Im Dokumentarfilm Spuren kommen Familien von Mordopfern des NSU zu Wort. Noch immer sind Angehörige verbittert – und kämpfen trotzdem um ihren Platz in der Gesellschaft, beobachtet Regisseurin Aysun Bademsoy.
Interview: Tom Sundermann
Zehn Menschen fielen zwischen 2000 und 2007 den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zum Opfer: acht Türken, ein Grieche, eine deutsche Polizistin. Im Fokus der Ermittlungen standen häufig die Opfer und ihre Familien selbst – bis feststand, dass die Taten Teil einer rechtsextremen Terrorserie waren.
Darauf folgte einer der größten Strafprozesse der Nachkriegszeit. Im Juli 2018 fiel nach über fünf Jahren das Urteil: lebenslang für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, teils sehr kurze Strafen für ihre vier Mitangeklagten. Angehörige von Opfern und ihre Anwälte zeigten sich gegen Ende enttäuscht, kritisierten das Verfahren als unzureichend. Seitdem ist von dem Thema nur noch wenig zu hören.
Die Berliner Regisseurin Aysun Bademsoy will den Familien nun in einer Dokumentation eine Stimme geben. Für den Film Spuren führte sie Interviews mit Angehörigen von vier der Ermordeten. Der Film läuft ab dem 11. Februar in mehreren deutschen Kinos. Im Interview berichtet Filmemacherin Bademsoy von der Last, die der Fall NSU den Familien bis heute aufbürdet. Aber auch von deren Willen, nicht vor den Folgen des Hasses zu kapitulieren.
ZEIT ONLINE: Das Urteil im NSU-Prozess liegt über anderthalb Jahre zurück, die Mordserie selbst noch viel länger. Ist dieser Fall nicht längst auserzählt?
Aysun Bademsoy: Nein. Ich wollte herausfinden, was davon an Spuren bei den Familien geblieben ist. Für sie war die Stigmatisierung so schlimm, sie wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Mich hat interessiert: Wie können die, die hiergeblieben sind, noch hier leben? Ist das noch eine Heimat für sie? Und können sie diesem Staat noch trauen?
ZEIT ONLINE: Können sie?
Bademsoy: Gamze Kubaşık, die Tochter des in Dortmund erschossenen Mehmet Kubaşık, sagt im Film: Dortmund ist meine Stadt. Sie hat einen Mann, den sie in der Türkei kennengelernt hat, doch dort könnte sie nicht leben. Deutschland ist ihre Heimat. Die Angehörigen sind zwar auch verbittert, aber sie lassen sich nicht wegschubsen. Denn dass sie weggehen, das wollen die Neonazis ja.
ZEIT ONLINE: Die Witwe des ersten Mordopfers Enver Şimşek, Adile Şimşek, wohnt allerdings mittlerweile wieder in der Türkei. Sie haben sie dort besucht und ein ausführliches Interview mit ihrer Mutter Adile geführt.
Bademsoy: Es war ein sehr bewegendes Treffen. Sie ist mit gebeugtem Kopf um den Tisch auf ihrem Balkon gegangen, um zu zeigen, wie sie sich jahrelang in der Öffentlichkeit bewegt hat. Sie konnte niemandem in die Augen sehen, denn das Bild ihres Mannes war in den Dreck gezogen worden. Als herauskam, dass ihr Mann von Neonazis ermordet worden war und nicht von kriminellen Widersachern, war ihre Ehre wiederhergestellt.
ZEIT ONLINE: Wie fühlen sich die Opferfamilien insgesamt wahrgenommen?
Bademsoy: Sie haben während des NSU-Prozesses gesagt, dass sie sich mehr Aufmerksamkeit für sich wünschen. Denn der Blick der Öffentlichkeit hat sich viel stärker auf Beate Zschäpe gerichtet. Diese fünfeinhalb Jahre Verfahren haben keinen von ihnen zufriedengestellt. Sie wollen vollständige Aufklärung über alles, was da passiert ist, sie wollen alle Akten sehen. Und ich bemerke auch: Für die jüngere Generation ist der NSU kein Begriff. Das muss ein Thema in den Schulen sein! Was den Opfern angetan wurde, ist bei vielen nicht angekommen.
ZEIT ONLINE: Sie haben selbst einen türkischen Hintergrund, zählen sich zur Nachfolgegeneration der Gastarbeiter. Hat der NSU-Fall diese gesamte Generation erschüttert?
Bademsoy: Das hat er, und nicht allein. Die Geschehnisse in Chemnitz, der Mord an Walter Lübcke, der Synagogen-Anschlag von Halle – da ist etwas losgetreten worden, wo man nicht weiß, was passiert hier, was ist los in Deutschland? Und je mehr Leute dieser Tage AfD wählen, desto mehr muss man gegen diese Tendenz arbeiten.
ZEIT ONLINE: War der Film so etwas wie eine persönliche Spurensuche für Sie?
Bademsoy: Ja. Schon, als die Morde noch unaufgeklärt waren, dachte ich mir die ganze Zeit: Da stimmt was nicht. Die Täter haben praktisch in aller Öffentlichkeit zugeschlagen, teils sogar in der Nähe von Polizeistationen. Bei Ermittlungen standen dann die Opfer im Verdacht, mit Drogen gehandelt oder Affären gehabt zu haben. Dabei hatte ich Behörden wie die Polizei oder den Verfassungsschutz immer für gute Apparate gehalten. Ich dachte: Die arbeiten anständig. Es war ein großer Schock für mich, als dann herauskam, dass Rechtsextremisten dahintersteckten. Diese Taten hätten auch meinen Vater oder meine Brüder treffen können.
ZEIT ONLINE: War es schwer, mit den Familien in Kontakt zu kommen?
Bademsoy: Die Anwälte der Nebenklage haben sie sehr sorgfältig geschützt. Ich bin regelmäßig zum Prozess gefahren, wusste aber zu Beginn noch gar nicht, was für einen Film ich eigentlich machen will. Dann habe ich mit den Anwälten vereinbart, nach dem Urteil Interviews mit den Angehörigen zu führen.
ZEIT ONLINE: Welchen Eindruck haben die Protagonisten auf Sie gemacht?
Bademsoy: Die Familien sind viel stärker, als ich sie zuvor wahrgenommen habe. Sie sagen: Wir geben diesen Kampf nicht auf. Die Eltern des in Kassel erschossenen Halit Yozgat haben nach dem deprimierenden Verlauf der Urteilsverkündung abgesagt. Wo Neonazis im Zuschauersaal applaudierten und der Richter das hat geschehen lassen. Und kein Wort des Dankes, der Würdigung, dass die Familien fünfeinhalb Jahre so diszipliniert waren. Viele sind seitdem verstummt, weil sie so enttäuscht sind.