Lesezeichen
 

Ausgrenzung muss Folgen haben

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat heute eine Studie zum Thema Diskriminierung in Deutschland vorgelegt. Wenig überraschend erst einmal: Diskriminierung gibt es häufig, viele erleben sie. Nahezu jeder dritte Mensch in Deutschland (31,4 Prozent) hat in den vergangenen zwei Jahren eine Diskriminierung erfahren. Vergleichsweise häufig kommt Benachteiligung aufgrund des Alters (14,8 Prozent) vor, gefolgt von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (9,2 Prozent). Diskriminierung aufgrund von Behinderung haben 7,9 Prozent der Befragten erlebt. Wenn man bedenkt, dass 13 Prozent der Deutschen behindert sind, ist die Zahl relativ hoch.

Menschen wehren sich öfter

Die Befragung der Antidiskriminierungsstelle basiert auf zwei Säulen: In einer repräsentativen Umfrage des Bielefelder Forschungsinstituts SOKO Institut für Sozialforschung und Kommunikation wurden rund 1.000 Menschen ab 14 Jahren bundesweit telefonisch befragt. Diese Ergebnisse geben einen Überblick darüber, wie verbreitet Diskriminierung in Deutschland ist. In einer umfassenden schriftlichen Betroffenenbefragung konnten überdies alle in Deutschland lebenden Menschen ab 14 Jahren über selbst erlebte oder beobachtete Diskriminierungserfahrungen berichten. Mehr als 18.000 Personen haben sich beteiligt und knapp 17.000 selbst erlebte Situationen beschrieben.

„Diskriminierung ist alles andere als ein Nischenthema“, sagte die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, bei der Vorstellung der Ergebnisse. „Jeder Mensch kann betroffen sein. Es ist also in unser aller Interesse, mit ganzem Einsatz gegen jede Form von Diskriminierung anzugehen.“ Immerhin, die Mehrheit der Menschen hat die Diskriminierung nicht einfach hingenommen, sondern sich gewehrt oder zumindest mit jemanden darüber gesprochen und sich beraten lassen. „Die Menschen sind nicht gewillt, Diskriminierung einfach zu erdulden“, sagte Lüders. Sie brauchten aber mehr und bessere Unterstützung: „Knapp zehn Jahre nach Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist es höchste Zeit für eine rechtliche Stärkung der Menschen, die Diskriminierung erleben. Auch sollten wir jetzt eine Fortentwicklung des gesetzlichen Diskriminierungsschutzes in den Blick nehmen.“

Klagerecht gefordert

Lüders regte deshalb ein eigenes Klagerecht für Diskriminierungsverbände sowie für die Antidiskriminierungsstelle an: „Es muss endlich möglich sein, Betroffene vor Gericht effektiv zu unterstützen – wie es in vielen anderen europäischen Ländern längst möglich ist.“

Zumindest im Bereich behinderter Menschen könnte die Bundesregierung sofort etwas ändern, indem sie nämlich das Behindertengleichstellungsgesetz auf die Privatwirtschaft ausweitet. Es genügt ja nicht, Studien zu veröffentlichen, wer alles diskriminiert wird, sondern Ziel muss doch sein, die Diskriminierung praktisch abzustellen oder zumindest den Menschen das Gefühl zu geben, dass das gesellschaftlich nicht toleriert wird.

Wenn ich in London an einen Busfahrer gerate, der sich weigert, mir die Rampe auszufahren, dann habe ich ein starkes Gesetz im Rücken, das sogar Schadenersatz vorsieht. Wenn mir das in Berlin, Hamburg oder München passiert, kann ich froh sein, wenn ich von den Verkehrsbetrieben ein angemessenes Entschuldigungsschreiben bekomme. Und dabei geht es nicht einmal ums Geld, sondern um das Bewusstsein in der Gesellschaft, das so etwas nicht mehr toleriert wird und dass der Staat derartige Ausgrenzung nicht mehr hinnimmt, was eben bedeutet, dass man etwas zahlen muss, wenn man diskriminiert.

Bittsteller

Stattdessen muss man in Deutschland als behinderter Mensch vielfach immer noch als Bittsteller auftreten. Man muss froh sein, wenn das örtliche Schwimmbad einen nicht gleich wieder rausschmeißt und wenn der Blindenführhund mit ins Restaurant darf.

Wenn man das in Deutschland nicht regeln will, könnte Deutschland wenigstens aufhören, eine entsprechende Gesetzesinitiative auf europäischer Ebene zu blockieren.

Die ganze Thematik Diskriminierung zeigt übrigens sehr schön, dass es keineswegs ums Geld geht, das angeblich fehlt, sondern um die richtige Einstellung. Nur ein Beispiel: Blindenführhunde in Restaurants zu lassen – und zwar so, dass sich die Restaurantbesitzer schadenersatzpflichtig machen oder ein Bußgeld zahlen müssen, wenn sie blinde Menschen deshalb rauswerfen – kostet den Staat keinen Cent. Aber es wäre extrem wichtig, um das Selbstbewusstsein blinder Menschen mit Blindenführhunden zu stärken und klar zu machen, dass so ein Verhalten heutzutage nicht mehr geht. Exklusion muss Folgen haben. Das ist zielführender als Inklusion immer nur zu fordern oder in Studien festzuhalten, wie viele Menschen von Ausgrenzung betroffen sind.

 

Sicherheit versus Teilhabe

Dass Sicherheit gegen Teilhabe ausgespielt wird, ist im Alltag behinderter Menschen allgegenwärtig. Die Diskussion, hier und auf Facebook, zu meinem Text über den kleinwüchsigen Studenten, der mit seinem Roller einen Musikclub nicht besuchen durfte, ist nicht neu und betrifft keineswegs nur Clubs.

Schöne Aussicht

Sicherheit versus Teilhabe
Ich sitze zum Beispiel gerne auf der Dachterrasse des Kaufhofs an der Hauptwache in Frankfurt und schaue über die Stadt. Sie befindet sich im 7. Stock. Würde ich einen Sicherheitsexperten um Rat bitten, wird der mir raten, mich da besser nicht aufzuhalten. Denn es wird schwierig, mich als Rollstuhlfahrerin aus dem Gebäude zu holen, falls es brennt (ob das Haus einen feuerfesten Fahrstuhl hat, weiß ich nicht).

Im vergangenen Jahr habe ich viel Zeit im 28. Stock eines Gebäudes in Wien verbracht. Dort gab es zwar einen Feuerwehrfahrstuhl, er war aber oft außer Betrieb. Nur die normalen Fahrstühle liefen. Ich bin aber gerne in hohen Gebäuden und genieße die Aussicht. Das ist für mich ein Stück Lebensqualität. Um sicher zu sein, dürfte sich mein Leben eigentlich nur im Erdgeschoss abspielen. Weiter„Sicherheit versus Teilhabe“

 

Wir müssen draußen bleiben – kein Konzertbesuch für kleinwüchsigen Studenten

Was für nicht behinderte Menschen eine Selbstverständlichkeit ist, endet für behinderte Menschen oft in einer Enttäuschung. Konzertbesuche beispielsweise. Das musste der Hamburger Student und Filmemacher Michel Arriens erleben, als er ein Konzert der Band Kollektiv Turmstrasse im Musikclub Gruenspan besuchen wollte. Er ist kleinwüchsig und bewegt sich auf einem kleinen Roller fort, da er weite Strecken nicht laufen kann.

Michel Arriens auf seinem Roller
Foto: Konstantin Eulenburg

Doch als er beim Gruenspan ankam, verweigerte man ihm den Einlass, obwohl er die Konzertkarten bereits gekauft hatte. Der Mitarbeiter des Clubs auf St. Pauli teilte ihm freundlich, aber bestimmt mit, dass er mit seinem kleinen Roller nicht zum Konzert dürfe.

Nicht barrierefrei = kein Zugang

Auf der Website des Gruenspan steht in der FAQ:
„Das Gruenspan ist leider nicht barrierefrei. Toiletten, Garderobe und Notausgänge sind nicht barrierefrei erreichbar. Insbesondere aufgrund der Erreichbarkeit der Notausgänge können wir Rollstuhlfahrern aus Sicherheitsgründen leider keinen Einlass gewähren.“

Ich kenne solche Situationen und ich weiß auch, wie frustrierend sie sind. Stellen Sie sich mal vor, man verweigert Ihnen den Zugang zu einem Konzert, einem Lokal oder zum Kino, weil Sie Schuhgröße 41 haben. Oder weil Sie über 1,70 Meter groß sind oder sonst eine Eigenschaft haben, an der Sie erst einmal nichts ändern können. So ist das mit einer Behinderung auch: Sie gehört einfach zu einem wie die Körpergröße oder die Schuhgröße.

Seit 40 Jahren keine Rollstuhlfahrer

Schon immer habe ich mich gefragt, wer eigentlich diese Menschen sind, die solche Entscheidungen treffen? Wollen die kein Geschäft machen? Keine Konzertkarten verkaufen? Und wie sieht das eigentlich rechtlich aus? Kann ein Club wirklich sagen: Aufgrund Deiner Behinderung kommst Du hier nicht rein?

Eingang Gruenspan

Der Geschäftsführer des Gruenspan, Robert Hager, zeigte sich überrascht darüber, dass sich jemand an dieser Regelung stört. Das Gruenspan sei Deutschlands ältester Club und seit rund 40 Jahren kämen Rollstuhlfahrer nicht hinein. Daran habe sich noch nie jemand gestört. Das sei ja auch allgemein bekannt, dass das Gruenspan das so handhabe.

Problem Brandfall

„Unser Gebäude ist von 1898 und die Entfluchtungssituation ist schlichtweg nicht barrierefrei“, erklärte mir Hager. Die Besucher müssten auf jeden Fall sechs oder acht Treppenstufen überwinden. Im Brandfall beispielsweise könnten andere über einen Rollstuhlfahrer stolpern und er käme selbst nicht hinaus. Feuerschutztechnisch sei das ein Problem: „Das untersagt Dir zwar keiner. Ich bin als der Betreiber aber in der Haftung.“

Ganz so einfach ist es rechtlich nicht, erklärt mir Oliver Tolmein, Rechtsanwalt der Kanzlei Menschen und Rechte und spezialisiert auf das Antidiskriminierungsrecht. Immer wieder würde der Brandschutz als Grund von Anbietern von Musikveranstaltungen, von Theatern oder von Vergnügungsparks angeführt, um Menschen, die Rollstühle nutzen, die blind oder gehörlos sind, den Zutritt zu ihren Veranstaltungen zu verwehren. Charakteristisch sei dabei, dass außer der pauschalen Auskunft „wegen Brandschutz“ oder „aus Sicherheitsgründen“ nichts mitgeteilt werde, so Tolmein. „In konkreten gerichtlichen Verfahren haben sich die Brandschutzbedenken nicht bestätigt.“ Es gebe auch Theaterveranstalter, die nachgegeben hätten, nachdem eine Anwalt eingeschaltet wurde.

„Es gibt keine Brandschutzvorschriften, die die Teilnahme von Menschen mit Behinderungen an Veranstaltungen ausdrücklich untersagen“, sagt der Anwalt. „Brandschutz soll nicht Teilhabe verhindern, sondern der Gefährdung von Menschenleben vorbauen. Es geht also darum, ihnen Rettungswege zu eröffnen.“

Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz

Wenn jemand wegen einer Behinderung öffentliche Veranstaltungen nicht besuchen darf, sei das nach deutschem Recht ein Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und damit unzulässig. Zwar sei eine Benachteiligung dann möglich, wenn sie Gefahren vermeidet und Schäden verhütet. Der Anbieter müsse aber beweisen, dass diesen Gefahren nur durch ein undifferenziertes Verbot begegnet werden könne. „Das dürfte in der Regel nicht gelingen“, sagt Tolmein. Vielmehr müsse von einem Konzertveranstalter erwartet werden, dass er über die Jahre Alternativen zum Zutrittsverbot entwickelt habe.

Hinzu kommt: Michel Arriens ist gar kein Rollstuhlfahrer. Er ist einfach nur kleinwüchsig und auf einem Roller unterwegs: „Wenn jedes Restaurant, Café, jeder Club mit einer Stufe mich nicht reinlassen würde, wo dürfte ich dann überhaupt noch rein?“, sagt er.

Die gute Nachricht ist: Auch das Gruenspan hat die Zeichen der Zeit erkannt und wird in den kommenden Jahren umgebaut. Die Ausschreibung läuft bereits. Damit wird der Club barrierefrei und kann der Willkommenskultur des Stadtteils wieder gerecht werden. „Wir werden uns darum kümmern“, versprach mir Gruenspan-Geschäftsführer Hager. „Dafür ist der Stadtteil St. Pauli ja auch bekannt, dass man sich kümmert.“ Wird nach 40 Jahren aber auch Zeit.

 

Hurra, ein „Tatort“-Ermittler im Rollstuhl

Wer in 50 Jahren mal auf die Geschichte der Inklusion in Deutschland zurückblickt, wird über den ARD-Tatort Fünf Minuten Himmel am Ostermontag mit Heike Makatsch vielleicht sagen: „Und 2016 hatten sie endlich einen Tatort-Ermittler, der im Rollstuhl saß.“ Hurra! Endlich sind behinderte Menschen nicht nur Leichen und Mörder. Endlich haben wir es auf die gute Seite der Macht geschafft, auch im Tatort. Weiter„Hurra, ein „Tatort“-Ermittler im Rollstuhl“

 

Alles wie gehabt – der Bundestag debattiert zum Behindertengleichstellungsgesetz

Die Bundesregierung will das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz modernisieren. Was sich erst einmal prima anhört, hat einen Haken: Auch nach der Reform wird sich für behinderte Menschen kaum etwas ändern. Denn das Gesetz verpflichtet lediglich den Staat zur Barrierefreiheit, genauer gesagt den Bund, nicht aber die Wirtschaft. Jetzt wurde die Modernisierung des Gesetzes im Bundestag diskutiert. Ich kam mir vor, als sei ich in eine Zeitmaschine gestiegen und hätte 1990 als Zielzeit eingegeben. Die Debatte wirkte mehr als weltfremd. Die Regierung applaudierte sich für die kleinen Trippelschritte, die man in den letzten Jahrzehnten geschafft hat.

Weiter„Alles wie gehabt – der Bundestag debattiert zum Behindertengleichstellungsgesetz“

 

Barrierefrei wählen ist nicht selbstverständlich

Wer in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Sachsen-Anhalt wohnt und wahlberechtigt war, konnte am Sonntag wählen gehen – und kam hoffentlich auch in sein örtliches Wahllokal. Das ist leider nicht ganz selbstverständlich, denn auf Twitter und Facebook machten sich vor und während den Wahlen schon einige behinderte Menschen Luft, weil sie nicht in ihr örtliches Wahllokal kamen.

Rheinland-Pfalz vorn

Während in Rheinland-Pfalz immerhin mehr als 80 Prozent der Wahllokale barrierefrei waren, waren es ist Sachsen-Anhalt gerade mal die Hälfte. Gut 870 Wahllokale in Rheinland-Pfalz waren nach Angaben des Statistischen Landesamtes nicht barrierefrei, in 80 Prozent der Gebäude fehle ein entsprechender Zugang.  Das statistische Landesamt von Baden-Württemberg konnte mir leider keine Zahlen über barrierefreie Wahllokale nennen.

Nun kann man argumentieren: Sollen behinderte Wähler eben Briefwahl machen, wenn sie nicht ins Wahllokal kommen. Aber eigentlich müsste jeder Bürger das Recht haben, im Wahllokal zu wählen und nicht auf die Zuverlässigkeit der Deutschen Post zu vertrauen.

Überraschend nicht barrierefrei

Und noch ein Argument spricht dagegen: Teilweise bemerken die Leute erst am Wahltag, dass ihr Wahllokal nicht barrierefrei ist. Zwar drucken jetzt die meisten Bundesländer immerhin einen Hinweis auf die Wahlbenachrichtigung, ob das nächstgelegene Wahllokal barrierefrei ist oder nicht, aber nicht alle Leute sehen das.

Am Wahltag auf Facebook begegneten mir jedenfalls mehrere Einträge , wo sich Menschen, die zum ersten Mal im Rollstuhl wählen gingen, bitterlich darüber beklagten, nicht in ihr Wahllokal zu kommen. Sie hatten schlicht gar nicht damit gerechnet, dass in Deutschland Wahlen in Gebäuden abgehalten werden, in die man nicht stufenlos hineinkommt. Ich kann diese Einstellung durchaus verstehen. Ich finde auch immer wieder verblüffend, dass zwar jeder Mist in Deutschland geregelt ist, aber es immer noch völlig in Ordnung zu sein scheint, dass 20 Stufen zur Wahlurne führen – und das bei einer immer älter werdenden Bevölkerung.

Abenteuer Wahlschein

Alternativ zur Briefwahl kann man im Falle eines nicht barrierefreien Wahllokals auch noch einen Wahlschein beantragen, der einem erlaubt, in einem anderen, hoffentlich barrierefreien Wahllokal zu wählen, auch wenn man nicht dort gemeldet ist. Das habe ich früher oft gemacht, aber es kann den Wahlhelfern den Schweiß auf die Stirn treiben. Vermutlich fällt es in den Wahlschulungen in das Kapitel „Das wird sicher nicht vorkommen, aber nur damit Sie es mal gehört haben“.

Und dann kommt es doch vor und  jemand muss angerufen werden, weil man hat dann doch nicht so genau aufgepasst, was in so einem Fall zu tun ist. Dieses Theater war zwar immer ganz lustig, zog sich allerdings auch hin, so dass ich dann doch irgendwann auf Briefwahl umgestiegen bin.

Hausmeisterregeln versus Barrierefreiheit

In England hat bei der letzten Europawahl ein renitenter Hausmeister fast meine Stimmabgabe verhindert. Obwohl die Wahllokale bis spät abends geöffnet hatten, war der barrierefreie Seiteneingang ab 18 Uhr versperrt. Es war bereits dunkel als ich ankam und weil unsere Gegend hier schon fast ländlich ist, war auch weit und breit niemand auf der Straße, der mir helfen konnte. Ich klopfte mühsam ans Fenster, bis jemand kam. Der Hausmeister schloss mir den Seiteneingang auf und ich sagte ihm, dass er ihn bitte offen lassen muss, so lange in der Schule noch gewählt wird. Das wollte er nicht einsehen. Er mache den Seiteneingang immer um 18 Uhr zu. Nur weil in der Schule gewählt würde, würde er da jetzt keine Ausnahme machen.

Die örtliche Wahlkommission war von seiner Argumentation wenig angetan und leitete sogar ein Verfahren ein. Ich bekam ein offizielles Entschuldigungsschreiben meiner Gemeinde und die Zusicherung, dass so etwas nicht mehr vorkommen werde. Sie sollten Recht behalten. Bei den nächsten Wahlen konnte ich den Haupteingang der Schule benutzen. Man hatte den Eingangsbereich ebenerdig umgebaut.

 

Seid nicht dankbar – zumindest nicht wegen uns Rollstuhlfahrern

Es wurde unterdessen zehntausend-fach geteilt: Ein Video mit der Botschaft, man solle dankbar für das sein, was man hat.

Herhalten muss für diese Botschaft ein Rollstuhlfahrer, der nach einer langen Kette von Vergleichen einem Fußgänger gegenübergestellt wird und man lernt, der Fußgänger hat zwar kein Auto oder Fahrrad wie die anderen zuvor im Video, aber er kann laufen wohin er möchte. Der Rollstuhlfaher aber nicht.

Dieses Video ist auf so vielen Ebenen einfach nur falsch, um nicht zu sagen völlig daneben. Erst einmal die Bildsprache: Alle Menschen nehmen am Straßenverkehr teil. Nur der Rollstuhlfahrer nicht. Der schaut von außen auf das Straßentreiben und muss auf dem Balkon sitzen.

Das erinnert mich an die Geschichte, als eine Maklerin bei einer Wohnungsbesichtigung mal sagte, die Wohnung sei auch deshalb gut für mich geeignet, weil man da so gut aus dem Fenster sehen könne. Klar, was machen Rollstuhlfahrer sonst den ganzen Tag anderes, als aus dem Fenster schauen? Und genau diese Vorstellung bedient auch dieses Video.

Rollstuhlfahrer am Ende der Kette

Am meisten allerdings ärgert mich die Botschaft. Sie lautet, man solle dankbar dafür sein, was man hat, dargestellt in einer Kette von Vergleichen – vom Luxusauto über den Fußgänger bis zum Rollstuhlfahrer ganz am Ende der Kette, der (angeblich) nicht einmal am Straßenverkehr teilnehmen kann. Die Botschaft lautet: Egal wie schlecht es Dir geht, es könnte Dir noch schlechter gehen. Du könntest im Rollstuhl sitzen.

Oh bitte! Und diese Botschaft wurde zehntausend-fach auf Facebook geteilt und alle fühlen sich prima. Was für eine Anmaßung und Abwertung vom Leben als Rollstuhlfahrer. Die wenigsten Rollstuhlfahrer sitzen die ganze Zeit auf einem Balkon, ausgeschlossen vom normalen Leben. Sie fahren Auto – ja sogar Luxusautos fahren einige – und fahren auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn man sie denn lässt und diese barrierefrei ausbaut.

Zufriedenheit und Glück im Leben hängen nicht davon ab, ob man im Rollstuhl sitzt oder nicht, sondern davon, ob man Menschen um einen hat, die einen mögen, ob man mit sich selbst im Reinen ist und so viel von dem macht, was man eben machen kann, ob behindert oder nicht. Ich habe eine großen Freundeskreis und ich kenne viele Menschen – behinderte und nichtbehinderte Menschen – aber wie zufrieden diese Menschen sind, hängt nicht von ihrem körperlichen Zustand ab. Im Gegenteil, Menschen, die objektiv alles haben, sind manchmal gar nicht wirklich die glücklichsten Menschen.

Falsche Bilder

Für Videos wie dieses, die behinderte Menschen nutzen, um sich selbst zu erhöhen und Behinderung dazu nutzen, damit sich nichtbehinderte Menschen ein bisschen besser fühlen: Man nennt sie inspiration porn (Inspirationsporno) und viele behinderte Menschen hassen diese Videos genau aus diesem Grund: Sie zeichnen ein falsches Bild von Behinderung und dieses Bild schadet ihnen im Alltag. Weil man ihnen nichts zutraut, weil man das Leben mit Behinderung als weniger wert darstellt, weil es Mitleid fördert statt Gleichberechtigung. Es gibt einen tollen TED-Talk zu dem Thema von der leider bereits verstorbenen Journalistin Stella Young.

Stella Young beendete ihren Vortrag sinngemäß mit einem tollen Satz: „Behinderung macht Dich zu nichts Besonderem. Aber zu hinterfragen, was Du darüber denkst, schon.“ In diesem Sinne, jeder, der solche Videos teilt, sollte sich vorher fragen, welches falsche Bild über behinderte Menschen er da verbreitet. Aber dafür muss man manchmal das eigene Bild korrigieren, um das zu erkennen.

 

Ohne die Wirtschaft keine Inklusion

Ich bin in Hessen und Rheinland-Pfalz aufgewachsen, habe danach viele Jahre in Hamburg gelebt, trotzdem ist Berlin mein Lieblingsbundesland. Das hat unter anderem damit zu tun, dass ich Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern als relativ barrierefrei empfinde, vor allem was die Anzahl der barrierefreien Toiletten in öffentlichen Einrichtungen und Restaurants angeht. Weiter„Ohne die Wirtschaft keine Inklusion“

 

Eine Frage von Prioritäten

Die Trauerhalle von Walldorf wird barrierefrei. Was daran interessant ist, ist nicht so sehr die Tatsache, dass umgebaut wird, sondern die Vorgeschichte. Bereits im Sommer hatte die Fraktion DKP/Die Linke einen Antrag im Stadtparlament gestellt, den Haupteingang der Trauerhalle umzubauen, damit künftig auch Rollstuhlfahrer und gehbehinderte Menschen stufenlos zu den Trauerfeiern kommen. Bisher konnten Rollstuhlfahrer nur durch einen Seiteneingang in die Trauerhalle gelangen, durch den auch die Toten geschoben werden. Auch die CDU unterstützte den Antrag.

Seiteneingang für Tote und Rollstuhlfahrer

Aber die rot-grüne Mehrheit im Stadtparlament lehnte den Antrag der Fraktion DKP/Die Linken ab. Man könne Rollstuhlfahrern durchaus zumuten, den gleichen Eingang wie die Toten zu benutzen.

Doch dann hatte jemand in einer Nacht- und Nebelaktion den Haupteingang mit einer Rampe versehen – natürlich nicht den allgemeinen Standards entsprechend und ohne Baugenehmigung auf fremdem Gelände. Was die Politik verhindert hatte, realisierte nun ein offensichtlich handwerklich versierter Bürger.

70 Euro Kosten

Die Frankfurter Neue Presse berichtete, die Installation habe etwa 70 Euro gekostet. Und die Aktion wurde zum Facebook-Hit. Die Berichterstattung der Regionalzeitung wurde hundertfach auf Facebook und Twitter geteilt, weit über die Grenzen von Mörfelden-Walldorf hinaus. Der Tenor war durchaus positiv und kaum jemand brachte Verständnis dafür auf, warum die Stadt dem Bau der Rampe nicht längst zugestimmt hatte.

Das zeigte offensichtlich Wirkung. Der Bürgermeister Heinz-Peter Becker (SPD) sagte mir auf Anfrage, man habe sich nun doch entschlossen, den Eingangsbereich der Trauerhalle innerhalb der kommenden vier bis fünf Wochen barrierefrei umzubauen. Dafür seien eigens Haushaltsmittel umgeschichtet worden. Er betonte, dass die hessische Stadt durchaus Barrierefreiheit im Blick habe. Man habe beispielsweise Bordsteinkanten abgesenkt.

Mehr im Bestand umbauen

Die Geschichte zeigt sehr schön, dass Barrierefreiheit nicht zuletzt eine Frage von Prioritäten ist. Diese haben sich offensichtlich verschoben, nachdem mit der Guerilla-Rampe öffentlich Druck erzeugt wurde und sich ziemlich viele Menschen dafür aussprachen, die Rampe zu behalten oder eine neue, baurechtlich einwandfreie Lösung zu finden.

Es gibt leider in Deutschland wenig Bestrebungen im Bestand umzubauen. Das Beispiel aber zeigt, dass es durchaus machbar ist. Und oft muss es nicht einmal viel kosten, man muss es einfach machen. Aber es zeigt auch: Die Politik braucht manchmal den öffentlichen Druck, um genau diese Prioritäten zu setzen.

 

Wegen Legasthenie diskriminiert

Meseret Kumulchew ist Mitarbeiterin in einer Starbucks-Filiale in London und lernbehindert. Weil sie Kühlschranktemperaturen nicht richtig abgelesen hatte, unterstellte ihr die Kaffeekette, sie wolle betrügen. Sie war dafür verantwortlich, zu einer bestimmten Uhrzeit Temperaturen der Kühlschränke und des Wassers zu notieren und in eine Tabelle einzutragen.

Arbeitgeber wusste Bescheid

Doch Kumulchew ließ sich das nicht gefallen und zog vor Gericht: Sie habe nicht wissentlich falsche Temperaturen in die Tabelle eingetragen. Sie habe Legasthenie. Das habe ihr Arbeitgeber auch von Anfang an gewusst. Trotzdem sei niemand auf ihre Lernbehinderung eingegangen.

In einem Interview mit der BBC sagte Kumulchew, sie sei eine visuelle Lernerin. Es genüge nicht, ihr etwas in kleiner Schrift aufzuschreiben, sondern sie müsse die Arbeitsschritte praktisch gezeigt bekommen. Legastheniker könnten sich Arbeitsanweisungen oft auch nicht merken, wenn sie sie nur verbal übermittelt bekämen. Ihr hätte es geholfen, jemanden an ihrer Seite zu haben, der ihre Eintragungen kontrolliert, bis sie sicherer geworden wäre, sagte sie.

Keine Betrügerin

Das Gericht gab der Starbucks-Mitarbeiterin recht. Diese hatte angegeben, der Umgang mit ihr und ihrer Behinderung hätte sie fast in den Selbstmord getrieben. „Ich bin keine Betrügerin“, sagte sie. Nur der Gedanke an ihre Kinder habe sie davon abgehalten, sich das Leben zu nehmen, nachdem ihr unterstellt wurde, die Eintragungen gefälscht zu haben. Dabei habe sie einfach Probleme mit kleiner Schrift, mit Zahlen und mit Uhrzeiten.

Starbucks wurde nun wegen Diskriminierung verurteilt. Wie die BBC berichtet, sah es das Gericht als erwiesen an, dass Starbucks versäumt habe, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um der Behinderung der Mitarbeiterin gerecht zu werden. Denn die sind nach dem  britischem Antidiskriminierungsrecht, dem Equality Act 2010, vorgeschrieben.

Zudem sei die Mitarbeiterin von ihrem Arbeitgeber ungerecht behandelt worden, da dieser offensichtlich wenig bis gar nichts über Gleichstellung wusste, urteilte das Gericht. Das ist umso überraschender, als es sich bei Starbucks um ein US-amerikanisches Unternehmen handelt. In den USA sind die meisten Firmen sehr sensibel, wenn es um Diskriminierungen am Arbeitsplatz geht. Denn dort drohen noch empfindlichere Schadenersatzzahlungen als in Großbritannien. Über die Höhe des Schadenersatzes für Meseret Kumulchew wird das Gericht zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden.

Behindertenorganisationen begrüßten das Urteil. Es mache klar, dass Arbeitgeber verpflichtet seien, auf die Behinderung ihrer Mitarbeiter angemessen einzugehen und Vorkehrungen zu treffen, damit diese arbeiten könnten.

Ob das Urteil in Deutschland ähnlich ausgefallen wäre? Wohl eher nicht. „Angemessene Vorkehrungen“ kommen zwar in der UN-Behindertenrechtskonvention vor, aber noch nicht in deutschen Gesetzen, die sich mit Gleichstellung und Antidiskriminierung von Menschen mit Behinderungen befassen. Aber genau das würde Inklusion im Arbeitsleben bedeuten: den rechtlichen Anspruch darauf, dass ein Mensch seiner Arbeit trotz Behinderung nachgehen kann.