Bei einem Brandanschlag vor 30 Jahren starb ein Kind. Nun nehmen Ermittler die Arbeit wieder auf – einen wichtigen Hinweis auf die mutmaßlichen Täter hatte die Polizei kaum beachtet. In einem weiteren tödlichen Fall will die Polizei jedoch nicht noch mal ermitteln.
Von Heike Kleffner und Frank Jansen
Vor dreißig Jahren verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf ein Wohnhaus im allgäuischen Kempten. Zeynep, Gökhan und Guney S. (Namen geändert) überlebten schwer verletzt, doch für ihren fünfjährigen Bruder kam jede Rettung zu spät. Er starb in der Nacht des 17. November 1990. Bis heute ist der Fall unaufgeklärt. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten die Ermittlungen nach kurzer Zeit eingestellt – und die türkischstämmige Familie mit vielen Fragen zurückgelassen.
Jetzt wird der Fall neu aufgerollt. Nach Recherchen von ZEIT ONLINE und dem Tagesspiegel über ein Bekennerschreiben von Rechtsextremen ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft München. Man schließe ein „extremistisches Tatmotiv“ nicht aus, sagt ein Behördensprecher – nachdem die Behörden das Bekenntnis drei Jahrzehnte lang offenbar ignoriert hatten.
„Der Verlust unseres Bruders bekommt damit endlich die verdiente juristische Aufmerksamkeit als hinterhältiger Mord“, sagen die überlebenden Geschwister. Auch wenn die Chancen auf neue Erkenntnisse gering sind, „hoffen wir dennoch darauf, dass neue Details zutage kommen – vielleicht auch zu ähnlich gelagerten Taten.“
Gewaltdrohungen im Bekennerschreiben
Die sechsköpfige Familie S. lebte 1990 mit anderen Bewohnern türkischer Herkunft in dem dreistöckigen Haus am Rande der Kemptener Innenstadt. Zeynep, Gökhan und Guney standen an der Schwelle zur Volljährigkeit. In der Novembernacht verschütteten die Täter vor den Wohnungen im zweiten und dritten Stock eine brennbare Flüssigkeit und zündeten sie an. Gökhan S. beschreibt präzise, wie ihn die Schreie seiner Mutter weckten, während der dunkle Rauch die Wohnung füllte. Die drei älteren Geschwister sprangen aus dem Fenster. Erst nach Minuten verstanden die Feuerwehrleute, dass ihr kleiner Bruder noch in der Wohnung war, und holten ihn heraus. Wenig später starb der Junge im Krankenhaus an einer Rauchgasvergiftung.
Von dem, was danach geschah, erfuhr die Familie von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht viel. Auch nicht, dass wenige Tage später eine Gruppe namens Anti Kanaken Front Kempten ein Bekennerschreiben verbreitet. In Runenschrift und mit Hakenkreuz verziert schreiben die Urheber, der „sehr erfolgreiche Anschlag“ sei „erst der Anfang“ gewesen. Sie drohen: „Wir werden nicht ruhen, bis Kempten von allen undeutschen Kreaturen befreit ist.“ Weiter heißt es: Kempten werde die „erste Stadt sein“, die „nicht von Schwulen, Linken, Ausländern und anderen Schweinen geplagt“ werde.
Wesentlichen Einfluss auf die Ermittlungen schien das Dokument nicht zu nehmen – obwohl in den Wochen zuvor und danach weitere Brandanschläge in Kaufbeuren, Immenstadt und Kempten verübt wurden. Die Anschläge sind zwar im bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnt. In den Medien und in der Öffentlichkeit fand die Lesart einer rechtsextremistischen Serie jedoch kaum Niederschlag. Mitverantwortlich dafür war wohl auch die Strategie des damaligen Kemptener Polizeipräsidenten, die Taten, die Motive und das Ausmaß der rassistischen Gewalt von organisierten Neonaziskinheads so lange wie möglich zu verheimlichen.
Ermittler prüfen weitere Fälle
Die Polizei ermittelte damals wegen schwerer Brandstiftung, nachdem die Ermittler vor allem eine Hausbewohnerin unter Verdacht hatten. Im August 1992, nach weniger als zwei Jahren, stellte die Staatsanwaltschaft Kempten die Ermittlungen ein. Nachdem ZEIT ONLINE und Tagesspiegel im September dieses Jahres zum Stand des Verfahrens nachgefragt hatten, prüfte die Staatsanwaltschaft die alten Akten und stieß dabei auf das neonazistische Bekennerschreiben. Man habe schon 1990 den „Urheber des Schreibens im rechtsradikalen oder -extremen Bereich vermutet“, aber niemanden ermitteln können, teilte die Behörde mit. Schließlich übergab sie den Fall an die Generalstaatsanwaltschaft in München. Zuständig ist die dort angesiedelte Zentralstelle für Extremismus und Terrorismus. Die Polizei in Neu-Ulm richtete eine „Soko 1990“ ein. Ermittelt wird wegen des Verdachts auf Mord. Das ist rechtlich auch nach 30 Jahren noch möglich, da Mord nicht verjährt.
„Dass sich die Gesellschaft und die Justiz in den vergangenen Jahrzehnten so verändert haben, dass jetzt auch selbstkritische Nachforschungen gefördert werden, stimmt uns auf jeden Fall hoffnungsvoll“, sagen Zeynep, Gökhan und Guney S. Die Geschwister haben inzwischen eine eigene Anwältin beauftragt – die Jenaer Strafverteidigerin Kristin Pietrzyk, die seit Jahren Opfer rechtsterroristischer Anschläge vertritt. Von der Wiederaufnahme der Ermittlungen gehe ein „sehr wichtiges Signal aus“, sagt Pietrzyk. Die Verharmlosung als schwere Brandstiftung sei schon in den Neunzigerjahren untragbar gewesen, die Einstufung als Mord lange überfällig.
Laut der Antwort des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen im Landtag prüft die Generalstaatsanwaltschaft nun auch mögliche Verbindungen zu den weiteren neonazistischen Brandanschlägen im Allgäu. „Wenn wir dem Extremismus juristisch nicht konsequent nachgehen, haben wir bereits gegen ihn verloren“, sagen die überlebenden Geschwister.
Weiterer Fall im Allgäu bleibt offen
Bei einem anderen mutmaßlich rechtsextremen Tötungsverbrechen im Allgäu bleibt das Verhalten widersprüchlich. In der Nacht zum 26. April 2008 hatte in Memmingen der Rechtsextremist Alexander B. seinen Nachbarn Peter Siebert erstochen. Siebert hatte sich über die von B. laut abgespielte rechte Musik beschwert. Alexander B. tötete Siebert in dessen Wohnung mit einem Bajonett. Das Landgericht Memmingen verurteilte den Täter im Dezember 2008 in einem nur eintägigen Prozess wegen Totschlags zu acht Jahren und drei Monaten Haft. Die Richter sahen kein rechtes Motiv. Als der Tagesspiegel den Fall 2010 aufgriff, sagte der Sprecher des Gerichts, ein rechtsextremer Hintergrund sei wahrscheinlich. Dennoch passierte zunächst nichts.
Vor einem Jahr nannte der Tagesspiegel bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamts in Wiesbaden den Fall Siebert als Beispiel für unzureichende Aufklärung tödlicher rechter Gewalt. Das Polizeipräsidium Schwaben Süd/West wollte sich dann noch mal die Akten anschauen. Auf Anfrage sagte am Mittwoch der zuständige Sachbearbeiter, die Prüfung sei abgeschlossen. Es werde sich nicht mehr klären lassen, „ob es ein politisch motiviertes Delikt war“. Der Täter sei grundsätzlich politisch motiviert gewesen, doch das habe bei der Tat nicht im Vordergrund gestanden. Alexander B. und Siebert hätten auch Streit wegen einer Frau gehabt. Sie sei erst mit Alexander B. zusammen gewesen, dann mit Siebert. Der Streit um die Musik sei dann hinzugekommen. Der Täter habe eine rechte Grundhaltung gehabt, diese sei aber für die Tat „nicht ursächlich gewesen“, sagte der Sachbearbeiter. Die Polizei werde wegen des Falles Siebert nicht mehr ans Landgericht herantreten.