Nach den Mythen um das Coronavirus verbreiten Verschwörungstheoretiker neue Angstszenarien. Die Folgen könnten unkontrollierbar werden, vermutet Beobachter Michael Blume.
Interview: Dominik Lenze und Bana Mahmood
Die Pandemie hat die Weltwirtschaft zerstört: Freie Märkte gibt es nicht mehr, nur den weltweiten Sozialismus. Statt Regierungen herrscht eine globale Öko-Diktatur, geleitet vom Weltwirtschaftsforum, das all das geplant hat. Was sich liest wie der Klappentext eines dystopischen Romans, ist die feste Überzeugung vieler Verschwörungstheoretiker: Corona sei nur Vorwand für den Great Reset, den großen Neustart. Der Begriff entstammt dem Titel eines Buchs, das der Chef des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, geschrieben hat.
Religionswissenschaftler Michael Blume hat als Erster auf die Gefahr des neuen Mythos hingewiesen. Als Antisemitismus-Beauftragter von Baden-Württemberg beobachtet er die Szene der Verschwörungstheoretiker seit Jahren und meint: Die Erzählung werde nach der Corona-Krise deutlich an Fahrt gewinnen – und ihre Anhänger mit allen Mitteln kämpfen.
ZEIT ONLINE: Herr Blume, der Direktor des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab schrieb im Sommer in seinem Buch vom Great Reset, dem großen Neustart. Darin beschrieb er die positiv gemeinte Vision eines “verantwortungsbewussten Kapitalismus”. Weshalb wird die Idee von Verschwörungstheoretikern als Horrorvision weitererzählt?
Blume: Es war ein Einfaches, die Thesen in eine Verschwörung umzumünzen. Es sind alle Komponenten eines klassischen Verschwörungsmythos gegeben: Eine mächtige Gruppe, hier das Weltwirtschaftsforum, hat einen Plan – und die Menschen haben Angst. Genau so sind auch die altbekannten, judenfeindlichen Mythen aufgebaut. Klaus Schwab ist zwar kein Jude, aber er wird beschuldigt, von George Soros und den Rothschilds kontrolliert zu werden. Das ist das Problem an meiner Arbeit als Antisemitismus-Beauftragter. Es ist arg repetitiv. Die Leute nutzen die neuesten Medien, sind aber überhaupt nicht kreativ, total auf ihre Ängste fixiert und erzählen immer den gleichen Schmonzes.
ZEIT ONLINE: Viele Verschwörungserzählungen entpuppen sich als unwahr. Zum Beispiel lässt sich nur noch schwerlich bestreiten, dass Menschen an Corona sterben – was zu Beginn der Pandemie ja teils geleugnet wurde. Weshalb geben dann trotzdem viele Menschen ihren Glauben an diese Geschichten nicht auf?
Blume: Wenn Prophezeiungen nicht eintreten – und das ist gerade bei Verschwörungsmythen ja regelmäßig der Fall – entsteht kognitive Dissonanz. Die Leute haben wirklich Schmerzen: Sie haben Zeit und Geld investiert, vielleicht sogar soziale Beziehungen an die Wand gefahren – und jetzt soll alles nicht wahr gewesen sein? In solchen Situationen suchen viele Menschen nach Anschlusserzählungen. Und gerade, weil der Mythos vom Great Reset schon so lange in der Szene präsent war, gleichsam unter der Oberfläche, habe ich mir gedacht: Früher oder später wird das sicher zum Hauptmotiv dieser Mythenwelt. Und so ist es dann ja auch gekommen.
ZEIT ONLINE: In den USA verbreitet das Heartland Institute den Mythos bereits seit dem Sommer 2020. Die Organisation treibt professionell die Leugnung des Klimawandels voran. Welche Rolle spielen solche Institutionen für den Verschwörungsglauben?
Blume: Es gibt immer wieder Leute, ich nenne sie Verschwörungsunternehmer, die solche Mythen anbieten. Das funktioniert so ähnlich wie ein Franchise, als weltweites Netzwerk, sozusagen mit lokalen Zweigstellen. Ihre Kunden wollen Einfluss, Vertrauen oder Wählerstimmen und sie zahlen mit Spenden. Das Heartland Institute wurde zum Beispiel von großen Erdölfirmen wie ExxonMobil finanziert.
ZEIT ONLINE: Verschwörungsmythen werden also auch gezielt von Lobbyisten verbreitet?
Blume: Der Begriff Lobbyismus trifft es nicht ganz. Lobbyisten zielen ja auf gewählte Politiker ab. Verschwörungsunternehmer wie das Heartland Institute wollen Medienblasen aufbauen und so eine eigene Anhängerschaft mobilisieren.
ZEIT ONLINE: Was ja bei der Klimawandel-Leugnung in Teilen zu funktionieren scheint. Sie unterstützen zum Beispiel rechte Influencerinnen wie Naomi Seibt oder veranstalten Konferenzen mit angeblichen Experten.
Blume: Das war deren Geschäft, ja. Aber dann kam die Pandemie dazwischen: Niemand hatte mehr Angst vor einer wirtschaftlichen Transformation durch Klimapolitik, die Leute hatten Angst vor Covid-19. In so einer Lage ziehen alte Mythen nicht mehr. Das hat auch andere Verschwörungsgeschichten betroffen, es hatte ja auch zum Beispiel niemand mehr Angst vor einer angeblichen Islamisierung.
ZEIT ONLINE: Sterben solche Mythen dadurch aus?
Blume: Nein, die Geschichten werden unter der Hand weitergegeben und warten auf ihre Chance. Und mitten in der Pandemie hat das Weltwirtschaftsforum gesagt: Wenn wir die Wirtschaft nach der Pandemie neu starten, na, dann soll sie halt wenigstens etwas ökologischer sein als zuvor. Und da ist das Heartland Institute eingestiegen. Wenn nach Corona eine Debatte um Klimapolitik ansteht, ist das Institut erzählerisch wieder vorne mit dabei. Das ist schon alles sehr gut gemacht – aber eben auch zynisch und menschenverachtend.
ZEIT ONLINE: Das heißt, der Mythos wird uns weiter begleiten?
Blume: Ja, längerfristig lässt sich damit gegen die Transformation der Wirtschaft mobilmachen. Ich befürchte, dann wird es auch zu Gewalt kommen. In der Verschwörungserzählung vom Great Reset sind jedenfalls schon erzählerisch die Weichen gestellt worden für genau solche Entwicklungen.
ZEIT ONLINE: Zurzeit beschäftigt uns die Pandemie aber noch eher als die Klimakrise, jetzt stehen ja erst einmal die Impfungen an…
Blume: Und ich glaube, dass wir dann einen Anstieg erleben werden, was die Verbreitung der Great-Reset-Geschichte angeht. Mit dieser Geschichte wird, damit rechne ich fest, auch gegen die Impf-Kampagne mobilgemacht.
ZEIT ONLINE: Wieso das?
Blume: Die Impfung steht symbolisch für Unterwerfung. Würde ich als Verschwörungsgläubiger die Impfung akzeptieren, dann wäre das ja das Eingeständnis, dass die Ärzte und die Weltverschwörer mehr wissen als ich. Ich unterwerfe mich ja damit “deren” Kontrolle – und das ertragen Verschwörungsgläubige psychologisch nicht.
ZEIT ONLINE: Was setzt man solchen Geschichten entgegen?
Blume: Man muss aufklären. Man muss den Verschwörungsgläubigen deutlich sagen: Ihr lasst euch täuschen. Wenn ihr diese Verschwörungslügen glaubt, dann schadet ihr auch euch selbst und unterstützt Geschäftemacher, die unseren Planeten ausplündern. Manche Leute wollen sich täuschen lassen, das weiß ich als Antisemitismus-Beauftragter nur zu gut. Aber ich hoffe doch, dass es möglich ist, einen großen Teil von ihnen zu erreichen.