Lesezeichen
 

Interessanter Vorstoß zur Bildungspolitik der Hamburger CDU

Nach dem verlorenen Volksentscheid zur Primarschule war von der Hamburger CDU-Spitze nichts zu hören – außer, dass man den Volksentscheid – oh Wunder – “akzeptiere”. An der Unions-Basis aber brodelt es.

Nun wagen sich CDU-Politiker aus dem Bezirk Hamburg-Altona, darunter der Bundestagsabgeordnete Marcus Weinberg,  mit einem selbstkritischen (“Wir haben verstanden!”) und zugleich offensiven (“Wir wollen Zeichen setzen!”, “Wir wollen Schulpolitik konkret gestalten!”) Antrag zur Bildungspolitik vor.

Man muss die Überlegungen der CDU-Politiker nicht teilen, aber es ist erfrischend, dass in der Union endlich wieder tabulos über Grundlagen und Ziele der Bildungspolitik diskutiert wird.

 

Thilo Sarrazin, die Intelligenz und die Einwanderer. Was sagt die Forschung?

Im ZEIT-Interview, das meine Kollegin Özlem Topçu und mein Kollege Bernd Ulrich geführt haben, kann man die zum Teil fragwürdigen Thesen Thilo Sarrazins zur Vererbbarkeit von Intelligenz und der Gefährdung Deutschlands durch muslimische Einwanderer nachlesen.

Dabei beruft er sich mehrfach auf die angesehene Kognitionspsychologin Elsbeth Stern, die an der ETH Zürich lehrt. Offensichtlich hat Sarrazin die ZEIT-Interviews mit ihr gelesen, in denen Sie den Stand der Forschung dazu darstellt – aber nur Ausschnitte daraus richtig wahrgenommen.

Deshalb zum Nachlesen für Herrn Sarrazin und alle, die mit ihm streiten wollen, hier zwei Interviews der ZEIT mit Elsbeth Stern aus den Jahren 2003 und 2005:


Der dumme Streit um die Intelligenz

Ein Gespräch mit der Lernpsychologin Elsbeth Stern über die Leistungen von Einwandererkindern

DIE ZEIT: Sind türkische Schüler dümmer als deutsche?

Elsbeth Stern: Daraus, dass sie in einem Intelligenztest schlechter abschneiden, lässt sich so ein pauschales Urteil nicht ableiten. Rassistische Deutungen wie »die Deutschen« seien intelligenter als »die Türken« verbieten sich in jedem Fall.

ZEIT: Aus Gründen der Political Correctness?

Stern: Nein, es gibt einfach keinerlei Beleg dafür. Wenn man die türkischen Einwanderer in Deutschland betrachtet, dann muss man bedenken, dass sie in ihrer sozialen Zusammensetzung nicht repräsentativ für die Türken an sich sind. Migrationsprozesse sind immer sozial selektiv. Als Deutschland Türken ins Land holte, brauchte man vor allem Leute, die am Fließband stehen, also Menschen aus der bildungsfernen Unterschicht. Einwanderer aus Vietnam dagegen, um ein anderes Beispiel zu nennen, stammen vorwiegend aus gebildeten Schichten, sie kamen vor allem aus politischen Gründen nach Deutschland. Ihre Kinder schneiden in Intelligenztests besser ab als die aus deutschen Familien. In den USA wurde das sehr genau untersucht: Jüdische und asiatische Einwanderer sind intelligenter als die Durchschnittsamerikaner. Daraus lassen sich aber keine Rückschlüsse auf Juden oder Asiaten allgemein ziehen.

ZEIT: Dann wäre nicht überraschend, was die Studie über Hannovers Grundschulkinder (siehe unten „Eine Studie schlägt Wellen“, Anm. d. Red.) zeigt: Im Durchschnitt sind die türkischstämmigen Schüler kognitiv weniger leistungsfähig, also weniger intelligent als ihre deutschen Mitschüler.

Stern: Nein, das ist nicht überraschend. Aber das hat eben vorwiegend soziale Ursachen, keine ethnischen. Außerdem sind Durchschnittswerte immer problematisch. Es gibt große Überlappungen bei der Verteilung der Intelligenz, also auch viele türkische Schüler, die einen hohen Intelligenzquotienten haben und viele deutsche Kinder, die weniger intelligent sind. Über das einzelne Kind sagt die Intelligenzverteilung gar nichts aus.

ZEIT: Sollten wir entspannter mit solchen Studien umgehen?

Stern: Auf jeden Fall. Es zeigt sich beispielsweise auch in vielen Studien, dass Mädchen im Durchschnitt schlechtere Mathematikleistungen bringen als Jungs. Nur ein Dummkopf schlösse daraus, dass Mädchen dümmer sind als Jungen. Auch dort sind die Überlappungen sehr groß; viele Mathe-Asse sind Mädchen. Man nimmt solche Studien vernünftigerweise zum Anlass, um über einen Mathe-Unterricht nachzudenken, der den Mädchen mehr gerecht wird. Genau so, wie die Pisa-Studie Rückstände der Jungs beim Lesen festgestellt hat, und man jetzt überlegt, wie die Jungs speziell gefördert werden können.

ZEIT: Kann es sein, dass Einwandererkinder bei Intelligenztests einfach schlechter abschneiden, weil sie die Sprache nicht beherrschen?

Stern: Ja, wobei der Test, den die Hannoveraner Kollegen angewandt haben, ein so genannter nichtsprachlicher Test ist. Den hätte ich auch eingesetzt. Trotzdem können solche Tests letztlich nie das Umfeld ausblenden. Der eingesetzte Test verlangt vor allem, dass man logische Strukturen in Figurenfolgen erkennt. Wer zu Hause beispielsweise viel mit Puzzles spielt, ist gegenüber anderen Kindern im Vorteil. Die stärkste Aussagekraft haben Intelligenztests dann, wenn das soziale und kulturelle Umfeld der Testpersonen gleich ist. Wenn also ähnlich sozialisierte Akademikerkinder unterschiedlich gut abschneiden, dann macht eben die Intelligenz den Unterschied.

ZEIT: Die Hannoveraner Forscher ziehen aus dem kognitiven Rückstand der Einwandererkinder den Schluss, dass sie nicht nur sprachlicher Förderung bedürfen, sondern darüber hinaus einem geistig anregenderen Klima ausgesetzt werden sollten.

Stern: Auch Sprachförderung schlägt sich in Intelligenzzuwachs nieder. Aber die Schlussfolgerungen der Kollegen kann ich teilen: Mehr Einwandererkinder sollten in den Kindergarten, weil sie dort einer geistig anregenden Atmosphäre ausgesetzt sind. Sie brauchen stimulierende Lernumgebungen, also etwa Schulklassen, in denen nicht nur leistungsschwache Schüler sind. Und sie brauchen zum Beispiel auch in Mathematik und den Naturwissenschaften einen anregenden Unterricht, der sie geistig fordert – und damit fördert.

ZEIT: Kann man dadurch die Intelligenz steigern?

Stern: Sicher. Bis zum Alter von etwa zehn Jahren – Achtung, das ist ein Durchschnittswert! – können sich die IQ-Werte noch beachtlich verändern. Dabei spielt die Schule eine ganz entscheidende Rolle.

ZEIT: Also sind die Gene nicht alles?

Stern: Nein, sie legen ein Potenzial fest, das mehr oder weniger gut ausgeschöpft werden kann. Auch die Ernährung trägt übrigens einen Teil zur Intelligenzentwicklung bei. Kinder, die Muttermilch getrunken haben, sind geistig leistungsfähiger als solche, die es nicht getan haben.

ZEIT: Was kann ein Vergleich der Intelligenz deutscher und türkischer Kinder noch bringen?

Stern: Man könnte mit Hilfe solcher Studien realistischere Ziele für die Schule definieren. Zum Beispiel, dass es ein völlig überhöhtes Ziel wäre, von türkischen Kindern im Schnitt die gleichen Leistungen in Mathematik oder eine ähnlich hohe Abiturientenquote zu erwarten wie von deutschen Kindern. Weil die türkischen Kinder einfach Nachteile in der intellektuellen Sozialisation erfahren haben. Auch in einer anderen Richtung sind Daten zur kognitiven Leistungsfähigkeit interessant: Wenn wir etwa feststellen, dass türkische Kinder, die genauso intelligent sind wie deutsche Kinder, in der Schule nicht so erfolgreich sind, weist das auf Mängel in der Chancengerechtigkeit hin.

ZEIT: Wir sprechen hier wie selbstverständlich über Intelligenz. Was ist das überhaupt?

Stern: (lacht) Genau weiß man das nicht. Aber man kann sie mit Intelligenztests sehr genau messen. Sie drückt aus, wie effizient das Gehirn arbeitet. Wie gut man logische Schlüsse ziehen kann. Und, sehr wichtig: wie gut man sich geistig auf neue Situationen einstellen kann.

ZEIT: Was ist mit der oft beschworenen emotionalen Intelligenz?

Stern: Ich halte mich lieber an die Intelligenz, wie sie mit Intelligenztests gemessen werden kann. Sonst vermischt man Dinge, die nicht zusammengehören. Aber Intelligenz ist natürlich nicht alles.

ZEIT: Inwiefern?

Stern: Intelligenz führt nicht automatisch zu Erfolg im Leben, da spielen auch andere Faktoren, wie etwa die Fähigkeit zum Umgang mit Gefühlen, eine Rolle. Außerdem können Mängel in der Intelligenz ausgeglichen werden.

ZEIT: Wodurch?

Stern: Durch gut organisiertes Wissen. Wer nicht so intelligent ist, aber sich systematisch zum Beispiel mit Mathematik befasst, der wird dort bessere Leistungen bringen als ein intelligenter Faulpelz. Intelligenz ist kein Freibrief.

ZEIT: Aber wer intelligent ist und viel lernt, der wird am weitesten kommen.

Stern: Ja, hier gilt das so genannte Matthäus-Prinzip: »Wer hat, dem wird gegeben.« Wenn man das weiterdenkt, hat das übrigens Konsequenzen für die Bildungsdebatte, die vielleicht nicht jeder hören mag.

ZEIT: Nämlich?

Stern: Wenn wir das Ideal der Chancengerechtigkeit in der Schule umsetzen, dann erreichen wir nicht mehr Gleichheit, sondern im Gegenteil mehr Ungleichheit. Je besser der Unterricht ist, je mehr wir die Schüler ihren individuellen Möglichkeiten entsprechend fördern, desto mehr schlagen die Gene durch – und die sind nun einmal ungleich verteilt. Intelligente Schüler können aus anregendem Unterricht den meisten Honig saugen.

ZEIT: Und wo bleiben die weniger starken Schüler?

Stern: Die werden auch besser. Denn der zweite Teil des Matthäus-Zitats aus der Bibel stimmt in diesem Zusammenhang nicht: »Wer nicht hat, dem wird genommen, was er hat.« Wer schwach ist, kann immer noch dazulernen. Lehrer tun weniger intelligenten Kindern daher keinen Gefallen, wenn sie immer nur das Einmaleins üben. Anregender Unterricht nützt allen.

Elsbeth Stern , 47, forscht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin über die Rolle der Intelligenz beim Lernen

Interview: Thomas Kerstan und Jan-Martin Wiarda

Quelle (c) DIE ZEIT 28.07.2005 Nr.31

Eine Studie schlägt Wellen

Ein Satz reichte. Eine Schulstudie habe gezeigt, dass der Intelligenzquotient bei türkischen Einwanderern niedriger sein könne, sagte Dieter Lenzen, Präsident der Berliner Freien Universität Mitte Juli in einem Interview mit der Berliner Zeitung. Sofort brach ein Sturm der Entrüstung los. Die Aussagen seien untragbar, kritisierten türkische Verbände in einer gemeinsamen Erklärung und forderten eine Entschuldigung Lenzens. »Ich sehe eine Art Lafontaine-Virus um sich greifen«, sagte Safter Cinar, Sprecher des Türkischen Bundes Berlin. »Die Mutmaßungen schüren Vorurteile«, sagte die Grünen-Bundesvorsitzende Claudia Roth, die grüne Hochschulexpertin Lisa Paus nannte Lenzens Äußerungen gar »rassistisch«.

Der FU-Präsident fühlte sich zu Unrecht kritisiert und verwies erneut auf die Hannoveraner Grundschulstudie, bei der die Erziehungswissenschaftler Joachim Tiedemann und Elfriede Billmann-Mahecha 1700 Dritt- und Viertklässler auf ihre kognitiven Leistungen hin getestet haben. Niemand behaupte, dass Einwandererkinder von Geburt an dumm seien, sagte Lenzen. Allerdings blieben sie in der Studie nachweisbar hinter den deutschen Kindern zurück. Auch in der Pisa-Studie hatten Migranten eine niedrigere Punktzahl erreicht als deutsche Schüler.

Der Autor der Studie selbst zeigt sich überrascht von der Schärfe der Debatte. »Die Diskussion geht in eine Richtung, die durch unsere Daten überhaupt nicht gestützt wird«, sagt Joachim Tiedemann von der Universität Hannover. Die Ergebnisse der Studie seien völlig überinterpretiert, wenn man rassistische Motive daraus ablese. Im Kern hätten er und seine Kollegin lediglich festgestellt, dass es eine Problemgruppe unter Grundschülern gebe. »Diese Problemgruppe besteht aus Kindern, in deren Familien kein Deutsch gesprochen wird und die in allen Leistungsbereichen der Studie schlecht abschneiden.« Um die Schüler in den Tests nicht von vornherein aufgrund der Sprache zu benachteiligen, habe man sich für nicht-sprachliche, figurale Aufgaben entschieden. Doch auch so hätten die Migrantenkinder deutlich schlechtere Leistungen erzielt. »Daraus folgt vor allem eines«, sagt Tiedemann. »Die schulische Förderung von Einwanderern muss mehr leisten als reine Sprachförderung.« Damit widerspricht der Wissenschaftler der Auffassung vieler seiner Kollegen, die Beherrschung der deutschen Sprache allein sei der Schlüssel zum Lernerfolg. »Schulische Förderung muss zusätzlich kognitive Defizite ausgleichen, die in der sozialen Herkunft der Kinder begründet sind.« Genau das sei der Ansatz der Studie: eine Bestandsaufnahme der förderbaren Denkleistung, nicht der genetisch bestimmten Intelligenz.

Manche kümmert alles Differenzieren indes wenig: Die Bild- Zeitung hatte nach Lenzens Statement bereits die »Berliner Dumm-Debatte« ausgerufen. Jan-Martin Wiarda

Quelle (c) DIE ZEIT 28.07.2005 Nr.31

„Wissen schlägt Intelligenz“

Der Geist kann nicht an beliebigen Themen trainiert werden. Ein Gespräch mit der Lernforscherin Elsbeth Stern

Die Zeit: Frau Professor Stern, muss man als Hochschullehrer intelligent sein?

Elsbeth Stern: Es gibt Berufe, die eine höhere Intelligenz voraussetzen, und dazu gehört sicher auch der des Professors, insbesondere weil man als Wissenschaftler ständig Neues dazulernen muss. Ein hoher Intelligenzquotient reicht jedoch nicht. Bei einem erfolgreichen Wissenschaftler müssen Ausdauer, Fleiß, Anstrengungsbereitschaft oder Motivation hinzukommen.

Zeit: Man könnte meinen, Sie führten einen Feldzug gegen die Intelligenz.

Stern: Wie kommen Sie darauf?

Zeit: Gerade haben Sie mit Kollegen aus Österreich in einer Studie gezeigt, dass weniger intelligente Menschen ihr Fachgebiet beherrschen können, wenn sie nur üben (siehe unten: „Taxifahrer kennen sich aus“). Und von Ihnen stammt der Satz: „Wissen, nicht Intelligenz ist der Schlüssel zum Können.“

Stern: Stimmt. Aber Intelligenz bleibt ein sehr sinnvolles wissenschaftliches Konstrukt, um die unterschiedliche geistige Leistungsfähigkeit von Menschen zu erklären, die die gleichen Lerngelegenheiten hatten. Intelligenz beeinflusst ohne Zweifel den Erfolg in der Schule und im Beruf.

Zeit: Weshalb warnen Sie dann vor einer Überschätzung der Intelligenz?

Stern: Aus zwei Gründen: Zum einen haben wir ja das Ziel, dass alle etwas lernen und nicht nur Menschen mit günstigeren geistigen Voraussetzungen. Da wird die Frage interessant, in welchem Ausmaß und in welchen Bereichen weniger günstige Voraussetzungen kompensiert werden können. Mit der von Ihnen angesprochenen Studie versuchen wir erstmals, diese Kompensationsmöglichkeiten anhand der Gehirntätigkeit zu erforschen. Zum anderen ist klar belegt, dass Intelligenz zur Erklärung von Leistungsunterschieden in einem bestimmten Bereich an Bedeutung verliert, sobald das Vorwissen über diesen Bereich einbezogen wird. Dies zeigen insbesondere auch Ergebnisse der Expertiseforschung.

Zeit: Zum Beispiel?

Stern: Das Schachspiel ist ein sehr gut erforschtes Gebiet. Vergleicht man nun Schachexperten und Anfänger, so genannte Novizen, dann zeigt sich, dass intelligente Novizen schlechter abschneiden als weniger intelligente Experten. Und Leistungsunterschiede zwischen Experten lassen sich nicht auf Intelligenzunterschiede zurückführen.

Zeit: Und wie sieht es in der Schule aus?

Stern: Ähnlich. Hier sind insbesondere die Arbeiten meines vor zwei Jahren verstorbenen akademischen Lehrers Franz E. Weinert vom Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München zu nennen. Es zeigte sich: Den größten Einfluss auf den Lernfortschritt hatte das zu Beginn eines Schuljahres verfügbare Wissen – und zwar weitgehend unabhängig von der Intelligenz. Eine Fortführung dieser Studien für das Fach Mathematik ergab, dass die Mathematikleistung in Klasse 11 eng mit der Leistung in der Grundschule zusammenhängt, viel enger als mit dem Intelligenzquotienten der Elftklässler. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass man sich über einen längeren Zeitraum mit mathematischen Problemen auseinander setzen muss, wenn man ein guter Mathematiker werden möchte. Zugespitzt kann man sagen: Wissen schlägt Intelligenz.

Zeit: Aber intelligente Kinder lernen leichter.

Stern: Das ist ihr Vorteil. Die Kombination aus Wissen und Intelligenz ist natürlich die beste Voraussetzung. Wenn intelligente Kinder jedoch die Gelegenheit zum Lernen nicht wahrnehmen, dann verschenken sie diesen Vorsprung. Sie werden von weniger intelligenten Kindern überholt, die sich Wissen, etwa in Mathematik, angeeignet haben.

Zeit: Uneinholbar?

Stern: Natürlich nicht. Aber wer sich auf seiner Intelligenz ausruht, der wird abgehängt. Defizite in der Intelligenz können durch Vorwissen offensichtlich wettgemacht werden. Defizite im Vorwissen hingegen nicht. Wenn man die Intelligenz nicht in Wissen umgesetzt hat, dann nützt sie einem gar nichts.

Zeit: Ihre Ansichten über die Schule und das Lernen wirken auf den ersten Blick recht altmodisch: „Übung macht den Meister“ lassen Sie über Ihre neue Studie verlautbaren. Die Schule habe die Aufgabe, „Wissen weiterzugeben und zu bewahren“, schreiben Sie in einem Aufsatz. Sie polemisieren gegen das Lehren von so genannten Schlüsselqualifikationen wie Sozial- oder Lernkompetenz. Wollen Sie zurück zur guten alten Paukschule?

Stern: Nein, ganz im Gegenteil, wir brauchen einen viel moderneren Unterricht. Und natürlich sind Sozialkompetenz und Lernstrategien wichtig. Aber die Vorstellung, wonach man derartige Kompetenzen losgelöst vom Inhaltswissen lernen kann, ist nicht richtig.

Zeit: Das bedeutet?

Stern: Es ist nicht sinnvoll, vor einer Unterrichtseinheit zunächst Trockenübungen zu Lernstrategien zu machen. Lernstrategien fallen vielmehr als Nebenprodukt eines anregenden Unterrichts ab. Die so genannten Schlüsselqualifikationen sind lernbar, aber nicht lehrbar. Nehmen Sie das Beispiel der Sozialkompetenz. Die umfasst auch die Fähigkeit, einen schwierigen Sachverhalt anderen Menschen erklären zu können. So etwas kann nicht in einer beliebigen Situation trainiert werden. Wenn die Kinder als Übung zur Sozialkompetenz gemeinsam frühstücken, dann lernen sie dabei nicht, wie man einem anderen Kind eine Mathematikaufgabe erklärt. Der Inhalt ist eben nicht egal.

Zeit: Was würden Sie stattdessen machen?

Stern: Zum Beispiel die Schüler ein Experiment arbeitsteilig gestalten lassen, von der Vorbereitung bis zur Auswertung. Damit bereite ich sie auf Situationen vor, mit denen sie im Beruf konfrontiert werden. Ich sage statt Sozialkompetenz lieber „Fähigkeit zur inhaltsbezogenen Zusammenarbeit“. Das hat nichts damit zu tun, wie nett jemand ist oder wie gut er Partys schmeißen kann.

Zeit: Aber Fähigkeiten oder Wissen aus einem Bereich lassen sich doch auf andere Bereiche übertragen. Ist nicht gerade die berühmte Fähigkeit zur Transferleistung das Ziel der Schule?

Stern: Transfer bleibt häufig ein frommer Wunsch. In Deutschland ist die Idee der formalen Bildung noch weit verbreitet und bestimmt auch die Lehrpläne.

Zeit: Was meinen Sie damit?

Stern: Die Auffassung, dass wir unseren Intellekt am besten an möglichst komplexen und abstrakten Problemen schulen, unabhängig vom Inhalt. Dahinter steckt häufig die Annahme, dass eine Aufgabe auf ihre abstrakte Struktur reduziert wird, welche dann auf neue Probleme übertragen werden kann. Diese Art von Wissenstransfer – das zeigen zahlreiche Studien – bleibt jedoch in der Regel aus. Es gibt kein Lernen ohne Inhalt. Wenn man möchte, dass Schüler verstehen, warum ein Auto fährt, müssen sie physikalische Gesetzmäßigkeiten verstehen. Wenn ich lernen will, Texte zu lesen und zu verstehen, dann muss ich eben anspruchsvolle Texte lesen und interpretieren. Da kann ich nicht irgendwas machen. Latein ist auch ein gutes Beispiel: Dem Lateinlernen wurde immer ein geheimnisvolles Gehirntraining nachgesagt. Unsere Studien haben aber ergeben, dass es nicht etwa das logische Denken fördert. Es fördert das, was es zum Inhalt hat, etwa das genaue Achten auf grammatische Strukturen. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass unser Gehirn mit beliebigen geistigen Aktivitäten trainiert werden kann.

Zeit: Aber das Anhäufen von Wissen kann doch nicht die Alternative sein.

Stern: Mir geht es um intelligentes Wissen, das sich breit und flexibel einsetzen lässt, nicht einfach nur um Faktenwissen. Die Schüler sollen Konzepte verstehen, nicht isolierte Informationen sammeln.

Zeit: Zum Beispiel?

Stern: In der Grundschule lernen Kinder normalerweise, dass Holz schwimmt, Eisen jedoch nicht. Erklärungen, die auf den physikalischen Konzepten Dichte und Auftrieb beruhen, werden jedoch nur selten erarbeitet. Das wäre aber genau die Form von Wissen, an die der spätere Physikunterricht anknüpfen könnte.

Zeit: Überfordert das die Schüler nicht?

Stern: Es gibt keine Untersuchung, die darauf hinweist, dass anregender Unterricht, der an das Vorwissen der Kinder anknüpft und dieses dann gezielt erweitert, schwächeren Schülern schadet.

Zeit: Gilt das auch für Klassen, in denen die Hälfte der Schüler nicht deutsch spricht?

Stern: Nein, was da in einigen deutschen Hauptschulen abläuft, ist natürlich geradezu grotesk. Guter Unterricht knüpft an das Vorwissen der Schüler an. Wenn das aufgrund von Sprachschwierigkeiten auch mit größter Anstrengung nicht kommunizierbar ist, dann müssen zunächst andere Probleme gelöst werden.

Zeit: Sie plädieren auch fürs Auswendiglernen.

Stern: Wenn es sinnvoll in verständnisförderndes Lernen eingebettet ist, ja. Wenn ich etwas auswendig kann, dann hat mein Gehirn mehr Ressourcen für andere geistige Aktivitäten verfügbar. Aber wer nur das Einmaleins runterbeten kann, ohne ein Gefühl für den Zahlenraum zu haben, der weiß natürlich nicht wirklich etwas.

Zeit: Den Grundschulunterricht kritisieren Sie als zu wenig anspruchsvoll. Bei der Iglu-Studie haben die Deutschen doch im internationalen Vergleich recht passabel abgeschnitten.

Stern: Ich sehe das nicht ganz so rosig. Beim Lesen hätten wir eigentlich besser sein müssen. Die deutsche Schriftsprache ist leichter zu erlernen als etwa die englische, denn im Deutschen erfolgt das Übertragen von Lauten auf Buchstabenfolgen viel regelmäßiger. Beim naturwissenschaftlichen Test wiederum gingen kaum Aufgaben ein, die ein Verständnis physikalischer Gesetzmäßigkeiten erfassen. Da wurde mehr nach Fakten gefragt. Das kommt dem deutschen Unterricht entgegen. Und was die mathematischen Kompetenzen angeht, ist das deutsche Ergebnis ja nicht so gut. Aber den Grundtenor in der Debatte um die Iglu-Studie teile ich: So richtig schlimm wird es nach der Klasse 4.

Zeit: Die Grundschule ist Ihnen nicht anspruchsvoll genug. An der Frühförderung von Kindern nörgeln Sie aber auch herum.

Stern: Nicht an sinnvoller Frühförderung, im Gegenteil. Wenn Vierjährige im Kindergarten singen, klatschen und reimen, dann fördert das später das Lesenlernen. Aber die fixe Idee, Kinder in den ersten Lebensjahren mit Lernstoff voll zu stopfen, weil deren Gehirn den wie ein Schwamm aufsauge, diese Idee lässt sich mit keiner wissenschaftlichen Studie erhärten. Selbst über den Fremdsprachenerwerb in der Grundschule lässt sich trefflich streiten. Für seinen Nutzen gibt es jedenfalls keinen Beleg. Unterricht ist etwas ganz anderes als das natürliche Lernen einer zweiten Muttersprache in bilingualen Familien.

Zeit: Sie sprechen gern von nützlichem Wissen. Wo bleibt da die Bildung?

Stern: Natürlich will ich, dass die Schule gebildete Menschen, autonome Bürger entlässt. Aber gerade wenn es das Ziel ist, urteilsfähige Bürger heranzubilden, dann geht das nicht, ohne eine breite Wissensbasis zu vermitteln. Das Wissen über unsere Geschichte, das Wissen über das mächtige Werkzeug namens Mathematik oder auch das Wissen darüber, woher unser Wissen kommt – das alles ist nützliches Wissen, ohne das es keine Bildung gibt.

Das Gespräch führte Thomas Kerstan

Quelle (c) DIE ZEIT 26.06.2003 Nr.27

Taxifahrer kennen sich aus (aktuelle Studie)

Kann fehlende Intelligenz durch Üben kompensiert werden? Dieser Frage gingen Elsbeth Stern und die Psychologen Roland H. Grabner und Aljoscha C. Neubauer von der Universität Graz in einer Studie nach, die demnächst im veröffentlicht wird.

Dazu stellten die Forscher 31 berufserfahrenen Taxifahrern aus der Stadt Graz folgende Aufgabe: Die Experten für das Grazer Straßennetz bekamen zunächst eine Route vorgegeben. Dann erschienen auf einem Bildschirm Straßennamen, und sie mussten unter Zeitdruck entscheiden, ob die Straßen auf der vorgegebenen Route liegen oder nicht. Dabei wurde ihre Gehirnaktivität gemessen.

Frühere Untersuchungen hatten ergeben, dass intelligente Menschen beim Lösen schwieriger Aufgaben ihr Gehirn nicht so stark belasten wie ihre weniger intelligenten Mitmenschen. Sie nutzen offenbar ihr Gehirn effizienter.

Für die Auswertung wurden die Taxifahrer nun nach Intelligenzquotienten in eine stärkere und eine schwächere Hälfte geteilt. Es zeigte sich, dass die weniger intelligenten Taxifahrer ihr Gehirn nicht stärker beanspruchten als ihre intelligenteren Kollegen. Offenbar gleicht Berufserfahrung mangelnde Intelligenz aus, wenn es um das Lösen einer Routineaufgabe geht.

Bei einem Kontrolltest konnte die intelligentere Hälfte ihre Überlegenheit demonstrieren. Bei dieser Aufgabe wurde den Taxifahrern der Plan einer fiktiven Stadt vorgelegt. Sie mussten sich dort eine Route aussuchen. Dann leuchteten auf einem Computerbild des Straßenplans Punkte auf. Wiederum mussten sie entscheiden, ob die Punkte auf ihrer Route liegen oder nicht. Dieses neue Problem lösten die Intelligenteren mit deutlich weniger geistigem Energieaufwand als ihre Kollegen, die beim Intelligenztest schlechter abgeschnitten hatten.

Mit diesem Test wurde erstmals mithilfe des Messens der Gehirntätigkeit gezeigt, inwieweit Üben fehlende Intelligenz ausgleichen kann. Die Aufgabe war relativ einfach. Die Forscher wollen nun mit schwierigeren Aufgaben herausbekommen, wo die Grenzen der Kompensation liegen. stan

Quelle (c) DIE ZEIT 26.06.2003 Nr.27

Und hier die Online-Links:

http://www.zeit.de/2005/31/C-Stern

http://www.zeit.de/2005/31/C-KastenStudie

http://www.zeit.de/2003/27/C-InterviewStern

http://www.zeit.de/2003/27/Kasten_Stern

 

Einschulung: Jubel, Trubel und verschüchterte Kinder

Einschulung. Geschwister, Mütter, Väter, Großeltern freuen sich, fotografieren, filmen, klönen (wie man im Norden sagt), trinken Kaffee oder Kakao. Die Schüler der höheren Klassen begrüßen die Neuen unter heldenhaftem Einsatz ihrer Lehrerinnen mit Liedern, kleinen Szenen. Jubel und Trubel.

Und die Hauptpersonen? Hat einmal jemand die Gesichter der Kinder bei der Einschulung beobachtet? Oder auf Fotos? Von großer Freude keine Spur. Wo bin ich hier? Was geschieht mit mir? Wie muss ich mich  benehmen? Was sind das für Leute? Das fragen sich die Kleinen; lassen verschüchtert das Tamtam über sich ergehen und trotten dann unsicher in die erste Unterrichtsstunde.

Das war schon immer so. Neu ist der Trend, dass immer mehr Familienangehörige an der Feier teilnehmen. Und ganz neu, dass die Schülerzahl zurückgeht. Wo früher dreißig Erstklässler von vierzig Erwachsenen ins neue Leben begleitet wurden, sind es heute fünfzehn Kinder und gefühlte einhundert Große. Der demografische Wandel sieht komisch aus.

 

Hamburger Schulreform: Primarschule gescheitert, Vernunft hat gesiegt

Mit einem Volksentscheid haben die Hamburger das Vorhaben des schwarz-grünen Senats (sowie der SPD und der Linkspartei) durchkreuzt, die Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre zu verlängern und die Grundschulen in Primarschulen umzutaufen.

276.416 Bürgerinnen und Bürger der Hansestadt (endgültiges Ergebnis laut Statistikamt Nord) stimmten für einen dahin gehenden Antrag der Elterninitiative „Wir wollen lernen!“, lediglich 217.969 unterstützten den Reformkurs des Senats und der Bürgerschaft, wie Regierung und Parlament in Hamburg heißen. Für ein Gelingen des Volksentscheids, der in Hamburg verbindlich ist, war die Mehrheit der abgegebenen Stimmen nötig, sowie eine Mindeststimmenzahl von 247.335 (ein Fünftel der Wahlberechtigten). Auch das Recht der Eltern bleibt nun erhalten, zu entscheiden, auf welche Schulform ihr Kind nach der Grundschule wechselt.

Damit haben auch bundesweit die Befürworter des „längeren gemeinsamen Lernens“ einen Dämpfer bekommen. Die neue rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen etwa, die dreißig Prozent der Schulen bis 2015 in Gemeinschaftsschulen umwandeln will oder die schwarz-gelb-grüne Regierung des Saarlands, die die Grundschulzeit auf fünf Jahre verlängern will.

Keineswegs ist damit jetzt der Weg für weitere mutige Schulreformen versperrt, nur an übermütige Reformen wird sich so schnell keiner wieder heranwagen.

Auch in Hamburg ist nicht die Schulreform gescheitert, sondern nur eine Übertreibung. Der bedeutendste Teil der Schulreform – für den es einen breiten Konsens in der Stadt gibt – kann nun mit Macht in Angriff genommen werden: Die Vereinigung aller Schulformen neben dem Gymnasium zur sogenannten Stadtteilschule. Damit soll dem Trend entgegengewirkt werden, dass sich insbesondere Hauptschulen zu „Restschulen“ entwickeln, in denen sich die schwächsten zehn Prozent der Schülerschaft sammeln und an denen die Kinder kaum etwas lernen. An der Stadtteilschule sollen die Schüler alle Schulabschlüsse ablegen können, die leistungsstarken unter ihnen auch das Abitur – nach 13 Schuljahren, statt nach 12 wie am Gymnasium. Damit die Stadtteilschule sich zu einer attraktiven Alternative zum Gymnasium entwickeln kann, müssen Schulpolitik und Schulverwaltung viel Kraft und Ideen in sie investieren. Gut also, dass das kraftzehrende Primarschulabenteuer nun vom Tisch ist.

Auch andere Maßnahmen, mit denen den schwachen Schülern geholfen werden kann, können nun vorangetrieben werden: Die dringend nötige Sprachförderung schon vor der Schule und begleitend während der gesamten Schulzeit, im Unterricht, am Nachmittag, an den Wochenenden, in den Ferien. Zudem muss verstärkt in die frühkindliche Bildung investiert werden. Alle Bildungsforscher sind sich darin einig, dass dort für die Kinder aus bildungsfernen Schichten am meisten erreicht werden kann.

Die Einführung der Primarschule hätte viel Kraft gekostet und Unruhe verbreitet. Vor allem die Gymnasien und ambitionierte weiterführende Schulen hatten um ihre fünften und sechsten Klassen gebangt. Ob die längere gemeinsame Schulzeit von schwächeren und stärkeren Schülern aber mehr Bildungsgerechtigkeit gebracht hätte, wie die Verfechter der Primarschule anführen, wäre vollkommen ungewiss gewesen. Zwar weisen einige Statistiken vage darauf hin. Aber andere Untersuchungen zeigen, dass die Schule gegen die starke Rolle der sozialen Herkunft für den Schulerfolg recht machtlos ist. Auch schaffen Länder wie Holland oder Belgien oder das Bundesland Berlin mit ihren sechsjährigen Grundschulen nicht mehr Gerechtigkeit als Bundesländer mit vierjähriger Grundschulzeit, wie die Pisa-Studie und andere Untersuchungen zeigen.

Aber auch die Schüler, Eltern und Lehrer der Hamburger Gymnasien, die erfolgreich gegen die Primarschule gekämpft haben, sind nun in der Pflicht. Sie müssen sich überlegen, was sie zum sozialen Zusammenhalt der Stadt beitragen können – ganz besonders die humanistischen Gymnasien, wenn Humanismus nicht zu hohlen Phrase verkommen soll. Sie könnten Patenschaften für Schulen in sozial schwächeren Stadtteilen übernehmen, ihre Schüler, Eltern und Lehrer könnten den Schülern in Problemstadtteilen Nachhilfe geben oder ihnen als Mentoren dienen.

Es wäre schön, wenn sich die Elterninitiative „Wir wollen lernen!“ in die Initiative „Wir wollen helfen!“ umwandelte.

 

Bildungsstandards – Worum geht es dabei eigentlich?

Zum  jüngst stattgefundenen Ländervergleich der Schülerleistungen in Deutsch und Englisch anhand von Bildungsstandards  ist das Wichtigste nachzulesen im Interview mit den IQB-Chefs (den Bildungsforschern Olaf Köller, Petra Stanat und Hans Anand Pant).

Mehr über Bildungsstandards und den Streit um sie, findet sich in einem ZEIT-Artikel aus dem Jahr 2006: „Was sind Bildungsstandards?“

Und wer ganz tief ins Thema einsteigen will, der studiere die sogenannte Klieme-Expertise aus dem Jahr 2003. Eckhard Klieme leitet die Arbeitseinheit Bildungsqualität und Evaluation beim Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (Dipf) in Frankfurt und verantwortet den deutschen Teil der Pisa-Studie 2009.