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Bundesbildungsministerin Annette Schavan will einen Bildungsrat schaffen – Interessante Rede zum 125. Geburtstag des Salem-Gründers Kurt Hahn

Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) tritt für die Schaffung eines „Bildungsrats“ ein, eines Expertengremiums, das – analog zum schon bestehenden Wissenschaftsrat – der Politik Ratschläge zur Entwicklung des Bildungswesens erteilt. In einer Rede zum 125. Geburtstag Kurt Hahns, des Mitgründers des Internats Schloss Salem, sagte sie wörtlich: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die wichtigste Reform in unserem Bildungssystem die curriculare Reform ist. Sie betrifft die Bildungspläne ebenso, wie die Gestaltung überzeugender Lernumgebungen. Sie braucht die Erfahrung von Praktikern ebenso wie wissenschaftliche Expertise. Deshalb halte ich – anlog zum Wissenschaftsrat – die Einrichtung eines Bildungsrates für richtig, der Stellungnahmen und Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Bildungssystems zur Verfügung stellt. Im Wissenschaftssystem haben wir hiermit gute Erfahrungen gemacht. Die Stellungnahmen und Empfehlungen des Wissenschaftsrates haben die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems deutlich voran gebracht.“

Im Folgenden sei der ganze – sehr interessante – Festvortrag der Ministerin vom 12. Juni 2011 dokumentiert. Genauer: Das Manuskript des Vortrags; gültig ist selbstverständlich das gesprochene Wort.


Festvortrag der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Prof. Dr. Annette Schavan, zum 125. Geburtstag Kurt Hahns

Vom Staatsbürger zum Weltbürger – das Erbe Kurt Hahns

und die Erziehung für das 21. Jahrhundert

I.

Kurt Hahn verbindet mit Pädagogen zu allen Zeiten das Leiden an der Wirklichkeit. Die Geschichte pädagogischer Ideen ist auch die Geschichte des Leidens an der Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen.

Die Klage über allgemeine pädagogische Verwahrlosung in einer für Erziehung und Bildung unsensiblen Gesellschaft durchzieht die Geschichte der pädagogischen Aufbrüche. Eine neue stringente pädagogische Kultur zu schaffen, gilt als Weg der Erneuerung, zumindest aber als Möglichkeit, die weitere Verwahrlosung auf zu halten.

Kurt Hahn formuliert das 1958 so: „Der Verfall, der die junge Generation in der freien Welt bedroht ist im Fortschreiten, aber er ist aufzuhalten.“1 Er macht die Hast des modernen Lebens verantwortlich für den Niedergang von Werten, Grundhaltungen und öffentlichem Gewissen.

Kurt Hahn verbindet mit vielen Pädagogen, zumal den Vertretern der Reformpädagogik am Beginn des 20. Jahrhunderts, der Optimismus über die Jugend. „Es gibt keinen kostbareren Schatz einer Nation als die Menschenkraft ihrer Jugend.“2

Die schwedische Schriftstellerin und Lehrerin Ellen Key hat mit dem Titel ihres Buches „Das Jahrhundert des Kindes“ die Ouvertüre für die Pädagogik des 20. Jahrhunderts geliefert. Das Buch war ein Welterfolg und erschien 1926 bereits in der 36. Auflage. Das war wohl nur möglich, weil dieser Titel das pädagogische Selbstbewusstsein ihrer Zeit traf.

Die Welt um die Jahrhundertwende war verunsichert. Auf dem Weg in die säkulare Industriegesellschaft lebten die Menschen unter dem Eindruck, die bisher vertraute Gesellschaftsform zu verlassen und in eine neue, bislang unbekannte Lebenswelt einzutreten.

Andreas Flitner beschreibt die pädagogische Hoffnung der damaligen Zeit so: „Mit den Kindern und Jugendlichen lässt sich ein neuer Anfang machen. Eine Veränderung durch Erziehung scheint möglich.“3

Kurt Hahn teilt mit anderen Pädagogen die Skepsis gegenüber dem Staat und der Staatsschule. „Schöpferische Pionierarbeit zu leisten ist dem Staat nicht gegeben.“4 Aus dieser Einschätzung heraus bietet er die Bereitschaft der Landerziehungsheime an, „ihre Hebammendienste zur Verfügung zu stellen, um der revolutionären Reform, die wir fordern, bei ihrer schweren Geburt beizustehen.“5 Die Staatsschule kann nach seinem Verständnis nicht leisten, was notwendig ist, um die Jugend von den von ihm diagnostizierten Einflüssen allgemeiner Verwahrlosung zu schützen. Eltern seien überfordert, weil beruflich zu sehr in Anspruch genommen. Der Staat brauche gute Beispiele, die die Landerziehungsheime sein könnten, um das öffentliche Bildungssystem grundlegend zu verändern.

Kurt Hahn will Pionier sein. Landerziehungsheime sollen „ein kleiner Staat“ sein, in dem Lehrer, Forscher, Erzieher, Handwerker und andere Fachleute arbeiten. Eine kleine Welt in der großen Welt, die die Jugend fordert und fördert, ihre besten Seiten und Potenziale zu entfalten.

Kompromisse waren ihm fremd. Sein Modell der Schule lebte von der Geschlossenheit und strikten Unterscheidung von der sie umgebenden Gesellschaft. Einflüsse waren unerwünscht, Mit-Erzieher ebenso und vermutlich war dann doch auch das Landerziehungsheim überschätzt.

Kurt Hahn hat viel geleistet. Er gehört zu den pädagogischen Pionieren des 20. Jahrhunderts. Es war dann aber für ihn schwer zu verkraften, dass die eigenen pädagogischen Ideen an Grenzen stoßen.

Die Aufbruchsstimmung am Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit Erziehung und Bildung verbunden war, fand eine jähe Zäsur nach den beiden Weltkriegen und dem damit verbundenen Zusammenbruch der Gesellschaft und ihrer Bildungsideale. Pädagogisches Denken geriet in eine tiefe Krise. Bildung schien ein Relikt vergangener Tage gewesen zu sein. Bereits Mitte der 1960er Jahre begann in Westdeutschland eine grundsätzliche Kritik am Bildungsdenken, verbunden mit dem Vorwurf, dahinter stehe im Anschluss an Wilhelm von Humboldt ein idealistisches Konzept. Hermann Giesecke schreibt in seiner „Einführung in die Pädagogik“: „Der ursprüngliche Bildungsbegriff (kann) in seiner damals umfassenden Bedeutung heute nicht mehr zur Zielvorstellung des pädagogischen Handels und Denkens gemacht werden. Dafür haben sich die Lebensverhältnisse zu sehr verändert.“6 In der Bildungsdiskussion Ende der 1960er Jahre wurden andere Begriffe eingeführt, vor allem der Begriff „Lernen“, der ein Oberbegriff aller pädagogischen Bemühungen sein sollte. Die Pädagogisierung der Bildung war perfekt. Empirische Lernforschung und Lernpsychologie sollten helfen, Klarheit im Konkreten zu schaffen. Ziel waren Prozesse der Sozialisierung junger Menschen, nicht mehr Bildung – ein Begriff, der unter Ideologieverdacht stand.

Hinsichtlich der Erziehung war die Verunsicherung nicht minder tiefgreifend. Erfahrungen von Machtmissbrauch, die im damaligen Generationenkonflikt thematisiert wurden, ließen Erziehung eher als einen Akt der Fremdbestimmung erscheinen.

Die Stimmung im pädagogischen Milieu sank auf einen Tiefpunkt. Wilhelm Flitner schrieb 1979 einen Aufsatz mit der rhetorischen Titelfrage: „Ist Erziehung erlaubt?“7 Er legt dar, dass erzieherische Hilfe den Heranwachsenden gegenüber unentbehrlich sei und die Spannung zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung im pädagogischen Raum durch die Wahl der rechten Methode gelöst werden müsse.

Die beschriebene Auseinandersetzung in der wissenschaftlichen Pädagogik, die sich seit her als Erziehungswissenschaft bezeichnet, ist nicht ohne Rückwirkung auf das Selbstverständnis der Bildungspolitik geblieben. In dieser Zeit war Wilhelm Hahn Kultus- und Wissenschaftsminister in Baden-Württemberg. Er fand Anerkennung als großer Reformer und hielt 1974 in seinem Tagebuch fest, dass „die Bildungsreform durch ihre Verzerrung ins technokratische und ideologische ihren Kulminationspunkt überschritten“ habe. Er, der mit seiner Person für eine kraftvolle Gestaltung der bisherigen Reformepoche im Bildungswesen stand, befürchtete nun, dass Pädagogik zu sehr von technokratischen Konzepten und „planerischen Idealentwürfen auf dem Reißbrett bestimmt und zu wenig am Kind orientiert sei. Sein persönliches Anliegen zu einer am Kind orientierten Pädagogik beschrieb er mit dem Brecht-Zitat: „Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft.“8

Manche erinnern sich daran, dass er danach eine bundesweite Initiative „Mut zur Erziehung“ startete. Wer diese Zeit gut kennt, erinnert sich auch daran, dass Wilhelm Hahn damit in große Auseinandersetzungen geriet.

Die bildungspolitischen Debatten in den folgenden Jahrzehnten waren von heftigen Auseinandersetzungen über Schulstrukturen geprägt, immer waren es auch Finanzdebatten angesichts zunehmender Schülerzahlen, selten solche über Bildungsinhalte und Bildungsziele.

II.

Wie ein Paukenschlag wirkt im Jahr 2001 die öffentliche Präsentation der ersten Pisa-Studie. Ich war damals Präsidentin der Kultusministerkonferenz und erinnere mich noch gut an die große Aufregung, die die Ergebnisse dieser Studie auslöste. Im internationalen Vergleich waren die Schulen in Deutschland längst nicht so gut, wie allgemein angenommen. Die Skepsis gegenüber den Begriffen Bildung und Erziehung waren zwar überwunden, jetzt aber trat an die Stelle eine neue Skepsis gegenüber dem öffentlichen Bildungssystem. Hans Maier berichtet in seiner Autobiografie „Gute Jahr. Böse Jahre“, dass er bereits in den 70er Jahren von Bernd Vogel als junger Kultusminister in seiner ersten Sitzung der Kultusministerkonferenz begrüßt wurde mit dem Satz: „Willkommen im Klub der Prügelknaben der Nation.“ Der Ruf der Kultusminister war nie gut. Immer wurden sie verantwortlich gemacht für Defizite im öffentlichen Bildungssystem. Das war jetzt nicht anders. Mancher Kultusminister geriet massiv unter Druck. Die Kultusministerkonferenz bemühte sich um einen umfassenden Plan zur Stärkung der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems. Die im Jahre 2009 vorgelegte Pisa-Studie zeigte deutliche Verbesserungen. Kritik am Bildungssystem, an mangelnder Bildungsgerechtigkeit, am Föderalismus, an einer unzureichenden Finanzierung des Bildungssystems aber hält an. Es ist den Ländern nach der Föderalismusreform nicht gelungen, wirklich gesamtstaatliche Verantwortung wahrzunehmen. Die Unterscheide zwischen den Ländern sind eher größer geworden. Das gilt vor allem für die Organisation des Bildungssystems und der Lehrerbildung, aber auch im Vergleich der Lernniveaus angesichts vereinbarter Bildungsstandards für alle Länder.

Das erste Jahrzehnt im 21. Jahrhundert ist in der Bildungspolitik in Deutschland ein Jahrzehnt umfassender Schulreformen gewesen. Aber anders als vor 100 Jahren fehlt der Optimismus im Blick auf die Wirkungen von Erziehung. Wer würde schon heute angesichts von wiederum tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen sagen: „Eine Veränderung der Welt durch Erziehung scheint möglich.“

Wenn wir vom Erbe Kurt Hahns sprechen, dann ähnelt die Stimmung wohl eher seiner damaligen Einschätzung, dass es nicht gelingt, der Jugend die pädagogische Begleitung zu geben, die notwendig ist, damit sie ihre Persönlichkeit entwickeln und ihre Fähigkeiten entfalten kann. Die Stimmung ist am ehesten geprägt von schlechtem Gewissen und manchmal auch von dem Eindruck, dass Bildungspolitik sich verzettelt.

Hat das möglicherweise auch damit zu tun, dass in allem Reformeifer so wenig über die Inhalte von Bildung und die Ziele von Erziehung gesprochen wird?

Sind unsere Bildungspläne auf der Höhe der Zeit?

Ist die Art, wie wir lehren und lernen im 21. Jahrhundert angekommen?

Haben wir schon realisiert, dass die Jugend von heute junge Europäer sind, deren Bildungshorizont über nationale Grenzen hinaus reichen sollte?

Vor den Antworten auf solche und andere Fragen steht die kulturtheoretisch wie bildungstheoretisch unterschätzte Bedeutung des Generationenverhältnisses. Bildung und Erziehung sind Ausdruck des Interesses der Generationen aneinander. Friedrich Schleiermacher spricht darüber in seinen Vorlesungen aus dem Jahre 1826: „Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf die jüngere, sie ist umso unvollkommener je weniger bewusst wird, was man tut und warum man es tut. Es muss also eine Theorie geben, die von dem Verhältnis der älteren Generationen zur jüngeren ausgehend sich die Frage stellt: Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, wie das Resultat der Tätigkeit entsprechen? Auf dieser Grundlage des Verhältnisses der älteren zur jüngeren Generation, was der einen in Beziehung zur anderen obliegt, bauen wir alles, was in das Gebiet dieser Theorie fällt.“9 Als Ausgangspunkt pädagogischer Praxis und Reflektion steht für Schleiermacher das ernsthafte Interesse der Generationen an einander, der Wille, mit einander zu ringen und sich zu verständigen. Bildung und Erziehung sind Teil eines geistigen Generationenvertrages, der der jeweils nächsten Generation Kultur erschließt.

Wo das ernst genommen wird, kann über Bildung und Erziehung nicht allein im Kontext von Institutionen gesprochen werden. Das gilt einmal mehr in der Welt des 21. Jahrhunderts, in der die Informationsquelle und Kommunikationsplattform schlechthin das digitale Netz ist, auf das manche Kinder bereits Zugriff vor dem ersten Schultag haben.

Interesse der Generationen an einander gewinnt zusätzlich an Bedeutung für Bildung und Erziehung angesichts der Erkenntnisse der Hirnforscher, wonach Bindungsfähigkeit eine Voraussetzung für die Bildungsfähigkeit ist. Vor jeder Schulreform steht also die Erwartung an die Erwachsenengeneration, sich darüber zu vergewissern, welches die Inhalte und Ziele von Erziehung und Bildung sind, die Kultur erschließen und vermeiden, dass sich eine junge Generation wie Fremdlinge in der eigenen Kultur bewegen. Auch die raschere Abfolge von Generationen ändert daran nichts. Und entlässt die ältere Generation nicht aus der Pflicht, Verbindliches zu vermitteln gerade dann, wenn die vorherrschende Zeitsignatur die sich beschleunigende Veränderung ist. Erziehung gewinnt gerade dann immer mehr an Bedeutung Verbindlichkeit an die Stelle von Beliebigkeit zu setzen – Verbindlichkeit der Beziehungen und Werte. So entstehen Vertrauen und Verlässlichkeit als Grundelemente im pädagogischen Milieu.

Erziehung und Bildung im 21. Jahrhundert sollte sich also nicht zuvorderst mit der Schaffung pädagogischer Sonderwelten beschäftigen, die sich durch eine möglichst strikte Trennung von den übrigen Lebenswelten definieren. Die Angst von äußeren Einflüssen und Mit-Erziehern ist müßig. Sie sind immer präsent. Sie sind Teil der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. Wenn wir über Bildung und Erziehung sprechen, dann meinen wir auch am Beginn des 21. Jahrhunderts die Wege, in denen Menschen nicht hinter ihren Möglichkeiten bleiben. In der Tradition ist viel von Persönlichkeitsbildung die Rede. Sie hat nichts an Aktualität verloren. Kurt Hahn hat 1930 „the seven laws of Salem“ veröffentlicht. Das sind die Prinzipien, die er als unverzichtbare Voraussetzung für erfolgreiche Erziehung und Bildung ansah. Sie lauten:

Gebt den Kindern Gelegenheit, sich selbst zu entdecken.

Lasst den Kindern Triumpf und Niederlage erleben.

Gebt den Kindern Gelegenheit zur Selbsthingabe an die gemeinsame Sache.

Sorgt für Zeiten der Stille.

Übt die Fantasie.

Lasst Spiele eine wichtige, aber keine vorherrschende Rolle spielen.

Erlöst die Söhne reicher und mächtiger Eltern von einem entnervenden Gefühl der Privilegiertheit. 10

So oder vergleichbar formuliert finden wir pädagogische Imperative auch in anderen pädagogischen Konzepten. Sie sind zeitlos. Sie erinnern daran, dass vor aller Wissensvermittlung und aller Denkschulen die Entfaltung eigener Kräfte und Grundhaltungen steht.

Heute kommen Erkenntnise der Entwicklungsneurobiologie, der Entwicklungspsychologie und der Verhaltensphysiologie hinzu. Sie gehören in jede Lehrerbildung. Sie liefern wichtige Erkenntnisse darüber, wie wir lernen und wie Lernumgebungen zu gestalten sind. Sie erklären die Rolle von Persönlichkeit und Motivation beim Lehren und Lernen. Sie haben bislang kaum Eingang in unser Bildungssystem gefunden. Sie zeigen auf, dass gelingendes Lehren und Lernen nicht allein eine Frage der Didaktik- und Methodenvielfalt ist, vielmehr frühkindliche Einflüsse, Bindungsverhalten, ein anderer Umgang mit der Zeit, Emotionen, Aufmerksamkeit, Gedächtnisbildung und Sprachvermögen prägenden Einfluss auf Lernmotivation und Intelligenzentwicklung ausüben.

Teil der Lehrerbildung sind solche Erkenntnisse wohl kaum. Deshalb gehört zu den vorrangigen Reformen im Bildungssystem die Lehrerbildung. Sie ist nicht auf der Höhe der Zeit. Sie lehrt zu wenig darüber, wie wir lernen. Ob unsere Bildungspläne auf der Höhe der Zeit sind, vermag ich schwer zu sagen. Es gibt so viele davon in Deutschland. Die Kultusministerkonferenz hat vor vielen Jahren gemeinsame Bildungsstandards vereinbart und damit einen kompetenzorientierten Ansatz verbunden. Es ist schwerlich herauszufinden, ob diese Vereinbarung in allen 16 Ländern in neue Bildungspläne umgesetzt wurde. Wer – wie ich – einmal die Erfahrung gemacht hat, neue Bildungspläne erarbeiten zu lassen, der weiß um den Kampf, der dann geführt wird. Alle reden von Kompetenzen, ringen aber um jede bisherige Lernsequenz, um Themen und Namen und vor allem um den Anteil des eigenen Faches am Ganzen des Bildungsplans. Die Schule der Zukunft braucht ein Bildungskonzept, dass auf Konzentration setzt, auf die Verbindlichkeit eines Kerncurriculums und die Möglichkeit der selbstständigen Profilbildung. Ein modernes Bildungssystem braucht Vergleichbarkeit, nicht die Uniformität schulischer Curricula. Schule braucht Selbstständigkeit.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die wichtigste Reform in unserem Bildungssystem die curriculare Reform ist. Sie betrifft die Bildungspläne ebenso, wie die Gestaltung überzeugender Lernumgebungen. Sie braucht die Erfahrung von Praktikern ebenso wie wissenschaftliche Expertise. Deshalb halte ich – anlog zum Wissenschaftsrat – die Einrichtung eines Bildungsrates für richtig, der Stellungnahmen und Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Bildungssystems zur Verfügung stellt. Im Wissenschaftssystem haben wir hiermit gute Erfahrungen gemacht. Die Stellungnahmen und Empfehlungen des Wissenschaftsrates haben die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems deutlich voran gebracht.

Schließlich greife ich noch einmal die Frage nach der europäischen Bildung auf. Wir sprechen vom europäischen Bildungsraum und vom europäischen Hochschulraum. In den 27 Mitgliedsländern soll Mobilität möglich werden. Es setzt voraus, im Bereich der Hochschulen Studienleistungen und Studienabschlüsse wechselseitig anzuerkennen. Im europäischen Bildungsraum existieren Mobilitätsprogramme, die Auslandserfahrungen fördern. Wie aber steht es um die Ausrichtung nationaler Bildungspläne auf ein Grundverständnis von europäischer Bildung? Welche Rolle spielen europäische Literatur, europäische Geschichte und europäische Kultur in unseren Bildungsplänen? Jede Forderung nach einem entsprechenden Bildungskanon stößt bislang an Grenzen. Dennoch lohnt sich der Versuch. Ein in den Schulen aller Mitgliedsländer zugelassenes Buch zur europäischen Kulturgeschichte, zur europäischen Literatur, zur politischen Bildung – das wäre ein guter Impuls. Bildung und Erziehung im 21. Jahrhundert braucht einen europäischen Bildungskontext.

Dazu gehört auch die Frage, wie in den Mitgliedsländern Bildungspolitik mit dem Thema Sprachenlernen umgeht. Manche erinnern sich vermutlich noch an die heftigen Debatten, die wir in Baden-Württemberg geführt haben, als es um die Einführung von Französisch in den Grundschulen am Oberrhein ging. Analog dazu stellt sich die Frage in Brandenburg und Sachsen nach der polnischen Sprache. Das ist zugegebenermaßen ein anspruchsvolles Programm. Beim frühen Fremdsprachenlernen gehen die Meinungen in Deutschland nach wie vor auseinander. In Baden-Württemberg ist die Fremdsprache ab Klasse 1 eingeführt. Ein Expertenrat hat dies jüngst wieder infrage gestellt, weil mit Blick auf viele Kinder mit Migrationshintergrund das Erlernen der deutschen Sprache als der Schulsprache Vorrang haben müsse. Befürworter des frühen Fremdsprachenlernens, zu denen ich gehöre, argumentieren damit, dass diese Fremdsprache das einzige Schulfach sein, in dem alle eine gleiche Ausgangslage haben. Solche Fragen können Gegenstand der Expertise eines Bildungsrates sein und der Bildungspolitik helfen, zu richtigen Entscheidungen zu kommen.

Kinder und Jugendliche stehen im Mittelpunkt von Bildung und Erziehung. Sie sollen ihre Talente entfalten und ihre Persönlichkeit entwickeln können. Diese Erwartungen an Bildungs- und Erziehungsprozesse haben Vorrang vor allem anderen. In Zeiten der raschen Wissensvermehrung und einer wachsenden Informationsflut gewinnt die Auswahl geeigneter Bildungsinhalte in unseren Schulen an Bedeutung. Schule braucht Konzentration. Schule muss sich gegen Verzettelung wehren, zumal die Versuchung besteht, ständig neue Erziehungs- und Bildungsaufträge an die Schule zu geben, mit denen der Eindruck erweckt wird, als sei dies der einzig relevante Lernort. Lernen aber ist längst nicht auf Schule beschränkt. Bildung beginnt nicht in der Schule und weist über die Schule hinaus. Deshalb muss Schule das leisten, was sie kann und letztlich besser zu leisten vermag, als andere Lebensbereiche. Sie muss ein Fundament schaffen, dass Lernen auch jenseits der Institutionen befördert. Sie soll Neugierde erhalten und den Schwung des Lernens befördern. Kurt Hahn hat bemängelt, dass manche Lehrer nicht wahrnehmen, wenn der Schwung zum Lernen nachlässt und Kinder damit hinter ihren Möglichkeiten bleiben. Er stellt hohe Anforderungen an die pädagogische Arbeit. Es legt nahe, sich darum zu bemühen, dass die Besten eines Jahrgangs diesen wichtigen, schwierigen und zugleich schönen Beruf wählen. Wo dies gelingt, hat Bildungspolitik bereits viel erreicht. Vor allem ist damit ein sichtbarer Hinweis dafür gegeben, dass Bildung und Erziehung ernst genommen und anerkannt wird.

Bildung und Erziehung in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zu stärken, sie als Ausdruck des geistigen Generationenvertrages zu begreifen und unsere nationalen Bildungssysteme in einem europäischen Bildungskontext zu gestalten gehört zu den vornehmsten Aufgaben moderner Gesellschaften.

1 Kurt Hahn: Erziehung zur Verantwortung. Reden und Aufsätze VII: Erziehung zur Verantwortung. S. 70 – 81. Stuttgart 1958. S. 81

2 Kurt Hahn: Die nationale und internationale Aufgabe der Erziehung. Vortrag am 22. April 1958 vor dem Industrieklub Düsseldorf. SV-Schriftenreihe zur Förderung der Wissenschaft. 1958/5

3 Andreas Flitner: Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. Erweiterte Neuausgabe. München 1999. S. 24.

4 Kurt Hahn: Reform der Erziehung ebenda S. 81

5 Ebenda

6 Hermann Giesecke: Einführung in die Pädagogik. Frankfurt 1070. S. 90

7 In Zeitschrift für Pädagogik 25, 1979. S. 499-504

8

9 Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen aus dem Jahr 1826. In: Drs. Pädagogische Schriften. Herausgegeben von Erich Weniger und Theodor Schultze. Düsseldorf/München 1957. S. 9

10 Kurt Hahn: Reform mit Augenmaß. Ausgewählte Schriften einen Politikers und Pädagogen. Stuttgart 19… S. 151-153

 

Studie: Internet macht Kinder und Jugendliche sozial aktiver

Bitter für Kulturpessimisten: Eine Studie des ifo-Instituts zeigt, dass das Internet den Nachwuchs nicht etwa in die Einsamkeit führt, sondern sie sogar sozial aktiver macht. Hier die Pressemitteilung des ifo-Instituts:

ifo-Studie: Internet macht Kinder und Jugendliche sozial aktiver

Besser als Fernsehen: Im Internet dominieren Information und Kommunikation gegenüber passiver Unterhaltung – Internet bietet vielfältige Kontaktmöglichkeiten und zahlreiche Hinweise auf Veranstaltungsangebote

Das Internet fördert die sozialen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen. Dies ist das Ergebnis einer Studie des ifo Instituts München, die am Donnerstag auf einer Veranstaltung mit der Initiative D21 in Berlin vorgestellt wurde. Damit widersprechen die Forscher dem Mythos, dass das Internet die Menschen sozial vereinsamt und damit letztlich die Grundlagen unserer Gesellschaft erodiert. „Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass das Internet einsam macht“, sagt Prof. Ludger Wößmann, Bereichsleiter Humankapital und Innovation am ifo Institut. Im Gegenteil, zusammen mit den ifo-Wissenschaftlern Stefan Bauernschuster und Oliver Falck zeigt Wößmann in der neuen Studie, dass schnelles Internet zu Hause die sozialen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen im Durchschnitt positiv beeinflusst. Sie gehen häufiger Gruppenaktivitäten außerhalb der Schule nach wie z. B. dem Besuch von Sportvereinen, Musik- oder Gesangsunterricht oder Jugendgruppen. Auch die Beteiligung an verschiedenen AGs in der Schule nimmt nicht ab.

Dieses Ergebnis dürfte selbst Internetkritiker und Kulturpessimisten positiv stimmen, deren vielleicht größte Angst es ist, dass die Generation Facebook nur noch freu(n)dlos vor dem Computer hockt. Zwar zeigen zahlreiche Studien, dass die Computer- und Internetnutzung kaum positive Effekte auf die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen hat, doch belebt sie offenbar die vielfältigen außerschulischen Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen in positiver Weise. Damit reagieren Kinder und Jugendliche ebenso wie Erwachsene, bei denen sich ebenfalls keinerlei negative Effekte des Internets auf die soziale Partizipation zeigen, von informeller Interaktion über den Besuch von Freunden bis hin zu ehrenamtlichem und politischem Engagement. Im Ergebnis nimmt das Maß der informellen sozialen Interaktion mit dem Internet sogar signifikant zu: Menschen mit schnellem Internetanschluss gehen beispielsweise häufiger ins Theater, in die Oper, ins Kino oder ins Konzert.

Wie lässt sich der positive Effekt des Internets auf das Ausmaß der sozialen Aktivitäten von Jugendlichen und Erwachsenen erklären? Wir verbringen vielfach mehrere Stunden täglich im Internet oder mit Fernsehen. Doch während beim Fernsehen einseitige passive Unterhaltung dominiert, wird das Internet offensichtlich vor allem interaktiv genutzt. Mit Hilfe des Internets ist es viel einfacher, den Kontakt mit anderen Menschen aufrechtzuerhalten und sich in der realen Welt zu verabreden. Darüber hinaus hält das Internet vielfältige Informationen über Freizeit- und Kulturangebote sowie über (lokale) Politik und ehrenamtliches Engagement bereit. „Offensichtlich dominiert die Informations- und Kommunikationsfunktion des Internets seine passive Unterhaltungsfunktion. Deshalb finden wir tendenziell positive Effekte des Internets auf die sozialen Aktivitäten von Jugendlichen und Erwachsenen“, sagt Wößmann.

In ihrer Untersuchung verwenden die ifo-Forscher Daten über die Verfügbarkeit eines DSL-Zugangs im Haushalt und das soziale Verhalten von ca. 18.000 Erwachsenen sowie 2.500 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 7 und 16 Jahren im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP). In deutschlandweiten Berechnungen haben die Wissenschaftler das Maß der sozialen Partizipation herausgerechnet, das die einzelnen Erwachsenen schon vor Ausbreitung von Breitbandanschlüssen aufwiesen.

Darüber hinaus machen sie sich eine unvorhersehbare technologische Fehlentwicklung zunutze, die beim Ausbau des Telefonnetzes in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung entstanden ist: Die in einigen Gegenden verwendete OPAL-Technologie wurde damals als das modernste Telefonnetz der Welt gefeiert. Als das Internet später zum Massenphänomen wurde stellte sich jedoch heraus, dass OPAL nicht mit DSL kompatibel war: Diese nicht vorhersehbare Unzulänglichkeit der OPAL-Technologie, die rund 11 Prozent der ostdeutschen Haushalte betraf, beschränkt noch heute in einigen Anschlussgebieten die DSL-Verfügbarkeit.

„Wir nutzen dies als ‚natürliches Experiment’“, so Wößmann. Wie in einem kontrollierten Experiment können hier einige Menschen keinen DSL-Internetzugang bekommen, da ihr Haushalt in einem OPAL-Anschlussgebiet liegt. Wößmann: „In diesem Fall ist die Internetverfügbarkeit dem Zufall geschuldet und nicht Folge einer bewussten Entscheidung, nach der entweder unternehmungsfreudige oder aber auch introvertierte Menschen sich tendenziell eher einen schnellen Internetzugang zulegen. So können wir sichergehen, dass wir tatsächlich den Einfluss des Internets auf die sozialen Aktivitäten schätzen können und nicht umgekehrt.“

Publikation:

Stefan Bauernschuster, Oliver Falck und Ludger Wößmann: Surfing Alone? The Internet and Social Capital: Evidence from an Unforseeable Technological Mistake, CESifo Working Paper 3469, Mai 2011.

 

Interessant: Die CDU renoviert ihre Bildungspolitik

Die CDU überdenkt ihre Schul- und Bildungspolitik. Auf dem Parteitag im November soll dazu ein neuer Grundsatzbeschluss gefasst werden, im Juni der Entwurf dazu im CDU-Bundesvorstand.

Interessant ist das aus mehreren Gründen: Erstens war die Bildungspolitik der Union in den letzten Jahrzehnten sehr erfolgreich, die langjährig unionsgeführten Bundesländer haben bei der Pisa-Studie besser abgeschnitten als die SPD-regierten. Zweitens aber gibt es nur noch drei Länder, in denen die CDU den Kultusminister stellt: Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Und drittens ist der erbittert geführte Schulkrieg inzwischen weitgehend einem Konsens der Parteien in den wesentlichen Fragen der Bildungspolitik gewichen. Man darf also gespannt sein, wie sich die erfolgreichste deutsche Bildungspartei zukünftig in diesem Politikfeld profilieren will.

Beim Blick auf die ersten Ideen ist mein vorläufiges Urteil: Klingt im Großen und Ganzen vernünftig. Unklar ist mir jedoch, wie sich die Union damit von der SPD und den Grünen absetzen will, die inzwischen ja auch auf den Kurs der Vernunft eingeschwenkt sind.

Hier ein kleiner Überblick aktueller Artikel zur CDU-Bildungspolitik:

Zur Einstimmung ein Kommentar von mir vom Mai 2010.

Ein ZEIT-Interview mit dem niedersächsischen Kultusminister Bernd Althusmann.

Ein aktueller Überblicksartikel auf Spiegel Online.

Ein aktueller Überblicksartikel auf Welt Online.

Ein Kommentar der FAZ-Bildungsredakteurin Heike Schmoll.

 

Was bringt die Rück-Reform der Oberstufe? Fast gar nichts

Die Mittelalten unter uns erinnern sich noch an die Reform der Oberstufe Anfang der Siebziger: Keine Klassenverbände mehr, große Wahlfreiheit bei der Fächerwahl. Seit einiger Zeit wird diese Reform nun zurückgenommen. Die Folgen beschreibt Markus Verbeet in einem lesenswerten Spiegel-Artikel.

Mehr Hintergrundinformationen finden sich im ZEIT-Artikel von Jan-Martin Wiarda aus dem Mai 2010 und in einem Interview mit dem Leiter der Studie, dem Tübinger Erziehungswissenschaftler Ulrich Trautwein.

Was lernen wir aus alldem: Erstens ist es gut, wenn die Wirkung von Reformen untersucht wird (ist leider fast nie der Fall im Bildungswesen). Und zweitens sollte man mit Schulreformen  (oder Rückreformen) sparsam sein, denn drittens bringen sie oft nicht den gewünschten Erfolg.

 

Pisa-Forscher Jürgen Baumert schlägt Alarm: Bildungsabstieg durch sinkende Schülerzahlen und mehr Einwandererkinder

Für Eilige: Hier geht es direkt zum Gutachten „Herkunft und Bildungserfolg“: Hier Herunterladen /Hier direkt zum Baumert-Interview: Baumert im ZEIT-Interview.

Und hier die Meldung dazu: Der Pisa-Forscher Jürgen Baumert warnt in der am Mittwoch erscheinenden Ausgabe der ZEIT vor einem Bildungsabstieg Deutschlands durch sinkende Schülerzahlen und den steigenden Anteil von Einwandererkindern aus schwächeren sozialen Schichten an der Schülerschaft. „Wenn nichts geschieht“, sagt Baumert im ZEIT-Interview, „genügt dieser sozialstrukturelle Wandel, um die deutschen Pisa-Zugewinne zunichtezumachen.“ Gleichzeitig werde die Risikogruppe der schwachen Leser von jetzt 19 wieder auf 21 Prozent anwachsen. In den vergangenen zehn Jahren hatten die deutschen Schüler beim internationalen Leistungsvergleich Pisa (Programme for International Student Assessment) zugelegt.

In Flächenstaaten wie Baden-Württemberg, erläutert Baumert, kämen zurzeit 35 Prozent der Schüler aus Zuwandererfamilien. Bei den unter Fünfjährigen seien es bereits mehr als 40 Prozent. „In den Ballungszentren werden in wenigen Jahren die Zuwandererkinder im Grundschulalter die Mehrheit bilden.“

Jürgen Baumert, 69, ist der bedeutendste deutsche Bildungsforscher. Bekannt wurde der inzwischen emeritierte Direktor  am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin als Leiter des deutschen Teils der Pisa-Studie (Programme for International Student Assessment), die im Jahr 2001 einen Schock auslöste: Die deutschen Schüler boten im internationalen Vergleich nur Mittelmaß, die Schulen zeigten sich als sozial ungerecht.

Am heutigen Dienstag legte er gemeinsam mit anderen Forschern (Expertenrat Herkunft und Bildung) ein Gutachten zur Bildungspolitik in Baden-Württemberg vor, das von der noch amtierenden Kultusministerin Marion Schick (CDU) in Auftrag gegeben wurde. Darin warnt er vor den Folgen des demografischen Wandels und macht Vorschläge, wie ihnen zu begegnen ist.

Vom Bestsellerautor Thilo Sarrazin, der vor einem wachsenden Anteil der Migranten an der Bevölkerung warnt, distanziert sich der Max-Planck-Forscher Jürgen Baumert. „Thilo Sarrazin irrt, wenn er suggeriert, dies sei eine Frage der Genetik“, sagt Baumert der ZEIT. „Er hat weder das die menschliche Entwicklung bestimmende Prinzip der Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt wirklich verstanden noch die Plastizität der wissensabhängigen Komponenten der Intelligenz.“ Baumert sieht das Problem demgegenüber darin, dass die Zuwanderer vorwiegend aus schwächeren sozialen Schichten kämen und Deutschland ihre sprachliche Integration vernachlässigt habe.

Zur Bekämpfung des Problems plädiert Baumert für eine kontinuierliche Sprachförderung. „Schon nach der Geburt sollte sozial schwächeren Familien Unterstützung angeboten werden, um sie in ihrem Erziehungsauftrag zu stärken“, fordert Baumert. „Dann folgen Krippen, Kindergärten und die Grundschulen. In allen diesen Einrichtungen ist eine individuelle Entwicklungsdiagnostik notwendig, um bei Schwierigkeiten rechtzeitig helfen zu können. Dies verlangt oft zusätzliche Lernzeit. Dies ist aber nur in Ganztagseinrichtungen vernünftig zu organisieren.“