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„Juristischer Blindflug“ im Mordprozess?

 

Im Prozess um den Mord an Walter Lübcke rückt ein ehemaliger Verteidiger des Hauptangeklagten in den Fokus: Hat er ein falsches Geständnis erfunden?

Von Martín Steinhagen

Der Angeklagte Stephan E. (Mitte) mit seinen Verteidigern Mustafa Kaplan (links) und Jörg Hardies. © dpa/Boris Roessler

„Ich bin Frank Hannig. Ich bin Rechtsanwalt und Strafverteidiger.“ Mit diesen Worten stellt sich der Dresdner Anwalt und Freie-Wähler-Stadtrat gerne in Videos auf seinem YouTube-Kanal vor. Mal geht es darin um Blitzer-Bußgelder, mal um „Impfzwang“ oder um „die Wahrheit über den Migrationspakt“. Auch den Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder Stephan E. vor dem Oberlandesgericht Frankfurt (OLG) hat Hannig dort regelmäßig aus der Selfie-Perspektive kommentiert.

Er hatte einen berechtigten Anlass: Hannig war Verteidiger von E., der sich wegen des Mordes am hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke im Juni 2019 und eines früheren Mordversuchs an einem jungen irakischen Geflüchteten verantworten muss. Der Angeklagte hat sich mittlerweile von Hannig getrennt. Inzwischen schweigt der Anwalt auf YouTube zu dem Verfahren. Im Gerichtssaal ist er aber umso mehr in den Fokus geraten.

Wer hat die Aussage erfunden?

Das Gericht untersucht die Rolle von Hannig bei einer Aussage von E., die in entscheidenden Teilen erfunden war – so hatte es der Angeklagte im Prozess selbst dargestellt. Der fünfte Strafsenat des OLG will wissen: Von wem? Hatte Hannig die Idee, wie E. behauptet? Das dürfte für das Gericht auch bei der Frage von Bedeutung sein, wie glaubwürdig das Geständnis ist, das E. im Prozess abgelegt hat.

E. hat seit seiner Festnahme vergangenen Sommer gleich drei Versionen der Tatnacht präsentiert. Drei Versionen, in denen er sich selbst und vor allem seinem früheren Kameraden Markus H. unterschiedliche Rollen beim Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten zuschreibt. H. sitzt mit E. auf der Anklagebank, ihm wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen.

Zuerst nahm E. die Tat allein auf sich und bekannte, Lübcke erschossen zu haben. Damals wurde er vom Anwalt Dirk Waldschmidt vertreten, einem Szeneanwalt des rechten Milieus. Später wurde Hannig sein Verteidiger und E. widerrief das Geständnis. Er schob Markus H. die Verantwortung für den tödlichen Schuss zu. Hannig berief im Januar eigens eine Pressekonferenz in einem Hotel ein, um über die neue Aussage zu berichten. Schon bei früheren Mandaten hatte er die Öffentlichkeit gesucht. Vom Prozess gegen vier Männer, die einen Flüchtling im sächsischen Arnsdorf an einen Baum gefesselt hatten, berichtete er etwa als Gastredner bei der rechtsextremen Bewegung Pegida.

Reine Taktik?

Inzwischen hat E. auch diese Version zurückgenommen und den Mord vor Gericht erneut gestanden. Er will selbst geschossen haben, sein Mitangeklagter soll aber mit am Tatort gewesen sein, sagt E. nun. Das zweite, falsche Geständnis sei die Idee von Hannig gewesen und bloße Prozesstaktik, um Markus H. zu einer Aussage zu verleiten.

Immerhin zwei weitere Zeugen haben diese Woche die Version von E. bestätigt. Beide sitzen üblicherweise in ganz anderer Funktion in Gerichtssälen, nämlich als Verteidiger. Der Angeklagte hatte sie dafür teilweise von ihrer Schweigepflicht befreit.

Am Donnerstag schildert der Kasseler Anwalt Bernd Pfläging, was sein ehemaliger Mandant ihm über den Dresdner Kollegen berichtet hatte. Er sei damals erstaunt gewesen über die Einlassung samt Pressekonferenz, sagt der 51-Jährige. Das sei die Strategie von Anwalt Hannig, habe ihm E. bei einem Termin in der Justizvollzugsanstalt erklärt. Der Verteidiger wolle so eine Aussage-gegen-Aussage-Situation provozieren, wenn H. als Reaktion darauf wiederum E. bezichtige. Damit solle das Gericht nach dem Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ gezwungen werden, jeweils zu Gunsten des einen Angeklagten davon auszugehen, dass der andere geschossen habe.

Der Richter muss lachen

Der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel lacht kurz auf, als er das hört. Auch Pfläging schien von den Erfolgsaussichten einer solchen Strategie alles andere als überzeugt. Er habe E. vorab dringend davon abgeraten, sich darauf einzulassen, sagt er aus, weil er das für „juristischen Blindflug“ gehalten habe. Hannig selbst habe ihn vorher nicht eingeweiht, sondern nur einen „Knaller“ angekündigt und dass er die Strafverteidigung in Deutschland auf neue Beine stellen werde.

Bereits am Montag hatte der derzeitige Verteidiger von Stephan E. seine schwarze Robe abgelegt und sich an den Zeugentisch gesetzt. Mustafa Kaplan berichtete davon, dass Hannig, mit dem er zu Prozessbeginn noch zusammenarbeitete, ihm in einer morgendlichen Besprechung erzählt habe, dass er entscheidende Teile der zweiten Tatversion erfunden habe. Das sei kein Problem, in einem Strafprozess dürfe man schließlich lügen. Kaplan sagte aus, er habe überrascht erwidert, dass das auf den Angeklagten zutreffe, aber doch nicht auf dessen Anwalt.

Frank Hannig wollte sich auf Anfrage von ZEIT ONLINE nicht äußern. Er soll noch als Zeuge vor Gericht aussagen. Genau wie sein Vorgänger, der frühere hessische NPD-Landesvize Waldschmidt, der bereits diese Woche kurz befragt wurde. Er wiederum soll laut E. zu dem ersten, später widerrufenen Geständnis gedrängt und finanzielle Unterstützung aus der Szene zugesichert haben, wenn er H. nicht verrate. Waldschmidt hat das nach Informationen von ZEIT ONLINE in einer Vernehmung bestritten.

Die Staatsanwaltschaft in Kassel wird laut einem Sprecher noch prüfen, ob die Behörde in der Angelegenheit Hannig für „weitere Maßnahmen zuständig sein wird“. Grundsätzlich komme möglicherweise „eine Strafbarkeit wegen Anstiftung zur falschen Verdächtigung in Betracht“.