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Wolfgang Wippermann: „Ernst Nolte ist mein missratener Lehrer“ – Teil 1

 

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Der renommierte linke Kritiker von Totalitarismus- und Extremismustheorien, Wolfgang Wippermann, ist ein Schüler Ernst Noltes und zugleich einer seiner größten Kritiker. Im Gespräch mit Mathias Brodkorb bezeichnet er die These von der Singularität des Vernichtungslagers Auschwitz, um die sich der „Historikerstreit“ des Jahres 1986 drehte, dennoch als ein „unhaltbares Dogma“. Das Interview ist ein Abdruck aus dem Band „Singuläres Auschwitz„.

Mathias Brodkorb: Sehr geehrter Herr Wippermann, Sie haben bei Ernst Nolte promoviert. Wie kam es dazu?

Prof. Dr. Wolfgang Wippermann: Das ist richtig. Ich habe aber nicht nur bei ihm promoviert, sondern auch habilitiert – als Einziger, glaube ich. Ich bin also sein Meisterschüler, wenn Sie so wollen. Wir trafen in Marburg aufeinander. Ich hatte eine Stelle bei dem marxistischen Professor Wolfgang Abendroth. Marburg entwickelte sich aber immer mehr zu einem Hort von Stalinisten. Ein Schockerlebnis war für mich, das weiß ich noch wie heute, im Jahr 1970. Es war der 100. Geburtstag von Lenin und Abendroth hielt so eine Rede, in der war Lenin so etwas wie eine Mischung aus Jesus und Mutter Theresa. Und zum Schluss erhob sich das gesamte Auditorium und klatschte, und auch das Podium erhob sich und klatschte sich selbst zu, nur ich blieb sitzen. Damals dachte ich so bei mir: Das ist nun wirklich etwas zu viel des Guten. Ich hatte damals eine Stelle bei Abendroth und wurde dann wegen „Abweichlertums“ von den Studierenden entfernt. Anschließend begann ich bei Nolte zu arbeiten. Er war durch seine Belesenheit durchaus faszinierend für mich, aber auch methodisch, das muss ich schon sagen. Methodisch war damals entweder ein vulgärer Marxismus oder das Dogma der Sozialgeschichte angesagt. Nolte war der letzte Vertreter der traditionellen Ideengeschichte, was insbesondere für die Faschismusanalysen von Bedeutung ist. Faschismus kann man nicht erklären mit Ökonomie, sondern nur mit Ideologie. Dann gingen wir nach Berlin und ich wurde Noltes Assistent. Hier habe ich dann über die Bonapartismus-Theorie meine Habilitationsschrift1 verfasst. In Sachen Marxismus war und ist Nolte ein anregender Autor. Sein Marx-Buch2 ist wirklich sehr gut. Der Erste, der mich dann darauf hinwies, dass in Noltes Buch über den Kalten Krieg3 ein Israel-Kapitel enthalten ist, das so nicht geht, war Peter Gay. Es ging damals um eine Parallelisierung von Verbrechen der Israelis gegenüber den Palästinensern mit den Verbrechen der Nazis gegenüber den Juden. Nolte hatte dies in seinem berühmten schwebenden Stil geschrieben, der sehr problematisch ist – „man könnte“, „es ist vielleicht“ usw. usf. Obwohl das in der Öffentlichkeit gar nicht so bemerkt wurde, war diese komische aufrechnende Tendenz darin schon enthalten. Damit verband sich dann auch Noltes Wende um 180 Grad. Ich selbst hatte ihn ja als denjenigen gefeiert, der die Totalitarismustheorie im Grunde theoretisch erledigt hatte, aber dann gab es diese Wende in seinem Denken. Er hat mit seinem großen Erstlingswerk „Der Faschismus in seiner Epoche“ für den Faschismusbegriff wirklich Großartiges geleistet, anschließend aber selbst alles wieder kaputt gemacht.

Brodkorb: Wie war Nolte als Mensch, als akademischer Lehrer, als Vorgesetzter?

Wippermann: Da kann ich mich wirklich nicht beklagen. Nolte gehörte nicht zu jenen Professoren, die ihre Assistenten ausbeuten oder schlecht behandeln, sich ihre Aufsätze durch sie schreiben lassen oder Ähnliches. Natürlich musste auch ich zuarbeiten, aber Nolte hat seine Texte immer selbst geschrieben. Auch die Methodik seiner Doktorandenkolloquien habe ich in meiner Arbeit übernommen. Aber als Gutachter war Nolte unfassbar. Wenn er bei Bewerbungen, an denen ich beteiligt war, begutachtet hat, war ich raus. Da hat er dann gesagt: Der schreibt zuviel. Das ist ja auch nicht völlig falsch. Es sind ja inzwischen auch mehr als 30 Bücher und etwa 200 Aufsätze von mir erschienen, und ich werde Nolte demnächst überholen. Allerdings sind meine Bücher nicht so dick wie seine – ich hasse dicke Bücher. Aber Nolte ist ziemlich rechthaberisch. Er kann nicht zugeben, dass auch nur ein Komma falsch ist. Wenn er sich an einer Idee festgebissen hat, ist die Diskussion mit ihm sinnlos. Einen Historikerstreit mit ihm zu führen, ist also zwecklos.

Brodkorb: War dies auch der Grund, warum Sie sich seinerzeit nicht am Historikerstreit beteiligt haben?

Wippermann: Ich war damals der Auffassung, dass ich zu nahe an ihm dran war, um mich in die Diskussion einzumischen. Das hat etwas mit Anstand zu tun. Ich überlege schon seit längerer Zeit, ob ich noch einmal ein Buch zum Historikerstreit schreiben soll, aber damals kam das für mich nicht in Frage. Ich sage immer: Ernst Nolte ist mein missratener Lehrer. Aus einer solchen Perspektive sollte man vielleicht kein Buch über seinen Doktorvater schreiben.

Brodkorb: Was genau hat nun den Bruch zwischen Ihnen und Nolte hervorgerufen?

Wippermann: Exemplarisch steht da vielleicht das berühmte Spiegel-Gespräch mit Augstein. Nolte bewegte sich damals hart am Rande der Holocaust-Leugnung. Ich habe gesagt: So geht es einfach nicht. In einem Vortrag habe ich ihn dann auch einmal, mit gebrochener Stimme durchaus, in die Reihe der Holocaustleugner eingereiht. Als Reaktion habe ich mich dann nicht von Nolte losgesagt, sondern er hat mich umgekehrt verstoßen. Seitdem gibt es zwischen uns im Prinzip keine Beziehung mehr.

Brodkorb: Auf welchen Satz des Augstein-Interviews beziehen Sie sich dabei?

Wippermann: Ich habe das jetzt so nicht parat, das waren mehrere Aussagen.

Brodkorb: Für den Historikerstreit zentral ist die Diskussion über nationale Identität. Wie sehr hat dies Nolte aus Ihrer Sicht berührt?

Wippermann: Sehr. Er konnte mit der Täterperspektive, mit Schuld, Sühne und Gedenkstättenfahrten gar nichts anfangen. Was wir damals alles gemacht haben, dass ich darüber gepredigt, Gedenkstättenfahrten quasi pseudoreligiös vorbereitet habe, dafür hatte er gar kein Verständnis. Er verfiel regelmäßig in eine Täter-Opfer-Umkehr und die Schuldabwehr.

Brodkorb: Ich würde gerne noch einmal auf Ihre These zurückkommen, Nolte hätte sich der Holocaustleugnung genähert. Holocaustleugner bestreiten ja einfache historische Tatsachen, empirische Fakten also. Ich kann mich nicht erinnern – vielleicht ist meine Kenntnis des Werkes Noltes aber auch zu oberflächlich –, dass Nolte in diesem Sinne den Holocaust geleugnet hat. Sind seine Argumente nicht eher auf der Ebene von Wertungen angesiedelt?

Wippermann: Nolte hat immer eine Verharmlosung durch Vergleich vorgenommen, indem er am Ende behauptet hat, Stalin sei schlimmer gewesen…

Brodkorb: …Angenommen, Nolte hätte das gesagt, wäre das doch aber dem Bereich der Wertungen, nicht dem der historischen Fakten zuzuordnen.

Wippermann: Das können Sie doch gar nicht voneinander trennen. Es ist doch auch nicht nur der Vergleich Hitler-Stalin, sondern auch der Vergleich Hitler-Juden. Und das geht nicht, das ist nicht tragbar.

Brodkorb: Mir leuchtet das noch nicht ein. Ich finde es nachvollziehbar, wenn man zum Beispiel die Position hat, dass ein Vergleich historischer Ereignisse einem unangemessen erscheint oder bei einem spezifischen Auditorium politisch schwierige Assoziationen auslösen kann, aber mir leuchtet noch immer nicht ein, warum man die Leugnung des Holocaust, die Leugnung nackter historischer Tatsachen also, nicht trennen können soll von ihrer Bewertung, zum Beispiel als „singulär“? Das hätte ja nicht nur die merkwürdige Konsequenz einer Verharmlosung ganz eigener Art – z. B. tatsächlicher Leugnung des Holocaust durch Neonazis –, sondern führte begrifflich ins Uferlose. Jede von einem strikten Schema vorgegebene Abweichung wäre dann gleichsam eine Holocaustleugnung.

Wippermann: Nein, da sind Sie jetzt Philosoph, aber die Geschichtswissenschaft ist keine objektive Wissenschaft. Sie können Fakten nicht von Bewertungen trennen, das wäre naiver Historismus. Das geht einfach nicht. Natürlich kann man alles miteinander vergleichen, aber wenn etwas Unvergleichbares verglichen wird, wird es relativiert. Wenn man also Israel und die Nazis vergleicht, dann ist das wirklich unfassbar, das geht nicht.

Brodkorb: Es ist ja unbestritten, dass kein Mensch theorielos wahrnehmen kann. Aber daraus, scheint mir, kann man noch nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass das Beschreiben historischer Ereignisse in ihrem empirischen Gehalt strukturell nicht mehr unterscheidbar ist von Bewertungen. Ein zugespitztes Beispiel: Unter idealtypischen Bedingungen kann ich durch bloßes Zählen herausfinden, wie viele Menschen in Auschwitz gestorben sind. Ob das, was diesen Menschen angetan wurde, tatsächlich „singulär“ war oder ist, kann ich den Leichen aber nicht ansehen, das ist eine Frage der Bewertung, und diese ist sehr viel theorieabhängiger als eine bloße Beobachtung, gleichwohl diese natürlich auch nicht theorielos ist. Nach Ihren Ausführungen kann man diese Unterschiede gar nicht mehr sinnvoll machen.

Wippermann: Das geht einfach nicht. Empirische Fakten und Theorien gehen nun einmal ineinander über, man kann das nicht sauber trennen. Das ist Historismus, das ist von vorgestern, ein frommes Ammenmärchen. Noch einmal: Wenn man in einem Satz „Juden“ und „Nazis“ sagt, das geht nicht! Das ist Trivialisierung durch Vergleich und darum geht es bei Nolte, das ist Schuldabwehr, das ist Täter-Opfer-Umkehr.

Brodkorb: Es gibt also nach Ihrer Ansicht kein Kriterium, anhand dessen in der Wissenschaft bloße Beschreibungen empirischer Tatsachen von Bewertungen unterschieden werden können?

Wippermann: Doch, doch, es gibt die positivistische Ideologiekritik, die funktionalistische Ideologiekritik, die Diskursanalyse – das ist eine große Geschichte, ein weites Feld. Aber damit hat sich Nolte ja nie beschäftigt.

Brodkorb: Meinen Sie? Es wird ja häufig behauptet, der Historikerstreit sei ein rein politischer Streit gewesen. Mir scheint allerdings, dass damals in Wahrheit Vertreter zweier wissenschaftstheoretischer Konzepte aufeinander geprallt sind, nämlich jene, die wie Nolte am Sinn der Unterscheidung zwischen Faktum und Bewertung in der Historiographie festhalten und zum Beispiel die Sozialhistoriker, die diesen Standpunkt ablehnen und vielleicht auch deshalb Noltes Gegner sind.

Wippermann: Das ist falsch, weil es kein Historikerstreit war, sondern ein Politikerstreit oder ein politisierter Historikerstreit. Es ging um Geschichtspolitik und um nichts anderes. Das ist es.

Brodkorb: Das ist jetzt eine Behauptung, aber noch kein Argument. Nolte macht auf mich eher den Eindruck des einsamen Intellektuellen, nicht des politisch Ambitionierten.

Wippermann: Nochmal, das war Geschichtspolitik. Sie müssen das sehen vor dem historischen Hintergrund der 1980er Jahre und den Debatten über den Nationalsozialismus. Damals gab es die Befreiungsrede von von Weizsäcker, Debatten über Ver-gangenheitsbewältigung und -aufarbeitung, Singularität, Schuld, Verbrechen – diese ganze Richtung hat ihm nicht gepasst, und in diese Situation hat er interveniert. Er wollte mit seinem FAZ-Artikel bewusst politisch intervenieren und die besondere Qualität des nationalsozialistischen Rassenmords kleinreden. Biologischer Rassenmord und sozialer Klassenmord sind einfach nicht dasselbe.

Fortsetzung folgt morgen

Fußnoten

1 Wolfgang Wippermann, Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels, Stuttgart 1983. Alle Anmerkungen verantwortet der Herausgeber.

2 Gemeint ist Ernst Nolte, Marxismus und Industrielle Revolution, Stuttgart 1983.

3 Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, 2. Auflage, Stuttgart 1985.

Foto: Screenshot YouTube