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Auf Flüchtlingsjagd

 

Im Januar streckten mutmaßliche Neonazis den Syrer Mohammed A. mit Schüssen nieder. Das Opfer kämpfte erst um sein Leben – und nun um sein Bild vom sicheren Deutschland.

Von Mark Müller

Mohammed A. am Tatort, der Waschanlage in Rotenburg © Mark Müller

Mohammed A. versucht ein höfliches Lächeln unter dem Mundschutz hervorzuquälen. Weiße Sneaker, schwarze Karottenjeans, blaugrauer Adidas-Kapuzenpulli. Der 20-Jährige mit der runden Brille und dem Kurzhaarschnitt würde nicht weiter auffallen. Wäre da nicht das Gehgestell, auf das er seinen Oberkörper stützen muss. Seine Beine können das Gewicht nicht tragen, ein lähmender Schmerz durchzieht sie. Am 18. Januar haben vier Pistolenkugeln Mohammeds Unter- und Oberschenkel durchbohrt. Hätten sie die Bauchregion getroffen, wäre der junge Mann höchstwahrscheinlich gestorben, sagen seine Ärzte.

Mohammed kommt heute zum ersten Mal wieder an den Tatort, eine Waschanlage in der Nähe eines Baumarkts. Hier hat ein Mann auf ihn geschossen, ein mutmaßlicher Rechtsextremist. An diesem Ort zu sein, treibt seinen Herzschlag hoch. Diese beklemmenden Angstzustände hatte er eigentlich lange hinter sich gelassen, im Bürgerkriegschaos von Syrien. Aber die Erinnerungen an die Schüsse sind zu frisch. Eigentlich fühlt er sich wohl hier. In Rotenburg. Dieser ruhigen Kreisstadt zwischen Hamburg und Bremen. Hier hat er in den letzten fünf Jahren Deutsch gelernt, ist zur Berufsschule gegangen, hat einen Ausbildungsplatz und einen Job bekommen. Mohammed packt in einem Versand sogenannte Kochboxen mit vorbereiteten Zutaten ab. Jeden Tag. Von morgens bis abends.

„Bock ein paar Flüchtlinge zu ficken?“

Am Abend des 18. Januar, einem Montag, hat er frei. Spontan fährt er mit seinem Freund Yaman H. auf das Gelände der SB-Waschanlage. Den zerbeulten Ford Mondeo seines Kumpels zu waschen, zählt zu seinen Freizeitbeschäftigungen. Was die beiden Freunde nicht wissen: Am selben Abend entschließen sich vier neunzehnjährige Männer aus einem Nachbardorf, Jagd auf Geflüchtete zu machen. Einer von ihnen fragt über den Social-Media-Dienst Snapchat: „Bock ein paar Flüchtlinge zu ficken?“

Der junge Mann steigt mit drei Bekannten in seinen Golf und fährt nach Rotenburg. Ihre Suche führt sie auf das Gelände der Waschanlage. Sofort nach ihrer Ankunft fangen die vier ein Streitgespräch mit den beiden Geflüchteten an.

„Zuerst waren da nur aggressive Blicke“, erinnert sich Mohammed. „Ich hörte aus ihrer Gruppe: ‚Was will der Flüchtling hier?'“ Ein Mann steigt aus dem Golf und fragt Mohammed, ob er ein Problem habe. „Nein“, antwortet dieser. Ein weiterer Mann nähert sich und fragt, was der Flüchtling denn wolle. Dann geht alles ganz schnell. Es kommt zu gegenseitigen Beleidigungen. Mohammed wird geschubst und sieht in der Hand des ersten Mannes eine Machete. Auch der zweite Angreifer hält jetzt eine Machete in der Hand. Mohammed hebt ein herumliegendes Lattenholz auf. Er schafft es, damit dem ersten Angreifer die Waffe aus der Hand zu schlagen.

Während des Kampfes fährt ein drittes Auto auf das Gelände der Waschanlage. Es sind die Brüder Majed und Mazem M., die sich zuvor mit Mohammed und Yaman verabredet hatten. Mazem eilt seinem Freund Mohammed zu Hilfe und überwältigt den zweiten Angreifer. Bei dem Gerangel sprüht ein anderer Reizgas ins Gesicht von Mazem M. und setzt sich auf den Fahrersitz des geparkten Golfs. Als er wiederkommt, hält er eine Pistole in der Hand. Yaman H. versteckt sich reflexartig hinter seinem Ford.

Geflohen vor den Bomben

„Gegen eine Pistole kannst du nichts machen“, sagt Mohammed, als er sich an den chaotischen Verlauf des Überfalls erinnert. Er rennt um sein Leben. Von der Waschanlage läuft er über die Straße, um sich hinter einem parkenden Lastwagen zu verstecken. Doch er schafft er nicht mehr. Einer der Angreifer feuert zuerst dreimal auf den Boden und danach aus wenigen Metern Entfernung viermal auf den Flüchtenden. Die Projektile treffen Mohammed an den Unter- und Oberschenkeln. Er sinkt schreiend zu Boden und kann seine Beine nicht mehr bewegen. Er bleibt liegen in seinem eigenen Blut.

Mohammed sagt, er habe in Syrien sechsmal dem Tod ins Auge geblickt. Als Heranwachsender sah er, wie die Armee von Machthaber Baschar Al Assad Fassbomben auf seine Nachbarschaft in der Hauptstadt Damaskus warf. Er floh mit seinen beiden Geschwistern und den Eltern vor dem Bürgerkrieg. Es gleicht einem Wunder, dass auf der zwei Jahre dauernden Flucht über den Libanon, die Türkei und Griechenland nach Deutschland alle unversehrt blieben.

Mohammeds Mutter und seine kleine Schwester schafften es 2015 über die Balkanroute. Als er mit seinem Vater und dem Bruder folgen wollte, war die Grenze nach Mazedonien bereits dicht. Anderthalb Jahre mussten die drei in einem Geflüchtetenheim warten, bevor sie nachkommen durften. Die vier Pistolenkugeln trafen Mohammed nach Krieg, Vertreibung und Flucht im vermeintlich sicheren Zufluchtsort Deutschland.

Bei dem Angriff handeln sie vier Angreifer wie im Rausch. Dass sie von einer Überwachungskamera gefilmt und von fünf Zeuginnen beobachtet werden, scheint ihnen völlig gleichgültig zu sein. Eine der Umstehenden ist eine angehende Polizistin. Sie riskiert ihr Leben und fährt mit ihrem schwarzen Mercedes in die Schusslinie. Dass der Schütze keine Patronen mehr in seiner Pistole hat, weiß sie zu dem Zeitpunkt nicht. Sie handelt instinktiv. „Sie wollte mir helfen“, meint Mohammed.

Polizeischutz im Krankenhaus

Erst in dem Moment berappeln sich die Angreifer und flüchten in ihrem Fahrzeug. Den Verletzten lassen sie zurück. „Vielleicht stand der Täter unter Alkohol oder Drogen“, mutmaßt Mohammed, „er hat die Pistole quer gehalten, wie in einem Film.“ Wenige Minuten später wird er von einem Rettungswagen in die Notaufnahme des Rotenburger Diakonieklinikums gebracht und notoperiert. Die Polizei stellt am Tatort sieben Patronenhülsen und eine der Macheten sicher.

Es ist die erste Schussverletzung für die junge Ärztin Katharina Seidensticker, die an diesem Abend Dienst hat. Mohammeds Oberschenkelknochen ist gebrochen, in seinem Unterschenkel wurden weitere Knochen verletzt. „Für uns war die Frage, was noch verletzt sein könnte. Da geht es um die Blutgefäße und Nerven“, sagt Seidensticker. Doch Gefäße und Nerven sind glücklicherweise nicht betroffen, die Projektile können entfernt werden. Wenn andere Körperregionen wie Becken, Bauch oder Brustkorb getroffen worden wären, hätte es auch schnell lebensbedrohlich werden können.

Die Ärztin Katharina Seidensticker © privat

Mohammed ist wegen seines Aussehens und seiner Herkunft zum Opfer einer Gruppe von vier mutmaßlichen Rechtsradikalen mit Waffen geworden. „Das hätte ich mir nie vorstellen können“, sagt er mit leiser Stimme. Vor dem 18. Januar hatte er nie Kontakt mit gewaltbereiten Rechtsextremen: „Hier ist es in Ordnung“, sagt er. „Ich arbeite voll und habe nur zwei bis drei Stunden frei. Essen, duschen, arbeiten, schlafen. Ich habe nie gedacht, dass es in Deutschland Leute gibt, die Pistolen haben und auf der Straße schießen.“

Polizeibeamte bewachen das Krankenzimmer des Opfers zwei Tage lang. Die Ermittler vermuten zunächst eine Fehde zweier rivalisierender Jugendbanden und fürchten, dass die Täter wiederkommen. „Ich habe die Täter vorher nie gesehen“, versichert Mohammed. „Vielleicht haben sie auf andere gewartet und sich entschieden, uns zu überfallen.“ Die Faktenlage deutet darauf hin, dass die Angreifer sich ihre Opfer willkürlich ausgesucht haben. Mohammed und Yaman hatten sich erst am selben Abend entschieden, ihre Autos zu waschen.

Die Polizei nimmt die vier mutmaßlichen Täter am nächsten Tag fest. Sie kommen in Untersuchungshaft. In Rotenburg scheint der Überfall kein großes Thema zu sein. Drei Tage nach der Tat berichtet die lokale Rotenburger Kreiszeitung, dass die Hintergründe unklar seien. Alle Beteiligten der „Auseinandersetzung zwischen Jugendgruppen“ stammten aus der Region, heißt es. Nach Angaben eines Polizeisprechers gebe es „keine Hinweise auf eine Clan-Beteiligung im Moment“.

„Kein rechtsextremer Hintergrund“

Der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Verden, Martin Schanz, bestätigt Mitte Februar, dass es „eine Gruppenauseinandersetzung gab, im Zuge derer eine Person erheblich verletzt wurde“. Laut Schanz wird derzeit gegen die vier Beschuldigten unter anderem wegen des Verdachts des versuchten Totschlags ermittelt. Die Ermittlungen – auch zum Motiv – dauerten an.

Eine Pressemitteilung zum Fall gibt die Behörde nie heraus. Ende März teilt sie mit, dass drei der vier Beschuldigten auf freiem Fuß seien. Nur einer von ihnen sitzt noch in Haft. Mehrfache Nachfragen, ob die Täter aus der rechtsradikalen Szene stammen, beantwortet die Staatsanwaltschaft nicht. Sie werte noch die Handys der Beschuldigten aus. Auf Fragen zur Beteiligung des Mannes, der noch inhaftiert ist, und zu dessen Ideologie reagierte dessen Verteidigerin nicht.

Bürgermeister Andreas Weber (SPD) versichert, dass er kurz nach der Tat mit dem Inspektionsleiter der Polizei Rotenburg den Sachverhalt erörtert habe. Rechtsextremistische, ausländerfeindliche oder rassistische Straftaten würden in der Stadtverwaltung nicht nur sensibel behandelt, sondern man versuche durch Präventionsarbeit an Schulen aktiv vorzubeugen. Man wolle damit Konflikten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Nationen besser entgegenwirken, solche Straftaten aber auch schneller erkennen und ahnden. „Genau diese Fragen wurden zwischen der Stadtverwaltung und Polizeiinspektion erörtert. Hier wurde mir bisher mitgeteilt, dass es sich bei der schweren Straftat offensichtlich um keinen rechtsextremen Hintergrund handelt“, schreibt Weber.

Es bleiben viele offene Fragen: Warum schließt die Rotenburger Polizei einen rechtsextremen Hintergrund aus, obwohl Mohammed A. und sein Freund Yaman H. bei ihrer Vernehmung versichert haben, dass sie als „Flüchtlinge“ beschimpft wurden? Warum schreibt die Staatsanwaltschaft Verden, die Motivlage sei unklar, obwohl sie in einem Beschluss das Snapchat-Posting zitiert: „Bock ein paar Flüchtlinge zu ficken?“

Yaman hilft seinem Freund Mohammed vorsichtig auf den Beifahrersitz und verstaut das Gehgestell im Kofferraum seines Wagens. Unruhig taxieren ihre Blicke das Gelände der Waschanlage. Die beiden sind nur ungern an den Tatort zurückgekommen. Von den Behörden erwartet Mohammed, „dass ich mein Recht bekomme“. Er wolle, dass sein Angreifer bestraft wird. Er selbst, sagt er, will in Rotenburg bleiben, dem netten Städtchen im Norden Deutschlands. „Hier ist ein sicheres Land. Deshalb bin ich hierhergekommen.“

Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels wurde ein mutmaßlicher Angreifer als Schütze benannt, den zunächst auch das Opfer als solchen erkannt hatte. In einer neuen Vernehmung traten Erinnerungen zu Tage, laut der ein anderer Beteiligter die Waffe geführt habe. Wir haben den Text entsprechend angepasst.

Aus Schutz vor Repressalien schreibt der Autor unter dem Pseudonym Mark Müller. Die Identität ist der Redaktion bekannt.