Sie wurde völkisch erzogen, engagierte sich bei der NPD und bei einer Kameradschaft. Dann hat Heidi Benneckenstein mit 19 Jahren den Ausstieg gewagt — trotz aller Widrigkeiten. Ihre Geschichte hat sie nun in einem lesenswerten Buch zusammengefasst.
Von Johannes Hartl, zuerst erschienen bei belltowernews
Es ist nicht unbedingt ungewöhnlich, dass sich ehemalige Neonazis nach ihrem Ausstieg als Autoren betätigen. Über die letzten Jahre sind einige Bücher entstanden, die jeweils über das Innenleben der Szene berichten. Die meisten dieser Publikationen erzählen spektakuläres vom Leben als militanter Neonazi, angereichert mit allerlei Aktivitäten und Klischees. Der Nutzen solcher Werke für eine fundierte Auseinandersetzung ist bedauerlicherweise entsprechend gering (vgl. Antifaschistisches Infoblatt, Nr. 66). Nun hat Heidi Benneckenstein mit ihrer Autobiographie „Ein deutsches Mädchen“ eine weitere Publikation auf den Markt geworfen.
Dieses Buch ist jedoch ein Novum: Es ist von einer weiblichen Aussteigerin der rechtsextremen Szene geschrieben, die in einer völkischen Familie zur Neonazi-Elite erzogen wurde – mehr in die rechtsextreme Szene verstrickt zu sein ist kaum möglich. Dennoch hat Heidi Benneckenstein den Ausstieg geschafft. In ihrer Biografie beschäftigt sich die 25-jährige jetzt mit ihrer Kindheit in einer völkischen Familie, ihrer jugendlichen Karriere unter militanten Neonazis sowie ihrem allmählichen Ausstieg aus der Szene. Damit präsentiert sie ein Buch, das sich gleich in mehrfacher Hinsicht wohltuend von denen anderer Aussteiger unterscheidet: Durch seine neue Perspektive, durch das beschriebene Milieu und durch seine realistische Darstellung. Auf 249 Seiten zeichnet Benneckenstein in 18 episodenhaft aufgebauten Kapiteln ihren Lebensweg nach, beginnend mit ihrer Geburt 1992 im Großraum München.
Bereits früh wurde sie durch ihren Vater ideologisch unterwiesen, auf ein Leben mit klaren Feindbildern vorbereitet und als Teil einer vermeintlichen „Elite“ erzogen, die Widerstand gegen das verhasste System leisten sollte. Mit fünf Jahren besuchte sie erstmals ein Lager der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ) — eine 2009 verbotene Organisation, die Kinder im Sinne der NS-Ideologie gedrillt hat, orientiert an historischen Vorbildern wie der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädel. Sie durchlief dort die übliche Ausbildung, beschreibt die Belastungen der völkischen Erziehung und die familiären Konflikte, wie sie etwa unter der Härte und der lieblosen Erziehung ihres Vaters litt. Trotzdem wurde sie mit 14 Jahren Mitglied der NPD-Jugend, engagierte sich später in einer Erdinger Kameradschaft und bei der NPD Passau, besuchte rechtsextreme Demonstrationen und Rechtsrockkonzerte. Jahrelang war sie ein festes Mitglied der bayerischen Neonazi-Szene. Dabei war sie auch an zwei gewalttätigen Angriffen in Erding und Passau beteiligt.
Über all diese Aktivitäten, über ihren Fanatismus und ihre Taten schreibt Benneckenstein in der vorliegenden Biografie mit schonungsloser Ehrlichkeit. Dabei vermeidet sie Stereotype, verzichtet auf Übertreibung oder auf die Bagatellisierung ihrer eigenen Rolle, was in vielen anderen Aussteigerbüchern zu finden ist. Auf diese Weise zeichnet sie ein authentisches Bild von der inneren Verfasstheit der extremen Rechten, der sie sich angeschlossen hat, von ihrer elitären Inszenierung, ihrem Zustand abseits der eigenen Darstellung und der Abgrenzung gegenüber anderen. Zudem beschreibt sie die Rolle der völkischen Erziehung und der HDJ als Türöffner, der ihr innerhalb der Szene Respekt und Anerkennung eingebracht (S. 102) und so ihre dortige Karriere ermöglicht hat.
Diese beiden Faktoren lassen überhaupt erst verstehen, wie eng Benneckenstein in Wahrheit an die Szene gebunden war — nach Jahren der ideologischen Schulung und Vorbereitung, ohne tiefere Kontakte außerhalb des Neonazismus. Tatsächlich hat sich bis zu ihrem 19. Lebensjahr fast alles in einer braunen Parallelwelt abgespielt: Ihr erster Freund war Rechtsrock-Musiker, ihre Freizeitaktivitäten waren politisch geprägt, ihr Freundeskreis beschränkte sich im Wesentlichen auf ebenso radikale Neonazis, sie war die meiste Zeit arbeitslos und ihren politischen Idealen verschrieben. Die Auswirkungen dieser Bindungen werden im Buch deutlich dargestellt und für Außenstehende verständlich erklärt. Benneckenstein macht begreiflich, wie aus einem Kind eine militante Neonazistin wurde, die 2008 mit ihrer Gruppe ohne Skrupel einen Journalisten brutal attackiert hat. Mit dieser Schilderung sensibilisiert Benneckenstein zugleich für die Gefahr der (organisierten) völkischen Erziehung, die vor allem ein Ziel verfolgt: eine neue Generation von Neonazis heranzuziehen, die nach dem imaginierten Tag X das Führungspersonal des „Vierten Reichs“ stellen soll (S.61). In dieser Hinsicht ist „Ein deutsches Mädchen“ ein erfreuliches Novum unter der existierenden Literatur, wird die völkische Erziehung doch zum ersten Mal im Detail von einer Aussteigerin thematisiert.
Allerdings war die Bindung zumindest für Benneckenstein nicht allumfassend. Im letzten Drittel des Buches beschäftigt sich die Autorin ausführlich mit den ersten vorsichtigen Zweifeln und Widersprüchen, die immer stärker wurden, je länger sie sich engagierte, und die sich irgendwann nicht mehr ignorieren ließen. Anschaulich beschreibt sie, welche Kleinigkeiten sie zum ersten kritischen Nachdenken gebracht haben, wie die enge Bindung an die Szene aber zunächst jeden Ausstiegsgedanken zunichte gemacht hat. Es sollte letztlich mehrere Jahre dauern, bis Benneckenstein der Bruch gelingt. Ihren Höhepunkt erreichte die folgende Phase 2009 in München, wo sie mit ihrem damaligem Freund und heutigem Ehepartner Felix Benneckenstein lebte — einem umtriebigen Neonazi, den sie noch aus ihrer Erdinger Zeit kannte. Er hatte die örtliche Kameradschaft gegründet, war gut vernetzt und als Liedermacher Flex bekannt geworden. Die beiden teilten allerdings die Irritation über die Szene, lästerten immer wieder über Kameraden und über die offensichtlichen Widersprüche, die sie bemerkten.
Mit 17 wurde Benneckenstein dann unerwartet schwanger und erinnerte sich als werdende Mutter wieder an ihre eigene völkische Kindheit, an die liebelose Erziehung und den harten Drill, der ihr schwer zugesetzt hat. Schnell beschloss das Paar, dass es ihrem Kind einmal besser ergehen soll. Sie zogen sich zurück, hatten kaum mehr Kontakte in die Szene, bekamen ihr Leben allmählich in den Griff. Doch das Kind starb noch im Mutterleib, sie erlitt eine Fehlgeburt und trauerte um ihren Verlust. Ausgerechnet in dieser Zeit wurde Felix’ erste CD veröffentlicht, er wurde für Liederabende gebucht und geriet mit jedem Auftritt tiefer in die Szene, aus der sie sich eigentlich lösen wollten. Sein Engagement führte ihn am Ende geradewegs in eine Schlägerei mit Philipp Hasselbach, bei der er schwer verletzt wird und gegen diesen aussagt, sowie in eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen zahlreicher unbezahlter Geldstrafen. Unter diesen Eindrücken nahmen sie nach der Entlassung schließlich Kontakt zur Aussteigerorganisation „Exit-Deutschland“ auf, die ihren Absprung aus der Szene professionell begleitete.
Der Leser begleitet die Benneckensteins durch diese komplizierte Phase, durch die Rückschläge und die immer neuen Anstrengungen, erlebt die Schwierigkeiten und die Hürden. Vor allem aber wird nachvollziehbar, wie die extreme Rechte einem solchen Ausstieg entgegenwirken möchte. Die Szene agiere „wie eine Krake mit tausend Fangarmen“, schreibt die Autorin (S.161). Sie binde die Mitglieder streng an die jeweilige Organisationen, isoliere sie weitgehend gegenüber äußeren Einflüssen und Personen, sodass man außerhalb der Szene keine realistischen Perspektiven hat — ein Effekt, der der „nationalen Bewegung“ letztlich noch mehr fanatisiertes Personal bringt (S. 230). Ihre eigene Erfahrung kann diesbezüglich als konkretes Beispiel verstanden werden, nach welchen Prinzipen das im Einzelfall funktioniert.
Insgesamt hat Benneckenstein ein gelungenes und überzeugendes Buch vorgelegt, das den bestehenden Markt bereichert. Es ist kein Enthüllungsbuch über die rechtsextreme Szene, denn die Mehrheit der genannten Personen und Organisationen sind durch antifaschistische Recherchen ausgiebig dokumentiert und beleuchtet (S.75, S.78, S. 81, S 213, u.a.). Bislang unbekannte Informationen über die HDJ oder über die bayerische Szene lassen sich dem Buch, abseits der persönlichen Beschreibungen, jedenfalls nicht entnehmen. Außerdem liefert ihre Biografie an manchen interessanten Stellen kaum Einblicke, die nicht bereits bei anderen Autoren beschrieben wurden — zum Beispiel bei dem Abschnitt über Frauen in der Szene, dessen Ausführungen sich hauptsächlich auf das exzellente Buch „Mädelsache“ von Andrea Röpke und Andreas Speit stützen (S.83, S. 87 u.a.), angereichert mit einigen persönlichen Erfahrungen, die die Autorin im Laufe der Zeit gesammelt hat. Das ist umso bedauerlicher, zumal sie eine der ersten weiblichen Aussteigerinnen ist, die ausführlich über ihre Erlebnisse geschrieben hat. Andere Thesen wiederum erscheinen zumindest fragwürdig, wenn etwa die „persönliche Unzufriedenheit“ als ein „Nährboden für rechte Gesinnung“ beschrieben wird, der „fast immer“ ausschlaggebend sei (S.100). Auch wenn dieses Bild in der Aussteiger-Literatur häufig bedient wird, ist es als allgemeine Analyse zu simpel und wird den unterschiedlichen Biografien von Neonazis kaum gerecht.
Aber Benneckenstein gelingt etwas, was bisher noch wenigen Aussteigern gelungen ist: Sie legt tatsächlich eine wohlüberlegte Publikation vor, die sich durch eine grundlegende Reflexion mit der einstmals vertretenen Ideologie auszeichnet. Beim Lesen lässt sich deutlich erkennen, wie sie sich über lange Zeit akribisch mit deren Menschenfeindlichkeit auseinandergesetzt und diese als solche erkannt hat, ohne ihre frühere Überzeugung retrospektiv mit irgendwelchen Entschuldigungen zu erklären. Gleichzeitig hat das Werk insofern einen besonderen Wert, als dass es die Perspektive und die Wahrnehmung erweitern kann. Seine Lektüre führt den Leser_innen vor Augen, dass es neben dem militanten Neonazismus weitere politische Aktionsformen und andere „Einstiegswege“ gibt, als den des „orientierungslosen Jugendlichen“. Bedenkt man den prägenden Einfluss, den Aussteiger gemeinhin auf die öffentliche Wahrnehmung der Szene haben, kann man diese zusätzliche Perspektive gar nicht hoch genug schätzen.
So gesehen ist „Ein deutsches Mädchen“ eines der besten Aussteiger-Bücher, das gegenwärtig erhältlich ist. Es vereint im Grunde alles, was eine überzeugende Publikation ausmacht: Eine realistische Beschreibung der Szene und des Ausstiegs, eine gründliche Auseinandersetzung mit der früheren Ideologie sowie eine aufrichtige Beschäftigung mit den eigenen Taten, frei von entschuldigenden Ausreden. In Kombination mit seinem Blick auf das völkische Milieu ist das wesentlich mehr, als die übrigen Aussteigerbücher anzubieten haben. Das Werk verdient deshalb trotz kleinerer Schwächen eine klare Leseempfehlung — auch wenn es die Lektüre von Fachliteratur nicht ersetzen kann und will.
Heidi Benneckenstein, Ein deutsches Mädchen – Mein Leben in einer Neonazi-Familie, Stuttgart 2017 (Tropen-Verlag), 249 Seiten, 16,95 Euro.