Mit vermeintlichen oder tatsächlichen Übergriffen wird gegen Asylsuchende gehetzt, woraufhin sich Bürgerwehren gründen und in Selbstjustiz vor allem Asylsuchende bedrohen. Wir haben einige aktuelle Beispiele aus einer Region herausgegriffen. Diese verdeutlichen das verheerende Potential, das der nach dem Silvesterabend ausgelösten Debatte innewohnt. Ein unsensibel geführter Diskurs wird weiter rechten Hetzern in die Hände spielen und die Zahl der Übergriffe – mindestens 122 Brandanschläge im Jahr 2015 – auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte auch im neuen Jahr weiter in die Höhe treiben.
Seit den Vorgängen in der Silvesternacht in Köln, als massiv Übergriffe auf Frauen begangen und auch Asylsuchende als Tatverdächtige ausgemacht wurden, tobt eine breite Debatte über „vergewaltigende Asylanten“. In vielen Beiträgen werden Gewalt und Sexismus Geflüchteten insgesamt vorgeworfen – rechts außen kursiert der Begriff „Rapefugees“. Damit wird polemisiert und gehetzt.
Erfundene Vergewaltigungen
Doch nicht erst seit Silvester wird mit vermeintlichen oder tasächlichen Übergriffen durch Geflüchtete gehetzt. In Lindau am Bodensee etwa sei eine junge Frau von mehreren Personen attackiert und misshandelt, anschließend von zweien vergewaltigt worden, woraufhin sie stationär im Krankenhaus behandelt worden sei. So wurde es um Weihnachten auf Facebook verbreitet und sorgte für heftige Reaktionen. Die Polizei fand später heraus, dass der Vorfall frei erfunden war.
In Marktoberdorf tauchten nach dem Brandanschlag am zweiten Weihnachtsfeiertag Plakate auf, die ebenso verschwiegene Vergewaltigungen behaupten. Die Polizei stellt klar, dass es in dem Pamphlet um Hetzte gegen Geflüchtete geht und nimmt den Vorfall angesichts des Brandanschlages „sehr ernst“, hat sogar Fingerabdrücke genommen, um die Urheber zu fassen. Die Überschrift der Plakate: „Wacht auf!!“
Bürgerwehren rüsten auf
Gleichzeitig gründen sich in der Region angesichts der vermeintlichen Bedrohung durch Geflüchtete – zumindest auf Facebook – Bürgerwehren, um „was dagegen zu unternehmen da die „Staatsgewalt“ die Gewalt so langsam zu verlieren scheint.“ Die Gewalt will man wohl nun selbst in die Hand nehmen. Von Geflüchteten ist zwar im hier zitierten Beispiel der „Memminger Bürgerwehr“ nicht explizit die Rede, aber „Memmingen gemeinsam gegen Rechts“ schreibt, dass „ausschließlich von Geschichten über (angebliche) Kriminalität von Ausländern berichtet und in Pegida-Manier Ängste geschürt“ werden. Der Verantwortliche selbst behaupte nicht rechts zu sein, gibt aber auf Facebook an, dass ihm PEGIDA, die Republikaner und eine weitere gegen Geflüchtete hetzende Seite gefielen. Der Staatsschutz sei alarmiert. Das zuständige Präsidium der bayerischen Polizei kennt noch eine weitere Bürgerwehr „als Diskussionsplattform“ in Sonthofen.
Auf Facebook wird die Existenz weiterer Bürgerwehren aus der Region behauptet – als „Vereinte Bürgerwehren im Allgäu“ angeblich seit einem Jahr. Der Urheber der Behauptung lädt ein Bild hoch, auf dem ein wütender Lynchmob mit Fackeln und Mistgabeln aus der Zeichentrickserie Simpsons abgebildet und mit den Worten „Bürgerwehr Isny“ umschrieben ist.
In Wangen rüsten sich anscheinend Neonazis als Bürgerwehr aus: Ein Fan des Allgäuer Neonazi-Musiklabel „Oldschool Records“ nutzt ein Profilbild mit einer von hinten vor einer Deutschlandfahne photographierten martialisch ausgestatteten Person. Erkennbar ist unter anderem eine Aufschrift „Bürgerwehr Wangen“, Handschellen und vermutlich eine Gasmaske und Baseballschläger. Dazu wird behauptet, über einen „Mannschaftsbus“ für „9 Leute und 2 Schäferhunde“ zu verfügen. Weiter ist die Rede von „GPS-Überwachung für jeden und LPD-Funk-Zentrale vor Ort, Ortung per Laptop“, aber: „Fehlen nur noch die 2-Schuß-Pfefferpistolen.“ Der Urheber des Eintrages hat auf seinem Facebook Profil angegeben, was er mag: eine Unmenge an NPD-Seiten, Anti-Asyl-Hetze, Bürgerwehren, die Identitäre Bewegung, „Leipzig steht auf“ – und Kampfsport. Davon weiß die hier zuständige Polizei nichts. Im westlichen (württembergischen) Allgäu seien solche Gruppierungen „nicht gegeben“.
Hakenkreuze und Schusswaffen
In Kempten und Memmingen wurden in den ersten Tagen des neuen Jahres Hakenkreuze und neonazistische Parolen gesprüht – auf eine Asylsuchendenunterkunft und zum wiederholten Male auf Hinweisschilder einer Moschee.
Am 14.1. druckt die Allgäuer Zeitung einen Leserbrief eines Herrn, der sich auf vorhergehende Berichterstattung zu zunehmender Verbreitung von Schusswaffen im Allgäu bezieht und bietet einen „Erklärungsversuch: Seit der […] EU-Osterweiterung überfallen uns organisierte ost- und süd-osteuropäische Verbrecherbanden […]. In unseren Städten haben sich […] kriminelle Migrantengangs gebildet […]. Und jetzt die Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber, welche uns an Silvester in Angst und Schrecken versetzt haben. Kann es vielleicht daran liegen?“
Konsequente Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt und Rassismus gefordert
Diese Beispiele aus nur einer Region und einem kurzen Zeitraum verdeutlichen das verheerende Potential, das der nach dem Silvesterabend ausgelösten Debatte innewohnt. Ein unsensibel geführter Diskurs wird weiter rechten Hetzern in die Hände spielen und die Zahl der Übergriffe – mindestens 122 Brandanschläge im Jahr 2015 – auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte auch im neuen Jahr weiter in die Höhe treiben. Dagegen fordern antirassistische und feministische Aktivisten eine konsequente Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt und Rassismus, die ausdrücklich die deutsche Mehrheitsgesellschaft erfasst. Das findet Anna-Mareike Krause auf tagesschau.de, auch der Soziologe und Biologe Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß etwa kommentiert:
„Konkret zu Köln: Es kommt erst einmal auf nüchterne (und nicht so kurzatmige) Aufarbeitung an. Hier ist die Perspektive von Feministinnen of Color und rassismuskritischen weißen Feministinnen wichtig, die darauf schauen, was in der Kölner Silvesternacht tatsächlich stattgefunden hat. Die Aufarbeitung darf nicht bei den mehrheitsdeutschen Männern aus den Parteien, dem Innenministerium oder den Türstehern liegen, die jetzt schon sehr eilig Asylverschräfungen fordern oder ‚groß aufräumen‘. Die größte Expertise liegt bei den Vereinen, die bereits mit intersektionalen Konzepten arbeiten, also zu Rassismus und Geschlechterverhältnissen gleichermaßen.“