Auf der antisemitischen Website Judas.Watch wurden politische Feinde von Rechtsextremen gelistet. Mittlerweile ist die Hassseite vom Netz. Der Drahtzieher sitzt vermutlich in Österreich.
Von Christof Mackinger und Sabina Wolf
Im April 2016 war Aydan Özoğuz noch eine von drei Dutzend Menschen aus Deutschland auf der Website. Anfang 2020 ist die Bundestagsabgeordnete der SPD schon eine von 384 Personen, die auf der Hetz-Homepage Judas.Watch als „Verräter der Weißen Rasse“ in der Bundesrepublik gelistet sind. Die Seite ist ein Online-Pranger für Prominente, die nicht in das politische Weltbild von Rechtsextremisten passen.
„Solche Listungen können Anstoß zu weiteren Drohmails sein“, befürchtet die Hamburger Politikerin, die auf Judas.Watch als „Person mit hohem Einfluss“ markiert ist, als Teil einer angeblichen Weltverschwörung. Mittlerweile ist die Seite offline. Am Dienstagvormittag dieser Woche war sie zum vorerst letzten Mal erreichbar – zu der Zeit, als ZEIT ONLINE und die Politmagazine ARD Report München und BR Kontrovers gemeinsam über Judas.Watch recherchierten. Im Zuge dieser Recherche stellte sich auch heraus: Der mutmaßliche Hintermann könnte ungestraft davonkommen.
„Jüdischen Einfluss“ dokumentieren
Die bislang anonymen Macher von Judas.Watch hatten es sich zum Ziel gesetzt, vermeintlich „jüdischen Einfluss“ zu dokumentieren. Die 2016 ans Netz gegangene Website ist von einer paranoiden Weltsicht geprägt. Özoğuz wurde ausweislich ihres Profils auf Judas.Watch wegen ihrer Aussagen zur Migrationspolitik in die Datenbank aufgenommen. Für andere Personen sind Gründe wie „Feminismus“, „Globalismus“, „Subversion“, „Kulturmarxismus“ oder „Rassenschande“ angegeben. Das Vokabular ist zweifelsfrei dem Neonazi-Spektrum zuzurechnen.
Einträge finden sich unter anderem zu dem Satiriker Jan Böhmermann, der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano und Charlotte Knobloch, der früheren Präsidentin des Zentralrats der Juden. „Ich bin sehr froh und erleichtert, dass die Hass-Seite Judas.Watch endlich nicht mehr erreichbar ist“, sagt Knobloch. Neben Özoğuz war sie eine der ersten Gelisteten aus Deutschland.
Der genaue Grund für das Aus ist unklar. „Was wir wissen: Die Seite ist offline. Man kann nur spekulieren, wer tatsächlich den Stecker gezogen hat“, sagt der Sicherheitsexperte Matthias Rosche vom IT-Dienstleister SecureLink.
Kennzeichnung mit Davidstern
Am antisemitischen Hintergrund der Seite besteht indes kein Zweifel. Die Macher würden eine jüdische Weltverschwörung vorspiegeln, sagt der Sprecher des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA), Levi Salomon. In rechtsextremen Zirkeln sei Antisemitismus „die umfassende Erklärung dafür, wie und warum die Welt ist, wie sie ist“.
Das schlägt sich in der Gestaltung nieder: Neben einigen Einträgen, wie dem zur Berliner Filmproduzentin Alice Brauner, findet sich ein Davidstern. In Gelb, wie ihn zur Zeit des Nationalsozialismus Juden und Jüdinnen in Deutschland tragen mussten. „Ich bin kein ängstlicher Mensch“, erzählt Brauner am Telefon. „Aber nach dem Mord an Walter Lübcke …“ Auch der CDU-Politiker wurde auf Listen von Rechtsextremen geführt, allerdings nicht auf Judas.Watch. Am 2. Juni 2019 wurde er vor seinem Haus erschossen, ein Neonazi sitzt mittlerweile als Verdächtiger in Untersuchungshaft.
„Solche Listen können zu schrecklichen Dingen führen“, sagt Brauner. JFDA-Sprecher Salomon beurteilt Judas.Watch nicht nur als gefährlich, sondern als volksverhetzend und „durchaus strafrechtlich relevant“.
Mutmaßlicher Urheber durchgesickert
Wieso blieb die Seite dennoch jahrelang unbehelligt im Netz? Den Behörden war sie bekannt. Hanna Hammer, Sprecherin des Bundeskriminalamts, bestätigt, das Ziel von Websites wie Judas.Watch sei „Angst zu schüren und Verunsicherung zu verbreiten“. Man sehe aber keine konkrete Gefährdungslage und auch „keine strafrechtlich relevanten Inhalte“. Dennoch habe die Behörde eine Löschung bei dem „im Ausland“ ansässigen Provider angeregt. Eine Antwort sei nie gekommen.
Die Hintermänner von Judas.Watch verbergen ihre Identität mit einem Dienst, der die Urheberschaft von Websites verschleiert. Nachdem aber Ende vergangenen Jahres bekannt wurde, dass der Macher wohl aus Österreich agiert, stieg der Druck. In durchgesickerten Daten des gehackten Neonazi-Forums IronMarch konnte ein Nutzer ausfindig gemacht werden, der angab, er habe die Seite aufgebaut. Nach eigenen Angaben handelt es sich um einen österreichischen Informatiker, der unter dem Pseudonym Kikel Might agiert. Der Name ist offenbar an das englische Schimpfwort „Kike“ angelehnt, eine verunglimpfende Bezeichnung für Juden und Jüdinnen.
Keine Strafverfolgung – bislang
Mithilfe seiner E-Mail-Adresse und anderen Angaben könnte der zentrale Kopf hinter Judas.Watch von den Strafverfolgungsbehörden dingfest gemacht werden. Diese aber sehen keinen Anlass dazu. Laut Einschätzung des Bundeskriminalamts und des österreichischen Innenministeriums gibt es weder eine Gefahrenlage noch einen Gesetzesverstoß. Angesichts der Verschiebungen in der politischen Landschaft Österreichs wäre aber in Zukunft „eine andere rechtliche Interpretation der Website denkbar“, glaubt IT-Experte Rosche.
Für Betroffene bleibt die Situation vorerst ungewiss. Politikerin Özoğuz sagt: „Das eigentlich Erschreckende ist ja, dass man gar nicht weiß, wie viele solcher Listen existieren und wie ernst es die Verfasser damit tatsächlich meinen.“ Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, versteht nicht, dass keine Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Urheber anlaufen. Der nächste Schritt müsse sein, „die Hintermänner zur Rechenschaft zu ziehen, die über Jahre Antisemitismus und Rassismus verbreitet haben“.
Update: Die Generalstaatsanwaltschaft München teilt mit, dass tatsächlich bereits Ermittlungen im Zusammenhang mit Judas.Watch angelaufen sind. Das Verfahren wegen Volksverhetzung beruhe auf einer Strafanzeige aus dem vergangenen Jahr und laufe gegen Unbekannt.