Vergangene Woche fand in Berlin ein Kongress zur Inklusion statt. Ich habe die Veranstaltung auf Twitter verfolgt und hatte den Eindruck, es werden immer noch die gleichen Fragen wie vor 15 Jahren diskutiert. Zum Beispiel wurde darüber debattiert, ob man dem Arbeitgeber in der Bewerbung sagen soll, dass man eine Behinderung hat.
Die Frage ist nicht ganz unberechtigt, wenn man bedenkt, dass die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen bei 14 Prozent liegt. Da nicht alle schlecht qualifiziert sind – im Gegenteil, laut Arbeitsagentur sind schwerbehinderte Arbeitslose tendenziell eher etwas besser qualifiziert als nichtbehinderte Arbeitslose – muss man sich schon fragen, wie man dem frühzeitigen Aussortieren aus dem Bewerbungsverfahren aufgrund der Behinderung möglichst lange aus dem Weg geht.
Soll man also sagen, dass man eine Behinderung hat?
Ich finde, das ist eine klassische „Kommt darauf an“- Situation. Denn es gibt Positionen, wo eine Behinderung durchaus auch eine Qualifikation sein kann. Ein Beispiel: Ich bin im Vorstand eines Vereins, der mehrere Mitarbeiter hat. Unter anderem berät der Verein ältere und behinderte Londoner, wie sie öffentliche Verkehrsmittel nutzen können und welche Alternativen es für sie gibt, trotz Behinderung mobil zu bleiben. Wenn mir also jemand schreibt, dass er seit Jahren selbst Erfahrung hat, wie man in London als Mensch mit Behinderung öffentliche Verkehrsmittel nutzen kann, dann ist die Behinderung in dem Fall eine Qualifikation, denn es erspart uns einen Teil der Einarbeitungszeit im Gegensatz zu jemandem, der keine Erfahrung in dem Bereich hat und die Probleme nur von anderen kennt.
Wenn man sich aber um einen Job bewirbt, der mit Behinderung oder verwandten Bereichen nichts zu tun hat, dann ist man gut beraten, die eigene Behinderung nicht in die Bewerbung zu schreiben. Und selbst wenn man Veränderungen, Assistenz oder mehr Zeit beim Bewerbungsverfahren braucht, kann man das immer noch klären, nachdem man die Einladung dazu bekommen hat.
Aber ist das nicht unehrlich?
Nein, finde ich gar nicht. Man teilt seinem künftigen Arbeitgeber doch auch nicht mit, welche Schuhgröße man hat und ob man Single ist. Bei sichtbaren Behinderungen sieht der Arbeitgeber noch früh genug, dass man behindert ist, nämlich beim Bewerbungsgespräch. Aber dann ist man immerhin schon einmal zum Bewerbungsgespräch vorgedrungen und hat so eine Chance zu überzeugen. Bei nicht sichtbaren Behinderungen kann man dem Arbeitgeber nach Einstellung immer noch mitteilen, dass man eine Behinderung hat oder es eben lassen. Das hängt stark vom Arbeitsklima ab, ist meine Erfahrung. In Unternehmen, in denen man menschlich mit seinen Angestellten umgeht, sind diese auch eher bereit zu offenbaren, dass sie eine Behinderung haben. Nur wenn später eine Kündigung droht, sollte man sich überlegen, was man macht, um den besonderen Kündigungsschutz nicht zu verlieren, wenn man darauf wert legt.
Schwerbehinderte Bewerber werden bei gleicher Eignung bevorzugt
An kaum einem Satz kann man den Unterschied zwischen Theorie und Praxis besser erklären als am Satz „Schwerbehinderte Bewerber werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt“. Es gibt kaum noch Stellenausschreibungen im öffentlichen Dienst ohne diesen oder einen ähnlichen Satz. Die Amtsstuben müssten voll von Mitarbeitern und Beamten mit Behinderungen sein.
Zwar ist die Beschäftigungsquote behinderter Menschen im öffentlichen Dienst besser als in der Privatwirtschaft, aber rosig sieht es auch da nicht aus. Was also theoretisch passieren soll, funktioniert in der Praxis offensichtlich nicht oder zu wenig, weil zum Beispiel jemand am Ende doch lieber keine behinderten Mitarbeiter haben will und sein Veto einlegt. Das habe ich schon x Mal bei Freunden und Bekannten erlebt, die durchaus alle Anforderungen erfüllten und dann doch gegenüber einem nichtbehinderten Bewerber verloren haben, obwohl sie ja eigentlich bevorzugt berücksichtigt werden sollten.
Die Debatte ist ein Zeichen für Diskriminierung
Letztendlich ist die Debatte um „Schwerbehinderung offenbaren oder nicht“ nur ein Symptom dafür, wie weit verbreitet Diskriminierung behinderter Menschen ist, wenn es um die Jobsuche geht. Wäre es anders, müsste man sich die Frage gar nicht stellen. Es würde gar keine Rolle spielen, ob der Bewerber eine Behinderung hat oder nicht. So lange das aber nicht so ist, machen die Menschen sich natürlich Gedanken darüber, wie und wie lange sie das Merkmal Behinderung verschweigen können.
Und Arbeitgebern, die wirklich Interesse an behinderten Bewerbern haben, aber glauben, keine behinderten Bewerber zu bekommen, kann man nur raten, viel lauter zu werden, was dieses Interesse angeht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es durchaus Arbeitgeber gibt, die diskriminierungsfrei einstellen und sogar ein Interesse haben, den Anteil behinderter Mitarbeiter zu erhöhen. Aber mit dem Behörden-Satz unter der Stellenausschreibung ist es nicht getan, sondern was funktioniert ist, gute Beispiele von Inklusion bekannter zu machen und glaubwürdig aufzutreten. Dazu gehört auch die gezielte Ansprache potenzieller Bewerber, die eine Behinderung haben. Ich bin sicher, dann nimmt die Zahl der Bewerber zu, die sich während oder nach dem Bewerbungsverfahren als behindert offenbaren.