Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Wie die NPD den Dresdner Opfermythos am Leben hält

 

In Dresden hat ein NPD-Politiker 1.200 Rechte zum 75. Jahrestag der Bombardierung versammelt. Sein Ziel: der Stadt die Opferrolle zu verpassen. Mehrere Tausend Demonstranten setzten ein Zeichen dagegen.

Von Hardy Krüger und Henrik Merker

Wie die NPD den Dresdner Opfermythos am Leben hält
Demonstranten an der Spitze des Marsches durch Dresden © Hardy Krüger

In Dreier- und Viererreihen, scheinbar endlos hintereinander folgend, schlängelte sich ein angeblicher Trauermarsch durch die Straßen des nachmittäglichen Dresdens. Rund 1.200 schwarz gekleidete Rechtsextremisten gaben der mit klassischer Instrumentalmusik unterlegten Prozession durch die sächsische Landeshauptstadt die Form – eine Mischung aus Anhängern der Parteien NPD und Die Rechte sowie Pegida-Demonstranten und parteilosen Neonazis. Der Aufzug am Samstag war das jährliche Gedenken, das Rechte anlässlich der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg abhalten. 2020 war es der 75. Jahrestag.

Was die Neonazis alljährlich in Dresden veranstalten, hat System. Es soll ein Erlebnis für das braune Milieu sein. Doch der Zweck geht darüber hinaus: Der Marsch soll einen Opfermythos verbreiten, die Geschichte Dresdens verdrehen.

Frauenkirche als vermeintliche Kronzeugin des Opfermythos

Zu den wichtigsten Urhebern dieses Mythos gehört Maik Müller. Der Dresdner organisiert die Märsche als Anführer der Initiative Dresden Gedenken seit Jahren. Müller ist auch örtlicher Kreisverbandschef der NPD und sächsischer Landeschef der Parteijugend Junge Nationalisten (JN). Laut dem sächsischen Verfassungsschutz legt er seinen Fokus auf „bundesweite Vernetzung“ und auf „Internationalität“, etwa durch enge Verbindungen nach Osteuropa. Inhaltlich stehe er mit dem Marsch jedoch für eine „Rückbesinnung auf Kernanliegen und Kernthemen der rechtsextremistischen Szene“.

Wie die NPD den Dresdner Opfermythos am Leben hält
Veranstalter Maik Müller (Mitte) © Hardy Krüger

Und dazu gehört das Bild des eigenen Volkes als Opfer – symbolisiert durch ein Bauwerk: die während der Bombardierung zerstörte, seit einigen Jahren wiederaufgebaute Dresdner Frauenkirche. Flyer und Plakate für den Aufzug zeigen das Abbild des Bauwerks. Die Kirche – als Raum des friedlichen Gebetes und als Haus Gottes – dient für den sich selbst als orthodoxen Christen bezeichnenden Müller und seine Initiative offenbar als Kronzeugin in einem symbolischen Revisionsprozess, in dem sich die Neonazis als moralische Kläger sehen.

Auch das Datum des Marsches steht in engem Bezug zum Bauwerk: Am 15. Februar 1945 sei die Frauenkirche durch die Bombardierung der Vortage eingestürzt, sagte Müller in einem Redebeitrag bei der Kundgebung. Die Erinnerung an dieses Detail ist ein wiederkehrendes, immer wieder vorgetragenes Thema. Bereits vor fünf Jahren hatte Dresden Gedenken zu diesem Datum ihre Gesinnungsgenossen auf die Straße gebracht. Die Initiative empörte sich, dass die Kirche „nach vier Angriffswellen angloamerikanischer Bomber gegen die sächsische Kunst- und Kulturstadt einstürzte“.

Provokante Rhetorik der Neonazis

Unerwähnt ließen die angeblich um das städtische Kulturgut Besorgten hingegen, dass die Nazis bereits 1938 – ein Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges – die vom Architekten Gottfried Semper entworfene Synagoge niedergebrannt und die Mauern gesprengt hatten.

Die Lesart der Rechten zeigte sich auch an einem Schild, das die frühere Pegida-Aktivistin Kathrin Oertel trug: Die Befreiung durch die Alliierten sei ein „Holocaust am deutschen Volk“, stand dort. Dennoch errangen Müller und seine Initiative nicht die Deutungshoheit auf den Dresdner Straßen – mehrere Netzwerke hielten mit ihrem Erinnern dagegen.

Wie die NPD den Dresdner Opfermythos am Leben hält
Die frühere Pegida-Aktivistin Kathrin Oertel © Hardy Krüger

Die Stadt Dresden organisierte bereits zwei Tage zuvor, am eigentlichen Jahrestag der Bombardierung, eine Gedenkveranstaltung. Dort sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und mahnte: „Die Zerstörung der Kulturstadt Dresden begann schon 1933.“ Rund 11.000 Menschen bildeten anschließend eine Menschenkette um die Altstadt.

Umstrittene Gedenkzeremonie

In der Kritik steht allerdings eine Veranstaltung auf dem Heidefriedhof am Stadtrand: Unterschiedslos wurden dort am Donnerstag die Namen aller verlesen, die bei der Bombardierung starben – NS-Verbrecher genauso wie Juden. Beobachter mahnten, die Form des Gedenkens sei geschichtsrevisionistisch, sie mache Täter und Opfer gleich und werde Neonazis anziehen.

Dazu kam es auch. An der Lesung, eröffnet von Bürgermeister Detlef Sittel, beteiligte sich ein Dresdner Neonazi. Teilnehmen durfte jeder, der sich zuvor angemeldet hatte – der Name des Rechtsextremisten müsste also zuvor bekannt gewesen sein. Eine Zeitung hatte 2018 im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Straftaten über ihn berichtet. Derselbe Neonazi lief auch beim Aufmarsch am 15. Februar mit.

Wie die NPD den Dresdner Opfermythos am Leben hält
Der NS-Begriff „Bombenterror“ ist auf einem Kranz zu lesen. © Henrik Merker

Kränze legte unter anderem die AfD nieder. Auf Spruchbändern darauf war von „Bombenterror“ die Rede – ein Begriff, den der NS-Propagandaminister Joseph Goebbels geprägt hatte. Zudem drapierte die Partei zwei Europaletten, dekoriert mit Plastikblumen, die zu der Zahl 6865 geformt waren. So viele Leichen sollen auf dem Dresdner Altmarkt verbrannt worden sein, um die Seuchengefahr nach der Bombardierung einzudämmen.

Gegen den Trauermarsch am Samstag protestierten rund 2.000 Menschen. Von den Demonstrationszügen aus schallten den Rechten vom Anfang bis zum Schluss Pfiffe entgegen. Die Gegendemonstranten sorgten mit einer Blockade zudem dafür, dass den Neonazis ein Marsch durch die Altstadt verwehrt blieb – den Ort, an dem auch die symbolträchtige Frauenkirche steht.