Viswanathan Anand: Bei der WM im vergangenen Jahr gewann Anand keine einzige Partie, verlor krachend gegen Magnus Carlsen. Etliche Experten rieten dem Inder nach dieser Niederlage zum Rücktritt. Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik, der 2008 in Bonn gegen Anand um den Titel gespielt hatte, war anderer Meinung. Er ermunterte den Freund und Rivalen zur Teilnahme am Kandidatenturnier. Ein guter Rat: Anand gewann souverän, Kramnik wurde Dritter. Deshalb durfte Anand im November 2014 noch einmal gegen Carlsen um den WM-Titel spielen. Dieses Mal als Herausforderer. Er verlor zwar wieder, aber wesentlich knapper (und unglücklicher) als vorher.
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Einmal schien Magnus Carlsen ein Nickerchen zu halten. Einmal, nachdem sein WM-Gegner Viswanathan Anand einen gewinnbringenden Zug übersehen hatte, ließ er seinen Kopf auf die Arme fallen und lag halb auf dem Schachtisch. Bei einem anderen Turnier fläzte er sich in seinem Sessel, als säße er zu Hause im Wohnzimmer. Fehlte nur noch, dass er die Füße auf den Tisch legte. Darf Magnus Carlsen das? Was ist mit der Etikette, die im Schach, dem Spiel der Könige, eine nicht unwichtige Rolle spielt?
Was bleibt von dieser Schach-WM, was waren die Knackpunkte und ist Magnus Carlsen eigentlich ein Flegel? Wir haben unsere drei Schachblogger und den ZEIT-Redakteur Uli Stock, der für uns aus Sotschi berichtet hat, zum Gespräch gebeten.
Frage: Meine Herren, ist Magnus Carlsen ein würdiger Weltmeister?
Johannes Fischer: Ja, ist er. Carlsen spielt fantastisches Schach, beherrscht alle Facetten des Spiels, ist kampfstark, dominiert seine Gegner. Und er war während der Schach-WM einfach der bessere Spieler.
Dennes Abel: Carlsen ist seit vier, fünf Jahren der beste Spieler der Welt. Auch diesen Wettkampf hat er dominiert, es hätte auch noch deutlicher ausgehen können. Er hat eine Partie verloren, weil er sich etwas getraut hat. In den anderen Partien, die Remis ausgegangen sind, war er am Drücker, die hätte Anand auch verlieren können.
Ulrich Stock: Da würde ich widersprechen. Carlsen hat konstant gut gespielt, aber er hat sich nicht viele Chancen auf zusätzliche Siege erarbeitet. Die Schwächen lagen bei Anand, der hätte vieles besser machen können, vor allem in der letzten Partie. Und man muss sich nur vorstellen, was passiert wäre, wenn Anand Carlsens Fehler in der sechsten Partie ausgenutzt hätte. Da wäre es ganz anderer Kampf geworden.
Frage: Also hat nicht Carlsen die WM gewonnen, sondern Anand sie verloren?
Fischer: So weit würde ich nicht gehen. Anand war besser als im vergangenen Jahr, es war ein sehr guter Wettkampf auf sehr hohem Niveau.
Stock: Ich möchte den Erfolg von Carlsen nicht schmälern. Er hat unglaublich konstant gespielt, das ist ja auch eines seiner Markenzeichen. Anand hat diesen Kampf psychologisch verloren. Er hat in der sechsten Partie einen Gewinnzug, den ich als Vereinsspieler sehen würde, übersehen. Und in der elften Partie hat er sich, ich sag das mal etwas grob, aus dem Nichts heraus mit Schwarz eine vielversprechende Stellung erarbeitet und danach alles weggeschmissen.
Frage: Warum?
Stock: Ihm haben die Nerven versagt, so hat er das später beschrieben. Anand sagte, Carlsen habe die besseren Nerven gehabt, und das würde ich auch so sehen. Das finde ich erstaunlich. Wenn sich bei diesem großen Altersunterschied der Ältere auf etwas berufen kann, dann doch auf Erfahrung, auf Coolness. Erstaunlicherweise ist es eher umgekehrt gelaufen. Anand hat die Nerven verloren und Carlsen hat es durchgezogen.
Ilja Schneider: Carlsens große Stärken sind die Nerven und seine Endspieltechnik. Anand hat sich auf die Endspiele sehr gut vorbereitet. Da hat er sich viel weniger quälen lassen als im Jahr zuvor.
Stock: Dafür hat Carlsen in der Vorbereitung enorm aufgeholt. Es gab mehrere Partien, in denen Carlsen mit Theorievarianten kam. Das war neu und überraschend.
Frage: Wir erinnern uns alle noch an diesen Doppelfehler in der sechsten Partie. Fehler, die Ihr in diesem Moment vielleicht alle nicht gemacht hättet. Wie ist so etwas zu erklären?
Abel: Ich kann es mir nur so herleiten: Carlsen war am Drücker und Anand musste aufpassen, diese Partie nicht zu verlieren. Und dann passiert so ein Zug, Anand übersieht ihn, weil er nicht darauf gefasst ist, mit einem Zug auf einmal die Partie umdrehen zu können, weil er gerade noch mit dem Rücken zur Wand stand. Das passiert auf diesem Niveau sehr selten, aber es passiert. Es war der Moment der WM. Und er hat gezeigt, dass die beiden auch nur Menschen sind.
Fischer: Ich finde das ein bisschen ungerecht. Heutzutage laufen überall Computer mit, alles wird live kommentiert. Die Computer sind so stark, dass man als Zuschauer sofort die Fehler sieht. Wenn man sich die WM-Kämpfe der Vergangenheit mit dieser Technik angucken würde, würde man auf ganz ähnliche Böcke stoßen.
Stock: Aber was für eine Tragik! Sich monatelang vorzubereiten, alles dafür zu tun, in diesem Match zu bestehen und dann ist die Chance da. Und dann sieht er es nicht. Das ist krass. In der elften Partie war es noch schlimmer, weil er in dem Moment, in dem er das Heft in der Hand hat, alles mit einem Zug wegschmeißt.
Schneider: Da bin ich mir nicht so sicher. Was du als Wegschmeißen bezeichnest, ist der Turmzug nach b4. Das ist das erste, was ich an dieser Stelle gedacht hätte. Es hat sich zehn Züge später herausgestellt, dass der Zug nicht der beste war. In dem Moment aber war es nachvollziehbar. Das war für mich kein großer Fehler.
Fischer: Der Turmzug nach b4 war mit der Brechstange gespielt, und das ist ein Zeichen, dass Anand die Nerven versagt haben. Warum spielt er in der für ihn entscheidenden Partie einen riskanten Zug ohne klare Kompensation? Was mich aber mehr verblüfft hat: Dass Anand nach dem Fehler in der sechsten Partie, von dem jeder Schachspieler weiß, dass er einen noch tagelang verfolgen kann, es dann in der siebten Partie geschafft hat, diese enorm schwierige Stellung 120 Züge lang zu verteidigen. Das fand ich richtig stark. Der Mann hat Kampfgeist!
Stock: Und Anand hat die Computer schlecht aussehen lassen. In der siebten Partie opferte er einen Läufer gegen zwei Bauern. Den Zug hatte kein Computer angezeigt. Nachdem Anand ihn ausgeführt hatte, beurteilten die Rechner seine Stellung als verloren. Er hielt die Partie ohne Probleme unentschieden. In der elften Partie zeigten die Computer völligen Ausgleich an, als die Stellung am schärfsten war. Da hatten beide Spieler eine Komplexität aufs Brett gebracht, in denen die allwissenden Schachprogramme ratlos wirkten.
Frage: Carlsen saß wieder sehr lässig am Brett, einmal sah es so aus, als würde er gleich einschlafen. Ist Carlsen ein Flegel?
Abel: Ich unterstelle ihm keine böse Absicht. Carlsen versinkt in diesen Momenten in seiner Welt. Da nimmt er eben das Bein hoch oder legt den Kopf auf den Tisch. Es ist seine Art, in dem Spiel aufzugehen. Das wird natürlich von der Außenwelt ganz anders aufgenommen. Im Nachhinein wird er das sicher bemerken. Ich weiß nicht, ob man ihn dafür kritisieren soll. Ich glaube, Carlsen ist eben so.
Frage: Johannes, wie sitzt du am Brett?
Fischer: Wie sitze ich am Brett? Keine Ahnung. Ich kann verstehen, was Dennes sagt, weil ich selbst gar nicht weiß, wie ich am Brett sitze. Und wenn ich mich selbst beobachten würde, würde ich auch sagen, benehme ich mich nicht immer so, wie es sich gehört. Mir hat mal jemand gesagt: Ich gucke sehr finster und schneide Grimassen. Ich habe das gar nicht wahrgenommen.
Frage: Ulrich, du hast Carlsen vor Ort erlebt. Wie ist er denn so?
Stock: Während dieser zwei Partien, in denen er quasi am Brett schlief, hatte ich den Eindruck, dass es ihm nicht gut ging. Die flapsige Vermutung am Ort war: Die Sekundanten haben ihn einfach früh aus dem Bett geholt, um mit ihm Theorievarianten zu bimsen, damit er Anand in der Eröffnung mal was entgegensetzen kann. Carlsen schläft ja immer bis Mittag. Später wurde er dann ja auch krank. Er hat die letzte Partie mit dickem Hals gespielt. Sein Verhalten finde ich authentisch. Der ist so. Das macht es seiner Umgebung schwerer, aber ihm vielleicht einfacher. Anand ist eher jemand, der verbindlich und freundlich ist. Das mag man nicht immer sein. Manchmal ist es schwierig freundlich zu sein.
Frage: Aber Carlsen scheint zugänglicher geworden zu sein?
Stock: Ja, im vergangenen Jahr hat man ihn nach der letzten Partie tagelang nicht gesehen. Er hing immer mit den Norwegern ab und die Journalisten guckten in die Röhre. Das war in diesem Jahr anders. Er gab Interviews unmittelbar nach der Partie. Und zum Schluss hat er alle eingeladen zu Champagner und norwegischem Buffet. Das war sehr nett. Ein Frage, die zu Diskussionen führte, stellte sich bei der Siegerehrung. Wladimir Putin, einer der mächtigsten Männer der Welt, war extra angereist und Carlsen erwähnte ihn mit keiner Silbe in seiner Dankesrede. Ist das unhöflich? Oder politisch korrekt? Ich weiß es nicht. Sein Vater sagte mir hinterher, es sei in Norwegen völlig unüblich einem Politiker zu danken. Wofür sollte man Putin auch danken?
Schneider: Ich finde, Carlsen hat sich flegelhaft verhalten, zumindest teilweise. Nach dem Doppelfehler in der sechsten Partie hat er mit seinem Verhalten dem Gegner direkt ins Gesicht gesagt: Du Idiot, du hättest meinen Bauern schlagen können. Er hat das nicht gesagt, aber er hat den Zug eine Minute lang nicht aufgeschrieben, er hat seine Arme auf den Tisch gelegt, seinen Kopf darauf und etwa eine halbe Minute in dieser Position verharrt. Er hat mit jedem Muskel seines Körpers dem Gegner zu verstehen gegeben, dass der gerade eine richtige Dummheit begangen hat.
Stock: Ich deute sein Verhalten ganz anders. Er hat gemerkt, dass er einen Riesenbock geschossen hat und dass er großes Glück hatte.
Schneider: Die Außenwirkung war katastrophal.
Stock: Ich glaube, mit Außenwirkung war er in dem Moment nicht beschäftigt. Da unterstellst du ihm eine sehr, sehr starke Berechnung. Ich glaube, ihn hat in dem Moment die Coolness einfach verlassen.
Frage: Was bleibt von dieser Schach-WM? Hat sie die Schachwelt verändert?
Fischer: Ich glaube, sie läutet das Ende einer Ära ein. Die Generation Kramnik, Anand, Gelfand wird nicht mehr um eine Weltmeisterschaft spielen. Die junge Generation kommt ans Ruder. Auch in der Präsentation hat diese WM Maßstäbe gesetzt. Was da alles im Internet passierte, war schon stark.
Frage: Ulrich, Du warst am Ort. Wie wurde der Wettkampf in Sotschi selbst angenommen? Gab es da Schachfieber?
Stock: Nein, das war für mich ein Minuspunkt dieser WM. Man hat sich entschieden, dass das Publikum da draußen in der Welt an den Bildschirmen wichtig ist. Die Zuschauer am Ort waren den Veranstaltern egal. Für mich als Journalist ist es besser, wenn Leute da sind. Es gibt Diskussionen, Ansätze für Geschichten. Die wenigen Zuschauer, die da waren, waren alle tief beeindruckt. Da ließe sich bei einer nächsten WM mehr machen.
Frage: Wer wird der nächste Herausforderer?
Abel: Für mich kommen zwei Spieler in Betracht. Fabiano Caruana, der Spieler, mit dem Carlsen oft Probleme hat. Er muss sich natürlich erstmal qualifizieren, aber er ist eine Spur besser als alle anderen. Ein anderer Kandidat wäre Lewon Aronjan, bei dem es aber immer auf die Form ankommt.
Fischer: Caruana ist der Topkandidat, das sehe ich auch so. Aber der Kreis der Leute, die in Betracht kommen, ist ziemlich groß: Alexander Grischuk, Lewon Aronjan, Hikaru Nakamura, Sergej Karjakin oder sogar Anish Giri.
Schneider: Ich sehe auch Caruana als Favoriten. Aber das ist alles sehr schwierig zu sagen. Es ist wahrscheinlicher, dass es Caruana nicht wird, als dass er es wird, weil es so viele andere gibt, die auch gutes Schach spielen.
Stock: Herausforderer wird der, der sich qualifiziert. Diese Vorherseherei geht mir ein bisschen auf den Keks. Das funktioniert so nicht. Wer waren denn die letzten Herausforderer? Mit Anand hat niemand gerechnet, wirklich niemand. Davor war es Gelfand.
Schneider: Dazwischen war es Carlsen.
Stock: Der die Qualifikation um Haaresbreite geschafft hat. Wir sollten bedenken: Es geht bei der WM nicht darum, wer gerade auf Platz eins, zwei oder drei der Weltrangliste steht, sondern um ein Duell Mann gegen Mann über Wochen, das seit 1886 Tradition hat. Das folgt anderen Gesetzen als der tägliche Turnierbetrieb.
Am Samstag beginnt im russischen Sotschi der WM-Kampf im Schach. Es treten an: der Weltmeister Magnus Carlsen und der Herausforderer Viswanathan Anand. Ende ist voraussichtlich am 28. November. Nachdem der Inder Anand seinen Titel 2013 im heimischen Chennai mit 3,5:6,5 deutlich an Carlsen abgeben musste, qualifizierte er sich überraschend durch einen starken Auftritt beim Kandidatenturnier in Chanty-Mansisk für einen Rückkampf. Wer wird diesmal gewinnen? Unsere drei Experten wagen eine Prognose.
Im Vergleich mit Chennai sind die Rollen vertauscht: Carlsen empfängt als Weltmeister seinen Herausforderer Anand. Es ist kein klassischer Rückkampf, wie er in den 1950er und 1960er Jahren üblich war, als jeder Verlierer ein automatisches Recht zu einer Revanche besaß. Anand musste sich im Qualifikationsturnier von Khanty-Mansijsk durchsetzen und er tat es bravourös, zumal seine Hauptkonkurrenten Kramnik und Aronian indisponiert agierten.
Danach machte sich Anand rar und zog sich ins Trainingslager zurück, seit März spielte er sechs gewertete Partien. Niemand kann einschätzen, wie gut er in Form ist. Seine Niederlage beim Schnellschachturnier auf Korsika gegen den Durchschnittsgroßmeister Sergey Fedorchuk von Mitte Oktober kann höchstens als ein schlechtes Omen gewertet werden, ein Gradmesser ist sie nicht.
Und Carlsen? Er tat 2014 das, was von einem Weltmeister erwartet wird, nämlich spielen, spielen, spielen. 39 Partien bestritt er in der gleichen Zeit. Brilliert hat er selten, was dieses Jahr neben dem Aufsteiger Fabiano Caruana aber schwer war. Bei der Olympiade schlug er Caruana zwar, sein Gesamtergebnis war trotzdem enttäuschend, genauso wie seine vorzeitige Abreise für die norwegischen Fans. Die Erstürmung der „magischen“ Schallmauer von 2.900 Elo-Punkten scheint vorerst gestoppt. Carlsens Freestyle wendet sich nun auch häufiger mal gegen ihn, er überstand fast kein Turnier ohne Niederlage.
Es muss sich zeigen, ob Anand etwas aus dem verlorenen Match im Vorjahr gelernt hat, ob er gemerkt hat, dass Carlsen zwar ein genialer Koch ist, aber mit dem gleichen Wasser wie alle kocht. Ob es Anand gelingt, in Carlsens langweiligen Turmendspielen wachsam zu bleiben, aber trotzdem nicht in Panik zu verfallen? Ob es ihm gelingt, in seiner Vorbereitung Systeme zu finden, in denen Carlsen nicht einfach die prinzipielle Auseinandersetzung verweigern kann, sich stellen muss? Dann haben wir die Chance auf ein offenes Match.
Einen Tipp auf Anand mag ich trotzdem nicht riskieren. Ich glaube, dass Carlsen dieses Jahr bislang nur Spaß getrieben und alles für die WM gespart hat, vielleicht sogar etwas Revolutionäres, dass wir es uns noch gar nicht vorstellen können. Etwa eine neue Eröffnung oder eine ganze Matchstrategie oder auch bloß eine Sitzhaltung. Zu erwarten wäre das von ihm.
Meine Prognose: 6,5:4,5 für Magnus Carlsen. (Ilja Schneider)
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Der Ausgang des WM-Kampfs 2014 scheint nach den Erfahrungen im Vorjahr klar zu sein. Warum sollte Anand jetzt plötzlich eine Chance haben gegen den damals überlegenen Carlsen?
Ganz so eindeutig liegen die Dinge diesmal aber nicht. So hatten viele geglaubt, Anand würde sich nach seiner Niederlage gegen Carlsen vom Turnierschach zurückziehen. Doch beim Kandidatenturnier feierte er ein überraschendes Comeback, sicherte sich souverän das Recht auf Revanche.
Carlsen hingegen dominierte die Schachszene als Weltmeister nicht so überzeugend wie in der Zeit vor dem Titel. Zwar wurde er 2014 Weltmeister im Blitz- und im Schnellschach, aber beim Norway-Superchess-Turnier musste er Sergei Karjakin den Vortritt lassen. Beim Sinquefield Cup landete er ganze 3 Punkte hinter Fabiano Caruana und bei der Schacholympiade verlor Carlsen gleich zwei Partien und erzielte mit 6 aus 9 weniger Punkte, als seine Fans erwartet hatten.
Trotzdem sprechen die Zahlen für den 23-jährigen Weltmeister und gegen den 44-jährigen Herausforderer. Vor allem die Elo-Zahl. Carlsen, die Nummer eins der Weltrangliste, hat aktuell 2.863 Punkte, 78 mehr als Anand, mit 2.785 die Nummer sechs der Welt. Im November 2013 hatte Carlsen 2.870 Punkte, Anand 2775.
Auch die Geschichte spricht für Carlsen. Bislang konnte sich noch kein Ex-Weltmeister für einen Rückkampf qualifizieren und den gewinnen. Wenn ein Weltmeister seinen Titel zurückgewann, dann nur im direkten, zuvor vereinbarten Revanchekampf.
Andererseits hat Anand eine erstaunliche Karriere vorzuweisen. 1995 spielte er das erste Mal um den WM-Titel: im World Trade Center gegen Garri Kasparow. Anand verlor, zwölf Jahre später wurde er Weltmeister. Neunzehn Jahre nach seinem ersten WM-Kampf ist Anand jetzt Herausforderer, das hat noch nie jemand vor ihm geschafft.
Aber was bedeuten Zahlen? Entscheiden werden Einstellung und Motivation. Da hat traditionell der Herausforderer Vorteile. Der will Weltmeister werden, der Titelverteidiger will bloß Weltmeister bleiben.
Aber in der Vergangenheit hat Carlsen immer wieder gezeigt, dass er nicht an Erfolge und Rekorde denkt, sondern einfach gerne spielt. Wenn Carlsen das auch dieses Mal gelingt und er vergessen kann, was man als Weltmeister von ihm erwartet, wird er seinen Titel verteidigen.
Meine Prognose: Magnus Carlsen gewinnt 6,5:4,5 und bleibt Weltmeister. (Johannes Fischer)
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Kann es für eine Sensation reichen und der Gewinner Anand heißen? Eins steht schon fest: Das Match wird anderen Gesetzen folgen als der vorige WM-Kampf. Für Anand besteht wesentlich weniger Druck als 2013. Kein heimisches Publikum, das in den Jahren zuvor erfolgreiche Titelverteidigungen erlebt hatte. Keine WM-Krone, die es zu verteidigen gilt. Und Anand kann eine wesentlich bessere Form vorweisen. Zuletzt gewann er das Bilbao Masters Final – und das bereits eine Runde vor Schluss.
Magnus Carlsen hingegen konnte in jüngster Zeit keine Leistungssprünge verzeichnen, musste sich auf großen Turnieren meist mit dem zweiten Platz begnügen. Zum Teil war das Spiel von Carlsen zu kompromisslos, die Gegnerschaft zu gut in Form. Der Weltmeister konnte sie nicht wie gewohnt deklassieren.
Doch was neben der Form während des Kampfs zählt, ist vor allem die Spielstärke, die man abrufen kann. Was das angeht, liegt zwischen altem und neuem Weltmeister weiter mindestens eine Klasse. Dies zeichnete sich auch schon beim vergangenen WM-Kampf ab, obwohl der Sieg Carlsens etwas zu hoch ausfiel. Anand zeigte, dass er streckenweise sehr gutes Schach spielen kann, er hielt über weite Strecken mit.
Damit ist das Problem indirekt benannt. Ohne Frage kann Anand phasenweise annähernd perfekt spielen. Doch wird dies nicht ausreichen. Anand müsste es schaffen, Carlsen unter Druck zu setzen und ihn zu Fehlern zu verleiten. Doch Anands Ansatz, den Gegner mit einer guten Eröffnungsvorbereitung anzuspringen, hat schon 2013 nicht funktioniert. Und wird es auch dieses Mal nicht.
Zu flexibel und unberechenbar ist Carlsens Spiel. Ein Bonus, der gerade in einem Zweikampf einen ungeheuren Vorteil darstellt, spielt doch die monatelange Vorbereitung eine zentrale Rolle. Dazu gesellt sich ein Altersunterschied von mehr als zwanzig Jahren. Carlsen wird auch dieses Mal versuchen, den Kampf über viele Stunden zu führen und seine bessere Fitness auszuspielen.
Es bleibt im Sinne einer spannenden WM zu hoffen, dass Anand ein Mittel gegen die Spielart Carlsens gefunden hat. Und wer weiß, vielleicht geschieht ein kleines Wunder und Anand kann durch einen Fehler Carlsens in Führung gehen? Dann könnte die Weltmeisterschaft zu einem echten Krimi werden. Zu wünschen wäre es, daran glauben tue ich nicht.
Meine Prognose: 7:4 für den alten und neuen Weltmeister Magnus Carlsen. (Dennes Abel)
Die Schach-Bundesliga, außerhalb der Schachszene weiß so gut wie niemand von ihrer Existenz. Selbst viele Schachspieler kennen die Liga nicht und noch weniger interessieren sich für sie. Kein Wunder: Es spielen dort zwar 16 Mannschaften, aber einen echten Kampf um die Meisterschaft gibt es nicht. Der Titel geht seit 2006 jährlich an die OSG Baden-Baden. Einen echten Abstiegskampf gibt es auch nicht, die Mannschaften machen größtenteils unter sich aus, wer im nächsten Jahr noch antritt oder nicht, das hat meist finanzielle Gründe.
Teilweise stehen regionale Sponsoren wie Sparkassen oder mittelständische Betriebe hinter den Teams und stellen die Spielorte und etwas Kapital. In anderen Fällen kommt der Saisonetat fast oder vollständig von Privatpersonen. Der Verbleib einer solchen Mannschaft in der Bundesliga hängt direkt vom Willen der Mäzene ab, das Engagement weiter fortzusetzen. Rückzüge trotz sportlichem Erfolg sowie das Nicht-Aufsteigenwollen aus der zweiten Bundesliga gehören zum jährlichen Erscheinungsbild.
Bevor die neue Bundesliga-Runde am kommenden Freitag beginnt, haben wir acht Verbesserungsvorschläge zusammengetragen. Nach dem Motto: Unsere Schach-Bundesliga soll schöner werden.
1. Weniger Mannschaften
Streng genommen existieren in Deutschland keine 16 Vereine, die finanziell, organisatorisch und sportlich eine Teilnahme in der ersten Liga stemmen können. Eine Reduktion der Liga auf 12 Mannschaften würde für mehr Stabilität, ausgeglichenere Kader und mehr sportlichen Wettkampf sorgen. Für den Abstiegskampf einer solchen neuartigen Liga wäre das einsichtig, hinsichtlich des Titelrennens dürfte man bei der Dominanz der OSG Baden-Baden weiterhin skeptisch sein. Immerhin stiege bei einer solchen Reform der Elo-Durchschnitt der Spieler und die Qualität der Partien, während insgesamt weniger Spiele stattfänden. Der größte Nachteil einer solchen Reform: Viele kleinere Vereine, die ab und zu mal einige Jahre Bundesliga spielen, könnten dieses Abenteuer ihren Spielern und Fans nun gar nicht mehr bieten. Die Liga wäre noch weniger durchmischt als jetzt.
2. Eine Quote
Aktuell ist etwa nur jeder zweite Bundesligaspieler Deutscher, wobei diese Statistik durch Jugendspieler, die nur pro forma im Kader stehen, noch aufgehübscht wird. Unter den besten acht Spielern jedes Teams ist nur einer von vieren Deutscher. Das schafft nicht gerade ein großes Identifikationsgefühl. Eine Inländerquote, dass also so und so viele Spieler aus dem eigenen Land kommen müssen, gibt es aktuell in vielen anderen Ländern, früher gab es sie auch in Deutschland. Denkbar sind verschiedene Modelle wie etwa eine Begrenzung der Anzahl ausländischer Spieler im Kader oder bei den Spielaufstellungen. So wünschenswert die Einführung einer solchen Quote zwecks Förderung einheimischer Jugendspieler auch erscheinen mag, so sehr gäbe es auch Probleme. Bei zu vielen deutschen Spielern könnte das Spielniveau leiden. Außerdem wäre eine solche Regel schlicht diskriminierend, vor allem gegenüber ausländischen Spielern, die schon lange in Deutschland leben.
3. Zentrale Spielorte
In den vergangenen Jahren gab es in jeder Saison ein langes Wochenende, an denen sich alle 16 Mannschaften an einem Spielort trafen, die sogenannte Zentralrunde. Die Präsentation der Spiele und die Zuschauerresonanz waren in allen Fällen hervorragend. Es gab Simultanveranstaltungen bekannter Schachgrößen, Livekommentierungen, Blitzturniere für Zuschauer und Betreuung für Kinder. Daher würden es viele gern sehen, wenn es solche Events öfters gäbe. Das Problem: Nur wenige Vereine haben genug Geld und Know-how, so etwas auf die Beine zu stellen.
4. Weniger Spieler
Vor einigen Jahren durften die Schachclubs ihre Kader vergrößern, von 14 auf 16 Spieler. Dadurch sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass viele Profis durch den engen Turnierkalender sowie Ligaeinsätze in anderen Ländern (Ja, im Schach darf jedermann in beliebig vielen Ligen gemeldet sein und spielen!) ausgelastet seien und es immer schwerer falle, für ein Wochenende eine Mannschaft zusammenzustellen. In Wirklichkeit aber missbrauchen einige Verantwortliche aus dem Ligamittelfeld diese Regelung, indem sie gegen Baden-Baden und einige andere mit ihrer B-Elf antreten, gegen Abstiegskandidaten aber mehr oder weniger die ersten Acht spielen lassen. Eine Rückkehr zu einem Kader von 14 Spielern oder sogar eine weitere Verkürzung auf 13 würde die Verantwortlichen und die Profis zu mehr Disziplin anmahnen und die oben skizzierte Wettbewerbsverzerrung verhindern.
5. Entzerrung der Spieltage
Die Saison dauert von Oktober bis April, wird aber an nur sieben Wochenenden gespielt. Warum nicht die Spieltage entzerren, sodass an jedem Wochenende gespielt werden würde? Zuschauer hätten so die Möglichkeit, häufiger als nur sieben Mal im Jahr Erstliga-Partien zu besuchen und auch die Zuschauer im Internet müssten nicht, wie jetzt, 128 Partien auf einmal durchklicken und verarbeiten. Berichterstatter könnten gründlicher und besser berichten. Ein großer Nachteil ist eine ständig „schiefe“ Tabelle, die die Liga begleitet, sowie eine höhere Manipulationsgefahr. Die letzten zwei Spieltage sollten deshalb weiterhin gleichzeitig ausgetragen werden.
6. Comeback der Zeitnotphasen
Heutzutage wird so gut wie überall, auch in der Bundesliga, mit sogenanntem Inkrement gespielt, sodass Spieler für jeden ausgeführten Zug noch extra Bedenkzeit erhalten. Dadurch entfallen leider die bis vor einigen Jahren noch üblichen Zeitnotphasen, bei denen die Spieler etwa noch 30 Sekunden für 10 Züge zur Verfügung hatten und beiderseitig wild auf der Schachuhr herumhackten. Jeder Zuschauer wünscht sich diese Verhältnisse sofort wieder zurück. Wie oft kam es vor, dass David in extremer Zeitnot noch Goliath zu Boden strecken konnte. Das ist aber auch der Grund, warum die Verantwortlichen in der Bundesliga niemals mehr für eine Rückkehr zu den Zeitnotphasen stimmen werden: Wer Geld bezahlt, will die Varianz möglichst klein halten.
7. Frühzeitige Bekanntgabe der Paarungen
Die genauen Mannschaftsaufstellungen werden erst eine halbe Stunde vor den Matches veröffentlicht. Zugegeben, für einen normalen Zuschauer macht es kaum einen Unterschied ob die Schachfreunde Berlin mit einem Ilja Schneider oder einem Dennes Abel antreten, aber viele wüssten durchaus gerne, ob sich Mühe und Zeit lohnen, in die Nachbarstadt zu fahren, um dort einem seltenen Gast wie Vishy Anand oder Lewon Aronjan über die Schulter zu gucken. Ein paar Jahre lang gab es darum genau ein solches Agreement, dass bei Spielen mit Beteiligung von Baden-Baden die Aufstellungen schon am Donnerstag vor dem Match bekannt gegeben wurden. Anschließend verweigerte die Mehrheit der Liga diesem Abkommen die weitere Zustimmung. Ob nun stärkere oder schwächere Spieler davon profitieren, dass sie sich (nicht) auf den genauen Gegner vorbereiten können, ist unklar. Argumente gibt es für beide Seiten. In jedem Fall ist aber der Zuschauer der Verlierer in der aktuellen Situation.
8. Sanktionen für (häufigen) Nichtaufstieg oder Rückzug
Rückzüge aus dem Spielbetrieb sind für Zuschauer und für andere Beteiligte ein großes Ärgernis. Nichts untergräbt die Glaubwürdigkeit einer Liga so stark wie ein Abstiegskampf, bei dem sich am Ende herausstellt, dass er letztendlich keiner war, weil auch abgestiegene Mannschaften den Platz in der Liga am grünen Tisch behalten dürfen. Daher böte es sich an, über Möglichkeiten von Sanktionen gegenüber Vereinen nachzudenken, die sich aus der Schachbundesliga zurückziehen oder als Sieger einer der zweiten Ligen (mehrfach) nicht ihr Aufstiegsrecht wahrnehmen. Wünschenswert wäre etwa im letzten Fall ein Zwangsabstieg aus der zweiten Liga nach mehrfachem Aufstiegsverzicht. Eine solche Regelung wäre jedoch juristisch nur schwer durchsetzbar und unterläge einer massiven Manipulationsgefahr.
Während einer Partie musste ich etwas länger über einen meiner nächsten Züge nachdenken. Als ich hinauf schaute, stand er plötzlich da und starrte auch auf mein Brett: Viswanathan Anand, der Ex-Weltmeister, der vielleicht bald Wieder-Weltmeister. Ich war mir meines nächsten Zuges relativ sicher, traute mich aber nicht den Zug auszuführen, während Anand noch selber über meine Stellung nachdachte. Zu peinlich wäre es vor einem der besten Schachspieler der Gegenwart gewesen, etwas zu übersehen. Erst als der Inder wieder zu seinem eigenen Brett eilte, traute ich mich meinen Zug auszuführen.
So ist das wenn ich als Normalsterblicher plötzlich in der Champions League das Schachs antrete. In der Königsklasse, dem European Chess Club Cup (ECC). Teams aus ganz Europa treffen sich jedes Jahr, um den Besten auszuspielen. Auch mein Verein, die Schachfreunde Berlin, schickte dieses Jahr eine Mannschaft nach Bilbao. Für mich war es, im Gegensatz zu den meisten meiner Mannschaftskollegen, eine Premiere. Auf mich wartete so ziemlich alles, was im Schach Rang und Namen hat. Von der Top Ten fehlte lediglich der Weltmeister Magnus Carlsen. Der Rest ließ sich von den Teams aus Russland, Aserbaidschan oder Italien verpflichten oder spielte im parallel ausgetragenen Chess Masters Final. Ich war jedenfalls hoch motiviert.
Meine Euphorie erlitt jedoch bereits am Gepäckband am Flughafen von Bilbao einen Dämpfer. Mein Koffer war weg. Zum Glück erblickte ich die schwedische Weltklassespielerin Pia Cramling, die ebenfalls nach ihrem Koffer suchte. Ich erinnerte mich, dass sie mit dem spanischen Großmeister Juan Manuel Bellón López verheiratet ist und erhoffte mir durch ihre Sprachkenntnisse entscheidende Informationen zu erlangen. Meine Strategie ging auf. Mithilfe von Cramlings Spanisch erfuhr ich, dass mein Koffer noch in Brüssel feststeckte, während sich ihrer nur zwei Laufbänder weiter verirrte.
In einem Shoppingcenter musste ich mich mit neuer Kleidung und Waschutensilien eindecken. Aber dann wurde endlich Schach gespielt. Meine Kollegen und ich freuten uns auf die Auslosung der ersten Runde. Zumindest da hatten wir die Chance gegen die absolute Weltelite anzutreten. Und tatsächlich bekamen wir mit SHSM Nashe Nasledie, einer Mannschaft aus Moskau, die Nummer sechs der Startrangliste zugelost. Vom Papier hätte ich gegen den russischen Superstar Alexander Morozevich, derzeit Nummer 23 der Welt spielen können. Doch der russische Mannschaftsführer hielt es nicht für notwendig, in Bestbesetzung gegen unser Team anzutreten. Zu Recht. So bekam ich es in der ersten Runde lediglich mit dem Russen Boris Grachev zu tun, derzeit Nummer 73 der Welt.
Zu meiner Motivation trug sicherlich auch der Spielort bei, der Palacio Euskalduna. Rolltreppen verbinden die verschiedenen Ebenen, Glasfronten erlauben Blicke auf den nahegelegen Fluss Nervión, ein Champions-League-würdiger Spielsaal also. Und dann noch die ganzen Topspieler, die man aus dem Internet oder von Zeitschriften her kennt. Alles Königsklassenfeeling half am Ende jedoch nichts. Grachev und der Rest der russischen Mannschaft zeigten deutlich, dass Russland im Schach immer noch eine Macht ist. Wir verloren verdient mit 1,5-4,5. Wenigstens war mein Koffer wieder da.
Das Schönste: die Partien der Weltelite live anschauen zu können. Spielern wie dem ehemaligen Weltmeister Veselin Topalov, Viswanathan Anand oder dem aktuellen Überflieger und der Nummer zwei der Welt Fabiano Caruana, der nicht einmal vor einem Monat das beste Schachergebnis aller Zeiten erzielte, im Wortsinn bei der Arbeit über die Schulter schauen zu können, ist schon etwas Besonderes.
Dass auch das Zuschauen gefährlich werden kann, war jedoch auch mir neu. Beim entschiedenen Kampf zwischen den beiden Favoriten SOCAR Azerbaijan und Obiettivo Risarcimento in der 5. Runde lief beim Stand von 2,5 zu 2,5 die letzte Partie. Es zeichnete sich ein Sieg der azerischen Mannschaft ab, jedoch musste Veselin Topalov noch sehr präzise spielen, um den vollen Punkt und damit den Mannschaftssieg einzufahren. Sein Gegner an Brett 2, der Amerikaner Hikaru Nakamura wehrte sich bis aufs Letzte und ließ jedes Mal, nachdem er seinen Zug ausgeführt hatte, seine Hand auf die Schachuhr hämmern. Bei immer weniger Zeit war die Anspannung förmlich zu spüren.
Auf einmal war ein leises Knipsen einer Kamera zu hören. Die Akteure selbst haben höchstwahrscheinlich bei der ganzen Anspannung nichts davon mitbekommen. Mir und vor allem dem spanischen Schiedsrichter hingegen war das leise Geräusch aufgefallen. Mit wilden Gesten machte der Unparteiische dem bekannten Schachjournalisten deutlich, dass er sofort den Turnierbereich verlassen müsse. Nachdem dieser sich weigerte und lediglich drauf verwies, dass er zumindest das Knipsen einstellen werde, griff der Schiedsrichter kurzerhand nach dem Presseausweis der um den Hals des Mannes baumelte und zerrte ihn nach unten. Glücklicherweise gab das Plastik nach, der Ausweis trennte sich vom Halsband, niemand wurde erdrosselt. Der Schiedsrichter zog sich an seinen Platz zurück, der Fotograf ließ das Knipsen sein, obwohl der Vorfall mehr Aufregung erregte als das Knipsen an sich.
Das restliche Turnier verlief für mich und meine Mannschaft durchwachsen. Nach einem guten Start folgten zu viele Niederlagen in den Schlussrunden. Ein kleiner Trost: Zwischendrin konnten wir uns auch ein Spiel der anderen Champions League, der Fußball-Champions-League anschauen, dafür war das Stadion von Athletic Bilbao nahe genug an unserem Hotel, etwa 15 Meter Luftlinie. Jedoch, das darf ich bei aller Bescheidenheit sagen: Unsere Partien auf dem Schachbrett waren weitaus spannender als Bilbaos Spiel gegen Schachtar Donezk.
Melanie Ohme ist eine der bekanntesten deutschen Schachspielerinnen. Sie spielt in der Frauennationalmannschaft und war offizielle Botschafterin der Schacholympiade in Tromsø. Nach dem Abschluss eines Bachelor-Studiums in Psychologie an der Universität von Mannheim macht sie zurzeit in Groningen ihren Master in Psychologie – Schwerpunkt Arbeits- und Organisationsentwicklung. Im Deutschen Schachbund arbeitet sie ehrenamtlich als Referentin für Mädchenschach.
Melanie Ohme beim dritten Frauen- und Mädchenschachkongress in Kassel (Foto: privat)
ZEIT ONLINE: Frau Ohme, vor Kurzem fand in Kassel der dritte Frauen- und Mädchenschachkongress teil. Worum ging es?
Melanie Ohme: Unter anderem um die geringe Quote Schach spielender Mädchen und Frauen. Wir haben auf dem Kongress diskutiert, wie man Mädchen für das Schach gewinnen und beim Schach halten kann. Wir haben untersucht, wie das in anderen Disziplinen aussieht, zum Beispiel der Mathematik. Vereine haben ihre Mädchenschachprojekte vorgestellt, wir haben Stereotype und Rollenbilder analysiert und überlegt, was man im Frauenschach besser machen kann.
ZEIT ONLINE: Ihr Fazit?
Ohme: Ich glaube, die Mischung aus theoretischen Beiträgen und spannenden Diskussionen kam gut an. Im Spielbetrieb gab es dieses Jahr mit dem Erfurter Frauenschachfestival und dem noch anstehenden German Masters der Frauen schon ein gutes Angebot für Schachspielerinnen. Trotzdem gibt es noch viel Verbesserungsbedarf. Ich glaube, dass Mädchen- und Frauenschach auch in den Medien mehr Aufmerksamkeit erhalten sollte, um Mädchen die Angst vor dem männerdominierten Sport zu nehmen. Alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Kongresses waren sich einig: Schach ist ein Sport für Frauen!
ZEIT ONLINE: Sie selbst spielen besser Schach als 99 Prozent aller deutschen Männer. Generell spielen Frauen weniger und schlechter Schach als Männer. Warum?
Ohme: Die Unterschiede in der Spielstärke von Männern und Frauen haben vor allem statistische Gründe. Würden mehr Mädchen Schach spielen, gäbe es bessere Spielerinnen. Aber Mädchen und Frauen, die Schach spielen wollen, müssen mit Vorurteilen kämpfen. Das zeigt sich schon in der Sprache. Schon der Ausdruck „Mädchenschach“ ist mit ängstlichem, passivem und schlechtem Spiel konnotiert. Wenn ein Mädchen Schach spielen will, wird sie im Schachverein oft nicht er-, sondern entmutigt. Irgendwann haben die Mädchen keine Lust mehr und hören auf. Ich war auch lange das einzige Mädchen in meiner Schachgruppe, das war nicht immer lustig. Doch ich habe mich durchgebissen. Und als ich besser wurde als die Jungs, waren sie still.
ZEIT ONLINE: Welche Bedeutung haben klassische Rollenbilder von Mädchen und Jungen, Männern und Frauen?
Ohme: Auf Stereotype und starre Rollenbilder stößt man immer wieder. Studien zeigen, wie sehr Rollenbilder das Verhalten prägen. Man spricht vom „Stereotype Threat“, dem Phänomen, dass sich die Menschen ihren Rollenvorbildern entsprechend verhalten und so Stereotype bestätigen. So hat man Frauen in Studien eine Reihe von Aufgaben vorgelegt – und einmal als Mathetest bezeichnet, einmal anders. Die Fragen waren identisch, doch wenn man den getesteten Frauen gesagt hat, es handele sich um einen Mathetest, haben sie schlechter abgeschnitten. Denn es gibt das Vorurteil, dass Frauen in Mathe schlecht sind. Dieses Rollenmuster haben die Frauen unbewusst reproduziert. Ähnliche Tests wurden auch im Schach durchgeführt. Man hat Frauen gegen Männer spielen lassen, und wenn man sie vorher an den Stereotyp „Frauen können kein Schach spielen“ erinnerte, schnitten sie schlechter ab.
ZEIT ONLINE: Das heißt, die Tatsache, dass Frauen im Moment schlechter und weniger spielen als Männer, hat gesellschaftliche, aber keine biologischen Ursachen?
Ohme: Natürlich gibt es biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber Untersuchungen haben gezeigt, dass die beim Schach wahrscheinlich eine eher untergeordnete Rolle spielen.
ZEIT ONLINE: Nun wird gerne behauptet, Frauen fehle die Aggressivität, die Willensstärke, der Killerinstinkt, den man braucht, um im Schach erfolgreich zu sein.
Ohme: Schaut man sich an, wie die Frauen spielen, so kann man sicher nicht behaupten, sie spielen weniger aggressiv als die Männer. Im Gegenteil. Im Frauenschach wird mehr gekämpft und weniger häufig schnell Remis gemacht als im Männerschach. Vielleicht kommen nur die Frauen mit einer aggressiven Grundeinstellung an die Spitze. Im Breitensport sieht es wohl anders aus. So hört man immer wieder, wie Leute berichten, dass Mädchen dort friedlicher sind. Sie wollen sich nicht wehtun, machen schnell Remis oder sagen, „Wenn ich eine Figur von dir schlage, darfst du auch eine Figur von mir schlagen.“ Sie sehen Schach eher gemeinschaftlich und weniger als Kampf gegeneinander. Was Schach aber nun einmal ist.
ZEIT ONLINE: Spielstärke hin oder her – auf den ersten Blick scheinen für Frauen in der Schachwelt paradiesische Zustände zu herrschen…
Ohme:(lacht) … weil Hunderte von Männern sich um eine Frau reißen? Ja, es stimmt, als Frau hat man weniger Konkurrenz und mittlerweile gibt es in fast jedem Turnier Frauenpreise, um die manchmal nur drei oder vier Frauen kämpfen. Es gibt Männer, die besser spielen als ich, aber ich genieße als Frau einen gewissen Status in der Schachwelt, spiele in der Nationalmannschaft und werde zu attraktiven Turnieren eingeladen. Aber: Auch im Schach verdienen die Männer besser als die Frauen. In der Nationalmannschaft, bei Turnieren und in Mannschaftswettbewerben. Auch in der Berichterstattung herrscht ein Ungleichgewicht. Zwar wird heute viel mehr über Frauenturniere berichtet als früher, aber oft nur mit wenig mehr als mit Fotos schöner Frauen – so als ob bei Frauen das Aussehen, aber nicht die Leistung zählt.
ZEIT ONLINE: Es gibt eigene Turniere für Frauen. Ist das gut?
Ohme: Ja, wegen dieser Ungleichbehandlung ist es okay, wenn Frauen ihre eigenen Nationalmannschaften haben und eigene Turniere spielen. Im Moment müssen Mädchen noch motiviert werden, um Schach zu spielen und Frauen- und Mädchenpreise sorgen für eine solche Motivation. Aber natürlich sind diese Preise eine zweischneidige Sache, denn sie suggerieren zugleich, dass Mädchen eigentlich schlechter spielen.
ZEIT ONLINE: Was ist für Sie das Schöne am Schach?
Ohme: Ich liebe das Flow-Gefühl beim Schach, die Freude, wenn man sich voll und ganz in etwas vertieft. Nebenbei entwickelt man nützliche Eigenschaften wie Konzentrationsfähigkeit, problemorientiertes Denken und die Bereitschaft, nach ungewöhnlichen, kreativen Lösungen zu suchen. Dazu kommt die Wettkampfatmosphäre, die Anspannung, der Siegeswille und die Bereitschaft, sich anzustrengen, um gute Züge zu finden – das ist ein phantastisches Gefühl.
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Hektischen Schrittes kommt er ans Brett herangeeilt. Die Hand (oder ist es der kleine Finger?) hält er seinem verdutzten Gegner für gerade mal den Bruchteil einer Sekunde hin, eines Blickes würdigt er ihn schon gar nicht. Sowieso interessiert er sich für alles, aber nur nicht für seinen Gegenüber.
Eine Schachparodie wie diese ist bei uns undenkbar, dafür sind die deutschen Schachspieler zu unbekannt, einfach nicht parodierbar. Für Magnus Carlsen und das Schach ist diese Nummer des norwegischen Komikers Haakon Lange quasi ein Ritterschlag. Und ganz nebenbei gelingt dem eine durchaus realistische Darstellung einer typischen „Schachprofi vs. Blutiger Amateur – Konstellation“, wie sie über auf der Welt in den ersten Runden von offenen Turnieren vorkommt. Die Mimik, achten Sie auf die Mimik!
Fabiano Caruana ist kein Mann der großen Worte. Ob er nun einen Hype um seine Person erwartet, nach dieser Leistung? Ja, der werde sich wohl kaum verhindern lassen, aber er wolle einfach weiter versuchen, normales Schach zu spielen wie bisher. Ein Match gegen den Weltmeister Carlsen? Noch ein weiter Weg bis dahin, er sähe Carlsen weiterhin als die Nummer eins, in einzelnen Partien könne er aber gut mit ihm mithalten.
Caruana sitzt gerade, die Hände gefaltet, er mustert beim Reden eher den Boden als den Moderator. Fast könnte man meinen, er schäme sich dafür, plötzlich so viel Aufmerksamkeit zu erregen. Nur sein Lächeln verrät ab und zu, dass er sehr stolz darauf sein muss, was er in den letzten Tagen vollbracht hat beim Sinquefield Cup in St. Louis.
Dafür, was der Italiener als „normales Schach“ bezeichnet, sind den Experten die Superlative ausgegangen. Ganze 8,5 Punkte aus 10 Partien erzielte Caruana bei seinem Sieg im nominell stärksten Turnier der Schachgeschichte, was einer bisher nie erreichten Performance von über 3.100 Elo entspricht. Das kann man sich so vorstellen: Ein Spieler mit 3.100 Elo hätte selbst gegen einen Magnus Carlsen in Normalform (2.870 Elo) eine Gewinnerwartung von etwa 8:2, gegen die Mitglieder dieser Schachblog-Redaktion etwa 99:1. Seine Siegesserie in den Runden 1 bis 7 steht in einer Reihe mit dem Sturmlauf des jungen Bobby Fischer, der auf dem Weg zu seinem WM-Titel 1972 sogar 21 Partien in Folge gewann oder mit dem WM-Turnier 2005 im argentinischen San Luis (!), wo Wesselin Topalow nach einem Start mit 6,5 aus 7 Punkten den Titel so gut wie sicher hatte.
Doch auch die Art und Weise, wie dieser Erfolg zustande kam, ist bemerkenswert. Immer öfter wurde zuletzt im Spitzenschach – Magnus Carlsen allen voran – eine Abkehr von prinzipiellen Eröffnungsvarianten zugunsten weniger erforschter Spielanfänge wie der englischen Eröffnung (1.c4) beobachtet. Die Großmeister sind es leid, immer wieder feststellen zu müssen, dass der Gegner die Vorbereitung genauso gut erledigt hat wie man selbst. Caruana und sein Trainer Wladimir Tschutschelow folgen diesem Trend nicht.
Sie scheuen von Beginn an keine scharfen Duelle, bereiten sich aber besser vor als die anderen, sitzen oft tagelang an einer kritischen Stellung. Tschutschelow hat schon einige Weltklassespieler trainiert, ihm eilt als Starcoach der Ruf voraus, dass er Ideen aufspüren kann, die nicht einmal von gegnerischen Computern berücksichtigt werden.
In St. Louis bekam Caruana in fast jeder Partie die Gelegenheit, eine dieser Neuerungen anzubringen. Dies brachte ihm 35 Elo-Punkte und einen klaren zweiten Platz in der Weltrangliste ein. Den Dritten Levon Aronjan, dem in den USA wenig bis gar nichts gelang, distanzierte Caruana bereits weiter, als er noch vom führenden Magnus Carlsen entfernt ist.
Stilistisch gesehen wäre ein Match zwischen den beiden höchst interessant. Bei der kürzlich beendeten Schacholympiade in Tromsø besiegte der Norweger Caruana noch in seinem typischen Stil, indem er sich hinten reinstellte und den anderthalb Jahre jüngeren Italiener nach vorne stürmen ließ, um im Endspiel dessen schwache Bauern einzusammeln. In St. Louis musste Carlsen nach zwei missglückten Partieanlagen bereits über ein 0,5:1,5 froh sein.
Nach ganz anderen Mustern verliefen die Partien der beiden im aserbaidschanischen Shamkir im Frühjahr, wo der Vergleich 1:1 endete. Es gibt Gründe zur Annahme, dass ein Match zwischen diesen Gegnern nicht in den Versuchen gegenseitiger Neutralisierung ersticken würde, wie es über große Strecken bei bei der vergangenen WM zwischen Carlsen und Anand der Fall war.
Doch so sehr sich die Schachliebhaber über eine solche WM freuen würden, sie liegt noch in weiter Ferne. Abgesehen davon, dass Carlsen seinen Titel zunächst noch im kommenden November verteidigen muss (wozu er sich nun erfreulicherweise bereit erklärt hat), ist die nächste WM erst für das Jahr 2016 ausgeschrieben. Bis dahin wird Caruana sich damit begnügen müssen, sein Spiel bei Einladungsturnieren weiter zu perfektionieren und die leichten Schwächen in Zeitnot abzuarbeiten.
Einen zählbaren Schritt Richtung Weltmeistertitel hat er in St.Louis aber wohl schon getan. Da ein Teil der Plätze beim nächsten Kandidatenturnier wieder über die Platzierung in der Weltrangliste vergeben wird, ist ihm eine Teilnahme bereits jetzt so gut wie sicher. Auch wenn Caruana niemals zugeben würde, dass er sich jetzt schon darüber Gedanken macht – man kann sich sicher sein, er freut sich drauf.
Es soll das Schachhighlight 2014 werden. Die diesjährige Schachweltmeisterschaft findet vom 7. bis 28. November im olympischen Sotschi statt. Die Schachwelt kann die Neuauflage des WM-Matches 2013 zwischen dem Ex-Weltmeister Viswanathan Anand und dem amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen kaum erwarten. Sie rechnet mit einem engen Kampf. Anand ließ in letzter Zeit wieder seine alte Klasse aufblitzen und qualifizierte sich verdient beim diesjährigen Kandidatenturnier für den WM-Kampf.
Soweit die Theorie. Doch es ist unklar, ob sich Anand und Carlsen tatsächlich in zwei Monaten miteinander messen. Die Frist für die Vertragsunterzeichnung zwischen beiden Spielern und dem Weltschachbund FIDE endete offiziell am 31. August. Der Herausforderer Anand hat den Vertrag unterschrieben, der Weltmeister Carlsen hat seine Unterschrift verweigert. Lediglich durch das Eingreifen Emil Sutovskys, des Präsidenten der ACO (Association of Chess Professionals), konnte die Frist bis zu diesem Sonntag verlängert werden. Ob die Parteien sich einigen, wird bezweifelt. Zu groß erscheinen die Differenzen zwischen Weltmeister und Weltverband. Wird Carlsen Sotschi boykottieren?
Der Streit dreht sich um Geld, um Zeit. Nachdem die FIDE den Preisfond im Vergleich zum vorigen WM-Kampf halbiert hat, muss sich das Team Carlsen nach anderen Einnahmequellen umsehen. Bei einer Weltmeisterschaft geht es auch um Vermarktung, insbesondere um Fernsehrechte. Im Gegensatz zum Rest der Welt ist in Norwegen Schach massenmedientauglich geworden. Jede einzelne WM-Partie soll live im TV zu sehen sein, Carlsen ist nicht nur Weltmeister, sondern auch Nationalheld. Damit sich jedoch mit der Marke Carlsen Geld verdienen lässt, braucht es Zeit, um mit den Verantwortlichen des norwegischen Fernsehens zu verhandeln. Zeit, die verloren gegangen ist, weil die FIDE es nicht geschafft hatte, rechtzeitig einen Austragungsort für die Weltmeisterschaft zu finden. Nachdem die Bewerbungsfristen fruchtlos abgelaufen waren, musste der Präsident der FIDE Kirsan Iljumschinow Ergebnisse liefern. Mit Hilfe seines Ziehvaters konnte er im Juni Sotschi als Austragungsort präsentieren. Der Name seines Ziehvaters: Wladimir Putin.
Das war Espen Agdestein, Carlsens Manager, zu knapp. Er fragte die FIDE, ob sie die WM verschieben könne. Doch Iljumschinow hält es mit Anfragen aus dem Westen wie sein Vertrauter aus dem Kreml: Er schmetterte sie ab. Und verwies auf den engen Zeitplan der FIDE. Dies ist zwar legitim, schließlich besteht auch eine vertragliche Verpflichtung gegenüber dem Team Anand, das auf die Einhaltung des Termins vertrauen darf. Doch warum sucht der Verband nicht nach einer gemeinsamen Lösung?
Was auf dem Spiel steht, lehrt ein Blick in die Schachgeschichte: 1993 hatte sich der damalige Weltmeister Garri Kasparow zusammen mit seinem Herausforderer Nigel Short von der FIDE gelöst und eine eigene Organisation gegründet. In der Folge wurden die WM-Kämpfe parallel ausgetragen. Erst 2006 kam es zum Vereinigungsmatch zwischen Wladimir Kramnik und Weltmeister Wesselin Topalow. Diese 13 Jahre der Spaltung zwischen Weltmeister und Weltverband haben der Schachwelt geschadet, sie standen im Widerspruch zum Credo der FIDE: „gens una sumus“ („Wir sind ein Volk“).
Verzichtet Carlsen auf die Weltmeisterschaft, so würde nach den Statuten automatisch der Zweitplatzierte des Kandidatenturniers nachrücken. Es handelt sich um den 24-jährigen Sergey Karjakin, der in Semferopol, der Hauptstadt der Krim, aufgewachsen ist. Die russische Staatsbürgerschaft besitzt er seit 2009. Karjakin ließ bereits verkünden, dass er das Angebot annehmen werde. Sicher wäre ein WM-Kampf für den jüngsten Großmeister aller Zeiten ein früher Höhepunkt seiner Karriere. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass der Sieger des Matches eine große Akzeptanz in der Schachwelt erfahren würde. Weder Karjakin noch Anand gehören aktuell zu den Top 3 der Weltelite. Der Sieger würde als Weltmeister zweiter Klasse in die Geschichte eingehen. Ein Etikett, mit dem von 1993 bis 2006 viele Weltmeister leben mussten, waren doch häufig die besten Spieler nicht an dem WM-Zyklus beteiligt.
Riskiert Magnus Carlsen wirklich seinen WM-Titel? Oder unterwirft er sich in letzter Sekunde dem Angebot, dem Diktat der FIDE? Die FIDE würde ihr Aushängeschild verlieren. Ohne Carlsen, den man auch außerhalb der Schachszene kennt, würde die WM erheblich an Attraktivität einbüßen. Auch der Herausforderer Anand wird gegen Ende seiner Karriere den Kampf gegen die Nummer 1 der Welt einem Match gegen den farblosen Russen vorziehen. Bis Sonntag muss sich der Weltmeister entscheiden.