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Identitären Österreich-Chef blamiert sich vor Gericht

 

Identitären Österreich-Chef blamiert sich vor Gericht
Martin Sellner gibt Interviews am Rande des Aufmarsches in Berlin, Bild: Felix M. Steiner

Unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen begann am Dienstag in Halle (Saale) der Prozess gegen ein Identitären-Mitglied wegen Nötigung und Körperverletzung. Ausgerechnet die Aussagen von IB-Kader Martin Sellner brachten den Angeklagten in Bedrängnis.

Von Thomas Schade

Der Andrang im Amtsgericht war groß. Angeklagt ist Andreas K. von der rechtsextremen Gruppe „Kontrakultur“. K. soll nach einer IB-Aktion einen Studenten mit Gewalt aus einer Tram gedrängt haben. Martin Sellner, war als Zeuge des Vorfalls geladen und demontierte sich selbst.

Die Vorgeschichte

Die Identitäre Bewegung hatte am 9. März 2016 in Halle ihre Aktion durchgeführt. Andreas K. bezeichnet sie lapidar als „Identitäres Straßentheater“, die Nebenklage beschreibt konkreter: Ein Schweinskostüm mit Angela Merkels Gesicht als Maske und eine Burka dienten als Requisite. Bis zu sieben „Aufpasser“ liefen mit. Die Gruppe soll in der halleschen Innenstadt vermeintlich ausländische Passanten rassistisch beleidigt und einen CDU-Infostand bedrängt haben. Circa 30 Personen protestierten damals spontan gegen den Auftritt der Rechtsextremen.

Nach Ende ihrer Aktion sollen die rechtsextremen Kader am Marktplatz in eine Tram gestiegen sein – ein Gegendemonstrant stieg zu. Andreas K. soll diesen an der nächsten Haltestelle, dem Franckeplatz, gewaltsam aus der Tram gedrängt haben. Angeklagter und Betroffener berichten den Tathergang vor Gericht nahezu übereinstimmend. Andreas K. habe ihn an den Schultern gepackt und aus der offenen Tür der Tram gezerrt oder geschoben – je nach Lesart. Gewaltsam war es, das beschreiben Anklage und Angeklagter gleichermaßen. K. glänzt ansonsten mit großen Erinnerungslücken, mehrfach verweigert er die Antwort auf Fragen. Speziell Fragen zu Personen, die mit dabei waren, wollte er nicht beantworten. Er behauptete, der Nebenkläger hätte ihn in der Tram bedrängt und wäre ihm zu nah gekommen. Gleichzeitig sagt er, die Tram wäre aber auch sehr voll gewesen. Auf Fragen, ob Andreas K. wüsste, dass der Betroffene nach dem Vorfall an seiner Haustür bedroht wurde, antwortet er ausweichend. Er kenne die Adresse vom Nebenkläger – habe diese Information aber nur „aufgenommen“.

Noch vor Prozessbeginn am Montag müssen Justizbeamte einschreiten. 40 Personen wollen in den Verhandlungssaal, 30 Stühle gibt es. Die Beamten versuchen, Identitäre und Prozessbeobachter getrennt einzulassen. Zur Hälfte sind es Kader der Identitären, die rein dürfen. Die Beamten rufen Verstärkung, bis zum Ende der Verhandlung stehen zwanzig Polizisten vor und im Gerichtsgebäude. In Verhandlungspausen werden die Zuschauer nach politischer Gruppe getrennt aus dem Raum gelassen. Trotzdem kommt es von Seiten der Identitären zu Beleidigungen, einige laufen provozierend am politischen Gegner vorbei.

Sellners Demontage

Matthias Brauer ist Anwalt in der Kanzlei des AfD-Abgeordneten Enrico Komning aus Mecklenburg-Vorpommern. Er vertritt den IB-Aktivisten Andreas K. trotz Abgrenzungsbeschluss der AfD zur Identitären Bewegung. Er hatte vor Prozessbeginn den Antrag gestellt, Martin Sellner als Zeugen zu vernehmen. Laut Richterin und Nebenklageanwalt sei dieser Antrag nicht rechtens: Sellner ist aber extra aus Österreich angereist und wird deshalb trotzdem angehört.

Nach Aufforderung durch die Gerichtsschreiberin betritt Sellner den Saal. Er zieht sich das schwarze Jackett über das weiße Langarmhemd, setzt sich und legt die schwarze Sonnenbrille auf den Tisch. Nach den Angaben zur Person beginnt der 28-jährige Student zu erzählen. Er behauptet, Linksextreme hätten das „Identitäre Theater“ massiv bedroht und eingeschüchtert. Es wäre an der Straßenbahn sogar zu Angriffen auf seine Leute gekommen. Die Richterin weist ihn darauf hin, dass seine Aussage jeder Schilderung der Prozessbeteiligten eklatant widerspricht. Niemand hat bisher von solchen Angriffen gesprochen.

Sellner überlegt, Sellner rudert zurück: Die Angriffe gab es wohl doch nicht. Trotzdem wären die Gegendemonstranten gezielt auf die IB-Gruppe losgegangen. Bereits jetzt schauen die zwölf Identitären im Publikum etwas ungläubig. Was Sellner da erzählt, deckt sich mit keiner der bisherigen Schilderungen. Von allen anderen wurde berichtet, dass sich die Protestierenden stets in mindestens 20 Meter Entfernung befanden. Die drei Justizbeamten im Saal grinsen sich verstehend an – solche Zeugen machen Spaß. Und auch im Publikum wird leise gelacht.

Auf Nachfrage der Nebenklage zum konkreten Ablauf in der Tram behauptet Sellner nun, sich eigentlich an nichts wirklich erinnern zu können. Auch sagt er, er habe den Tathergang nicht gefilmt. Der Anwalt konfrontiert ihn sofort mit der Aussage eines Polizisten, Sellner habe diesem seine Kamera mit den Worten gezeigt, er habe den gesamten Vorfall gefilmt. Da wird er plötzlich still.

Die IB-Kader sitzen mit gerunzelter Stirn, haben den Kopf verzweifelt in die Hände gelegt oder stöhnen leise – sie blicken ratlos drein. Auch in den restlichen Minuten schafft es Sellner, sich gnadenlos in Widersprüche zu verrennen. Er tönt verschwörerisch, der Nebenkläger sei ein Spion, ein Späher der Linksextremen vom Marktplatz gewesen, den sie den Identitären hinterhergeschickt hätten. Die Nebenklage fragt, wo Sellner diese Gewissheit hernehme, oder ob das nur eine „Schlussfolgerung“ sei. Der raunt darauf, dass sowas doch allgemeine Praxis der Linken wäre. Auch habe ihm einer seiner Kameraden gesagt, der Betroffene wäre ein Späher.

Der Richterin wird es schließlich zu bunt. Sie fordert Sellner auf, Fragen klar mit Ja oder Nein zu beantworten. Er solle endlich antworten, ob ihm jemand gesagt habe, dass der Nebenkläger ein „Späher“ sei. Als Sellner sich zähneknirschend mit einem „kann mich nicht genau erinnern“ aus der Affäre ziehen will, schauen Nebenklage und Richterin nur noch fassungslos.
Der Anwalt des Angeklagten stellt Sellner keine Fragen mehr. Er wird entlassen, grinst weiter in den Saal. Er will sich in die Publikumsreihe seiner Identitären setzen – doch da ist kein Platz mehr für ihn frei. Er muss sich in die Reihe davor neben Linke setzen, die den Prozess aufmerksam verfolgen. Draußen werden sie über ihn herziehen, ihn für sein Auftreten auslachen. Seine Identitären wirken etwas entrückt – was die Selbstdemontage Sellners für Auswirkungen auf das Urteil haben wird, zeigt sich am 11. Juli. Bis dahin wurde die Verhandlung vertagt, mindestens zwei Zeugen sollen noch vernommen werden.