Motivation. Da hat traditionell der Herausforderer Vorteile. Der will Weltmeister werden, der Titelverteidiger will bloß Weltmeister bleiben.
Aber in der Vergangenheit hat Carlsen immer wieder gezeigt, dass er nicht an Erfolge und Rekorde denkt, sondern einfach gerne spielt. Wenn Carlsen das auch dieses Mal gelingt und er vergessen kann, was man als Weltmeister von ihm erwartet, wird er seinen Titel verteidigen.
Meine Prognose: Magnus Carlsen gewinnt 6,5:4,5 und bleibt Weltmeister. (Johannes Fischer)
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Kann es für eine Sensation reichen und der Gewinner Anand heißen? Eins steht schon fest: Das Match wird anderen Gesetzen folgen als der vorige WM-Kampf. Für Anand besteht wesentlich weniger Druck als 2013. Kein heimisches Publikum, das in den Jahren zuvor erfolgreiche Titelverteidigungen erlebt hatte. Keine WM-Krone, die es zu verteidigen gilt. Und Anand kann eine wesentlich bessere Form vorweisen. Zuletzt gewann er das Bilbao Masters Final – und das bereits eine Runde vor Schluss.
Magnus Carlsen hingegen konnte in jüngster Zeit keine Leistungssprünge verzeichnen, musste sich auf großen Turnieren meist mit dem zweiten Platz begnügen. Zum Teil war das Spiel von Carlsen zu kompromisslos, die Gegnerschaft zu gut in Form. Der Weltmeister konnte sie nicht wie gewohnt deklassieren.
Doch was neben der Form während des Kampfs zählt, ist vor allem die Spielstärke, die man abrufen kann. Was das angeht, liegt zwischen altem und neuem Weltmeister weiter mindestens eine Klasse. Dies zeichnete sich auch schon beim vergangenen WM-Kampf ab, obwohl der Sieg Carlsens etwas zu hoch ausfiel. Anand zeigte, dass er streckenweise sehr gutes Schach spielen kann, er hielt über weite Strecken mit.
Damit ist das Problem indirekt benannt. Ohne Frage kann Anand phasenweise annähernd perfekt spielen. Doch wird dies nicht ausreichen. Anand müsste es schaffen, Carlsen unter Druck zu setzen und ihn zu Fehlern zu verleiten. Doch Anands Ansatz, den Gegner mit einer guten Eröffnungsvorbereitung anzuspringen, hat schon 2013 nicht funktioniert. Und wird es auch dieses Mal nicht.
Zu flexibel und unberechenbar ist Carlsens Spiel. Ein Bonus, der gerade in einem Zweikampf einen ungeheuren Vorteil darstellt, spielt doch die monatelange Vorbereitung eine zentrale Rolle. Dazu gesellt sich ein Altersunterschied von mehr als zwanzig Jahren. Carlsen wird auch dieses Mal versuchen, den Kampf über viele Stunden zu führen und seine bessere Fitness auszuspielen.
Es bleibt im Sinne einer spannenden WM zu hoffen, dass Anand ein Mittel gegen die Spielart Carlsens gefunden hat. Und wer weiß, vielleicht geschieht ein kleines Wunder und Anand kann durch einen Fehler Carlsens in Führung gehen? Dann könnte die Weltmeisterschaft zu einem echten Krimi werden. Zu wünschen wäre es, daran glauben tue ich nicht.
Meine Prognose: 7:4 für den alten und neuen Weltmeister Magnus Carlsen. (Dennes Abel)
Melanie Ohme ist eine der bekanntesten deutschen Schachspielerinnen. Sie spielt in der Frauennationalmannschaft und war offizielle Botschafterin der Schacholympiade in Tromsø. Nach dem Abschluss eines Bachelor-Studiums in Psychologie an der Universität von Mannheim macht sie zurzeit in Groningen ihren Master in Psychologie – Schwerpunkt Arbeits- und Organisationsentwicklung. Im Deutschen Schachbund arbeitet sie ehrenamtlich als Referentin für Mädchenschach.
Melanie Ohme beim dritten Frauen- und Mädchenschachkongress in Kassel (Foto: privat)
ZEIT ONLINE: Frau Ohme, vor Kurzem fand in Kassel der dritte Frauen- und Mädchenschachkongress teil. Worum ging es?
Melanie Ohme: Unter anderem um die geringe Quote Schach spielender Mädchen und Frauen. Wir haben auf dem Kongress diskutiert, wie man Mädchen für das Schach gewinnen und beim Schach halten kann. Wir haben untersucht, wie das in anderen Disziplinen aussieht, zum Beispiel der Mathematik. Vereine haben ihre Mädchenschachprojekte vorgestellt, wir haben Stereotype und Rollenbilder analysiert und überlegt, was man im Frauenschach besser machen kann.
ZEIT ONLINE: Ihr Fazit?
Ohme: Ich glaube, die Mischung aus theoretischen Beiträgen und spannenden Diskussionen kam gut an. Im Spielbetrieb gab es dieses Jahr mit dem Erfurter Frauenschachfestival und dem noch anstehenden German Masters der Frauen schon ein gutes Angebot für Schachspielerinnen. Trotzdem gibt es noch viel Verbesserungsbedarf. Ich glaube, dass Mädchen- und Frauenschach auch in den Medien mehr Aufmerksamkeit erhalten sollte, um Mädchen die Angst vor dem männerdominierten Sport zu nehmen. Alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Kongresses waren sich einig: Schach ist ein Sport für Frauen!
ZEIT ONLINE: Sie selbst spielen besser Schach als 99 Prozent aller deutschen Männer. Generell spielen Frauen weniger und schlechter Schach als Männer. Warum?
Ohme: Die Unterschiede in der Spielstärke von Männern und Frauen haben vor allem statistische Gründe. Würden mehr Mädchen Schach spielen, gäbe es bessere Spielerinnen. Aber Mädchen und Frauen, die Schach spielen wollen, müssen mit Vorurteilen kämpfen. Das zeigt sich schon in der Sprache. Schon der Ausdruck „Mädchenschach“ ist mit ängstlichem, passivem und schlechtem Spiel konnotiert. Wenn ein Mädchen Schach spielen will, wird sie im Schachverein oft nicht er-, sondern entmutigt. Irgendwann haben die Mädchen keine Lust mehr und hören auf. Ich war auch lange das einzige Mädchen in meiner Schachgruppe, das war nicht immer lustig. Doch ich habe mich durchgebissen. Und als ich besser wurde als die Jungs, waren sie still.
ZEIT ONLINE: Welche Bedeutung haben klassische Rollenbilder von Mädchen und Jungen, Männern und Frauen?
Ohme: Auf Stereotype und starre Rollenbilder stößt man immer wieder. Studien zeigen, wie sehr Rollenbilder das Verhalten prägen. Man spricht vom „Stereotype Threat“, dem Phänomen, dass sich die Menschen ihren Rollenvorbildern entsprechend verhalten und so Stereotype bestätigen. So hat man Frauen in Studien eine Reihe von Aufgaben vorgelegt – und einmal als Mathetest bezeichnet, einmal anders. Die Fragen waren identisch, doch wenn man den getesteten Frauen gesagt hat, es handele sich um einen Mathetest, haben sie schlechter abgeschnitten. Denn es gibt das Vorurteil, dass Frauen in Mathe schlecht sind. Dieses Rollenmuster haben die Frauen unbewusst reproduziert. Ähnliche Tests wurden auch im Schach durchgeführt. Man hat Frauen gegen Männer spielen lassen, und wenn man sie vorher an den Stereotyp „Frauen können kein Schach spielen“ erinnerte, schnitten sie schlechter ab.
ZEIT ONLINE: Das heißt, die Tatsache, dass Frauen im Moment schlechter und weniger spielen als Männer, hat gesellschaftliche, aber keine biologischen Ursachen?
Ohme: Natürlich gibt es biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber Untersuchungen haben gezeigt, dass die beim Schach wahrscheinlich eine eher untergeordnete Rolle spielen.
ZEIT ONLINE: Nun wird gerne behauptet, Frauen fehle die Aggressivität, die Willensstärke, der Killerinstinkt, den man braucht, um im Schach erfolgreich zu sein.
Ohme: Schaut man sich an, wie die Frauen spielen, so kann man sicher nicht behaupten, sie spielen weniger aggressiv als die Männer. Im Gegenteil. Im Frauenschach wird mehr gekämpft und weniger häufig schnell Remis gemacht als im Männerschach. Vielleicht kommen nur die Frauen mit einer aggressiven Grundeinstellung an die Spitze. Im Breitensport sieht es wohl anders aus. So hört man immer wieder, wie Leute berichten, dass Mädchen dort friedlicher sind. Sie wollen sich nicht wehtun, machen schnell Remis oder sagen, „Wenn ich eine Figur von dir schlage, darfst du auch eine Figur von mir schlagen.“ Sie sehen Schach eher gemeinschaftlich und weniger als Kampf gegeneinander. Was Schach aber nun einmal ist.
ZEIT ONLINE: Spielstärke hin oder her – auf den ersten Blick scheinen für Frauen in der Schachwelt paradiesische Zustände zu herrschen…
Ohme:(lacht) … weil Hunderte von Männern sich um eine Frau reißen? Ja, es stimmt, als Frau hat man weniger Konkurrenz und mittlerweile gibt es in fast jedem Turnier Frauenpreise, um die manchmal nur drei oder vier Frauen kämpfen. Es gibt Männer, die besser spielen als ich, aber ich genieße als Frau einen gewissen Status in der Schachwelt, spiele in der Nationalmannschaft und werde zu attraktiven Turnieren eingeladen. Aber: Auch im Schach verdienen die Männer besser als die Frauen. In der Nationalmannschaft, bei Turnieren und in Mannschaftswettbewerben. Auch in der Berichterstattung herrscht ein Ungleichgewicht. Zwar wird heute viel mehr über Frauenturniere berichtet als früher, aber oft nur mit wenig mehr als mit Fotos schöner Frauen – so als ob bei Frauen das Aussehen, aber nicht die Leistung zählt.
ZEIT ONLINE: Es gibt eigene Turniere für Frauen. Ist das gut?
Ohme: Ja, wegen dieser Ungleichbehandlung ist es okay, wenn Frauen ihre eigenen Nationalmannschaften haben und eigene Turniere spielen. Im Moment müssen Mädchen noch motiviert werden, um Schach zu spielen und Frauen- und Mädchenpreise sorgen für eine solche Motivation. Aber natürlich sind diese Preise eine zweischneidige Sache, denn sie suggerieren zugleich, dass Mädchen eigentlich schlechter spielen.
ZEIT ONLINE: Was ist für Sie das Schöne am Schach?
Ohme: Ich liebe das Flow-Gefühl beim Schach, die Freude, wenn man sich voll und ganz in etwas vertieft. Nebenbei entwickelt man nützliche Eigenschaften wie Konzentrationsfähigkeit, problemorientiertes Denken und die Bereitschaft, nach ungewöhnlichen, kreativen Lösungen zu suchen. Dazu kommt die Wettkampfatmosphäre, die Anspannung, der Siegeswille und die Bereitschaft, sich anzustrengen, um gute Züge zu finden – das ist ein phantastisches Gefühl.
Screenshot: José Raul Capablanca, Schachweltmeister von 1921 bis 1927 in dem Film Schachfieber von 1925
Über einen Mangel an medialer Aufmerksamkeit konnten sich die Organisatoren der Schacholympiade 2014 in Tromsø nicht beklagen. Das norwegische Fernsehen berichtete täglich mehrere Stunden und erreichte dabei regelmäßig Einschaltquoten über 30 Prozent, Schachfans konnten die Partien aus Tromsø live und kommentiert im Internet verfolgen, Spieler und Spielerinnen aus allen Ländern der Welt gaben vor, während und nach den Runden kurze Interviews, die wenig später bei Youtube zu sehen waren.
Schon früher nutzte man moderne Medien, um Schach der Öffentlichkeit zu präsentieren. Nicht immer und nicht oft, aber zum Beispiel in Moskau 1925, dem ersten Schachturnier der Geschichte, das allein mit staatlichen Mitteln finanziert wurde – Ausdruck und Zeichen der staatlich geförderten Schachbegeisterung in der noch jungen Sowjetunion.
In zwanzig Runden traten zehn der besten Spieler der Sowjetunion und elf der besten Spieler der Welt gegeneinander an. Sieger war am Ende überraschend Efim Boguljubow, ein in Russland geborener Meister, der sich zwar nach Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland niedergelassen hatte, aber damals noch offiziell Sowjetbürger war. Platz zwei ging an den Ex-Weltmeister Emanuel Lasker, Platz drei an den amtierenden Weltmeister José Raul Capablanca aus Kuba.
Am Rande des Turniers entstand Schachfieber, ein Stummfilm, in den man Aufnahmen vom Turnier und seiner Teilnehmer hineinmontierte. Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der so vom Schach besessen ist, dass er den Termin seiner Hochzeit vergisst. Seine Verlobte will daraufhin nichts mehr von ihm wissen und irrt voller Kummer durch die Straßen Moskaus. Zufällig trifft sie Weltmeister Capablanca, der sie trösten will und zum Schachturnier einlädt, an dem er teilnimmt. Dort wird auch sie vom Schachfieber gepackt, versöhnt sich mit ihrem Verlobten und einem Happy End steht nichts mehr im Wege. Weltmeister Capablanca spielt sich in diesem Film selber und hat so der Nachwelt ein filmisches Bild seiner Person und seines Auftretens hinterlassen.
Schachfieber war der erste Film, den der sowjetische Regisseur, Schauspieler und Filmtheoretiker Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin (28. Februar 1893 bis 30. Juni 1953), allein inszenierte. 1926, ein Jahr nach Schachfieber drehte Pudowkin den Film Die Mutter, der laut Wikipedia „neben Panzerkreuzer Potemkin von Sergei Eisenstein zu den wichtigsten Filmen der sowjetischen Filmgeschichte“ gehört.
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Schach und moderne Medien 1925: Der Film Schachfieber
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Eine Runde ist bei der Schacholympiade im norwegischen Tromsø noch zu spielen und es deutet sich ein Überraschungssieger an: China hat gute Chancen, den wichtigsten Mannschaftswettbewerb im Schach zu gewinnen. Chinas Männerteam hat noch keinen Wettkampf verloren und führt mit einem Punkt vor Ungarn. Gewinnen die Chinesen in der Schlussrunde am Donnerstag gegen Polen, sind sie sicher Sieger, sogar ein Unentschieden könnte reichen. Es wäre das erste Gold für China beim Open-Wettbewerb der Schacholympiade. Und die Krönung einer Entwicklung, dem Ergebnis des sogenannten Big-Dragon-Plan, der in den siebziger Jahren nach dem Tod von Mao Zedong und mit der allmählichen Öffnung des Landes begann. Weiterlesen…