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Wie ich im Traum mein Abitur verlor

Vor Kurzem habe ich geträumt, ich müsste mein Abitur noch einmal machen. Sie können sich sicher vorstellen, dass das kein schöner Traum war.

Ich hatte den x-ten Meinungsbeitrag zum Thema schulische Inklusion gelesen, diesmal in der Welt. „Die Idee, dass behinderte und nicht behinderte Kinder in einem Klassenzimmer erfolgreich lernen können, ist eine Fiktion“, las ich da. Mein Abitur, ja meine ganze Schulzeit soll eine Fiktion gewesen sein?

Ich habe an einer Regelschule 1996 Abitur gemacht. Zuvor war ich bedingt durch Umzüge auf zwei anderen Schulen, auf einer ganz normalen Grundschule und in zwei ganz normalen Kindergärten. Nun schreiben 18 Jahre nach meinem Abitur schlaue (mehrheitlich nicht behinderte) Menschen, dass das eigentlich gar nicht gehen kann. Inklusion sei eine Illusion.

Dabei wird völlig übersehen, dass es auch in Deutschland seit Jahrzehnten behinderte Kinder gibt, die erfolgreich aus dem Sonderschulsystem ausgeschert sind und das keineswegs in einem Desaster endete.

Vor ein paar Wochen rief mich eine Wissenschaftlerin an. Sie war auf der Suche nach den „wild Integrierten“. So nennen Pädagogen Leute wie mich, die einfach am System vorbei beschult wurden. Die Wissenschaftlerin wollte der Frage nachgehen, was denn genau zum Erfolg geführt hat, dass meine schulische Inklusion geklappt hat.

Ich glaube, wesentlich sind folgende Punkte:

1. Barrierefreiheit

Auch wenn das immer so diskutiert wird als sei das ja das geringste Problem, ist es doch Tatsache, dass über Jahre verpennt wurde, Schulen barrierefrei zu bauen. Wenn meine Eltern umgezogen sind, haben sie zuerst die Schule für mich gesucht und sich dann für einen Wohnort im Umkreis entschieden. Ich habe mein Abitur an einer katholischen Mädchenschule gemacht. Nicht weil meine Eltern unbedingt wollten, dass ich auf eine Mädchenschule gehe, sondern weil die Schule einen Fahrstuhl hatte. Großbritannien hat vorgemacht, wie man die Barrierefreiheit der Schulen verbessern kann: Alle Schulen (auch Privatschulen) wurden per Gesetz verpflichtet, „angemessene Anpassungen“ vorzunehmen, damit auch behinderte Schüler bei ihnen eingeschult werden können. Dann wurden lange Übergangsfristen gesetzt und dann die Einhaltung überprüft.

2. Finanzierung

Das Ganze ist nicht umsonst zu haben und wer Inklusion als Sparmaßnahme versteht, hat nicht verstanden was Inklusion bedeutet. Ich hatte das große Glück, einen nicht-staatlichen Kostenträger zu haben. Eine Versicherung muss bei mir diese Aufwendungen tragen. Hätte ich das nicht gehabt, wäre das für meine Familie sehr teuer geworden.

Die Fahrten für die Schüler kosten Geld, die Assistenz und Ausstattung der Schulen auch. Andererseits will ich aber auch mal erwähnen, dass nicht jedes behinderte Kind „sonderpädagogischen Förderbedarf“ hat. Derzeit wird mir sehr nach dem „Gießkannen“-Prinzip diskutiert. Für mich wäre es nervig gewesen, wenn ständig jemand um mich rumgetanzt wäre. Andere behinderte Kinder brauchen dafür mehr Assistenz.

3. Neue Wege gehen

Mir konnte noch niemand wirklich erklären, warum es im Interesse eines Kindes sein sollte, aussortiert zu werden, um dann nach der Schulzeit mühsam den Weg in die mehrheitlich nichtbehinderte Gesellschaft zu finden. Es wird Kinder geben, die man nicht im Klassenverband unterrichten kann oder nur in sehr eingeschränktem Rahmen. Dennoch müssen diese Kinder nicht komplett draußen bleiben.

Und auch die Lehrer müssen bereit sein, neue Wege zu gehen. Ich hatte eine Sportlehrerin, die mit mir in ihrer Freizeit überlegt hat, wie man Tanzschritte in Rollstuhlbewegungen umsetzen kann und wie man das am besten benotet. Ich hatte aber auch Sportlehrer, die mir gleich am Anfang des Schuljahres mitgeteilt haben, dass ich zum Sportunterricht nicht kommen solle. Es wird in Zukunft immer weniger funktionieren, 20 Jahre lang das Gleiche zu machen oder sogar gleichen Unterricht abzuhalten. Aber auch das wäre doch wohl auch im Interesse der nichtbehinderten Schüler.

4. Bildet die Lehrer weiter

Ein Argument, das immer wieder pro Sonderschule gebracht wird ist, dass die Lehrer besser auf behinderte Kinder eingestellt seien. Sie werden es mir jetzt vielleicht nicht glauben, aber selbst viele Gehörlosenpädagogen können zum Teil nur sehr schlecht Gebärdensprache, wenn überhaupt. Mir sind während meines Studiums an der Uni angehende Blindenpädagogen begegnet, die die Blindenschrift Braille nur sehr rudimentär konnten, um mal nur ein paar Beispiele zu nennen.

Das ist einer der Gründe, warum ich nicht „Förderschule“ sage, sondern „Sonderschule“. Keine Frage, es gibt gute Sonderpädagogen und die werden in der Zukunft gebraucht, vermutlich mehr als zuvor. Aber nicht überall, wo „Förderschule“ draufsteht, ist auch Förderung drin. Daher kommt unter anderem der Druck, behinderte Kinder in Regelschulen zu lassen. Das Bildungsniveau auf Sonderschulen für körper- und sinnesbehinderte Kinder ist teilweise derart schlecht, dass die Kinder nicht die Bildung bekommen, die ihnen eigentlich zusteht.

Aber natürlich haben Sonderpädagogen, wenn sie ihren Job ernst nehmen, ein Wissen, das andere Pädagogen nicht haben. Dennoch glaube ich, dass auch reguläre Lehrer einiges davon in Weiterbildungen lernen könnten.

Fazit

Was bei der Debatte viel zu wenig bedacht wird: Inklusion ist nicht nur „behinderte Kinder in normale Schulen schicken“, sondern sie legt den Grundstein dafür, dass eine ganze Gesellschaft den Umgang mit behinderten Menschen als normal empfindet und Berührungsängste abgebaut werden. Das ist die Grundlage für so viele andere Bereiche. Wer jahrelang neben einem blinden Klassenkameraden saß, ist vielleicht später als Arbeitgeber eher bereit, jemanden, der blind ist, einzustellen. Nicht aus Mitleid, sondern weil er weiß, was blinde Menschen leisten können. Was ich aus der Debatte oft heraushöre, ist vor allem Angst. Angst vor Veränderung, Angst Lösungen zu suchen, weil man glaubt, keine zu finden.

Als ich anfing bei BBC zu arbeiten, war das Erste, was mir auffiel, dass meine Kollegen überhaupt keine Berührungsängste hatten. Niemand stellte komische Fragen, alle fanden es völlig normal, eine rollstuhlfahrende Kollegin zu haben. Irgendwann habe ich dann komische Fragen gestellt. Ich wollte wissen, woher diese Normalität kommt, die ich so nicht gewohnt war. Und die übereinstimmende Antwort lautete: „Wir hatten doch alle mindestens einen behinderten Klassenkameraden im Laufe unserer Schulzeit.“

 

Rollstuhlfahrer dürfen keine Zahnschmerzen haben

Wer nicht laufen kann, Rollstuhlfahrerin ist oder einfach nur Probleme mit Stufen hat, sollte besser keine Zahnschmerzen bekommen. Nur 15 Prozent der Arztpraxen von Zahnmedizinern und Kieferchirurgen in Deutschland sind barrierefrei. Selbst bei den Allgemeinmedizinern sieht es nicht besser aus. Nur 22 Prozent der Praxen sind zugänglich. Die Links-Fraktion hatte gefragt, wie viele Arztpraxen in Deutschland denn eigentlich für gehbehinderte Menschen zugänglich seien. Die Antwort des Bundesgesundheitsministeriums fiel recht ernüchternd aus, überrascht mich aber leider nicht.

Als ich 1996 nach Hamburg zog, um zu studieren, suchte ich eine Frauenärztin. Vor mir lag ein Telefonmarathon. Ich telefonierte eine Praxis nach der anderen ab, immer wieder mit der gleichen Frage „Haben Sie Stufen vor der Tür?“ Die Antwort war ungefähr 50 Mal „Ja“. Als ich dann endlich eine Frauenarztpraxis gefunden hatte, die keine Stufen hatte, wurde ich mit der Praxis, den Mitarbeitern und der Ärztin überhaupt nicht warm. Da stand ich dann vor der Frage, ob ich als Rollstuhlfahrerin meine Ärzte eigentlich nach ansonsten normalen Kriterien wie Sympathie, Kompetenz, Lage und Organisation der Praxis aussuchen darf oder nicht. Ich befand, dies sei mein gutes Recht und damit begann der Telefonmarathon von vorne. Am Ende landete ich bei einer Frauenärztin, deren Nachnamen mit S anfing. Ich war alphabetisch vorgegangen. Und das in einer Millionenstadt wie Hamburg. Ich will gar nicht daran denken, wie die Lage auf dem Land aussehen muss.

Ich grinse auch immer, wenn ich an Orthopädiepraxen vorbeikomme, die 20 Stufen vor der Tür haben. Behandeln diese Orthopäden nur Leute mit gebrochenen Armen aber keine mit gebrochenen Beinen?

Aber mal im Ernst, ein Gesundheitssystem, das nicht für alle zugänglich ist, ist kein gutes Gesundheitssystem. Wie viele Frauen gehen dann eben nicht zur Vorsorgeuntersuchung statt den Telefonmarathon abzuhalten, den ich gemacht habe oder finden am Ende gar keine zugängliche Praxis? Was ist denn dann? Und es hört mit den Arztpraxen nicht auf. Es gibt auch völlig bescheuert geplante Krankenhäuser. So als ob Menschen immer nur eine Krankheit haben. Als ich mal mit einer Lungen- und Rippenfellentzündung in die Notaufnahme eines Krankenhauses kam, teilte man mir mit, dass es leider keine barrierefreie Toilette in diesem Teil des Krankenhauses gebe. Das sei ja die Innere, nicht die Orthopädie. Ich hatte mir architektonisch die falsche Krankheit ausgesucht.

Mit der idiotischen Planung dieses Krankenhauses hat der Architekt nicht nur mich behindert, sondern die Mitarbeiter gleich mit, die mich dann nämlich auf die weiter entfernt liegende Station bringen mussten, wo ich endlich zur Toilette gehen konnte. Das kostet Zeit, die das Personal ansonsten sicher besser genutzt hätte.

Aber bei der Problematik der nicht zugänglichen Praxen geht es nicht nur um behinderte Menschen. Wie soll dieses nicht barrierefreie Gesundheitssystem in Zukunft mit den vielen älteren Menschen klar kommen, die nicht mehr so gut zu Fuß sind? Sollen die alle Hausbesuche kriegen? Wie sollen die in die 85 Prozent der Zahnarztpraxen kommen, die nicht zugänglich sind? Wie zu den 78 Prozent der nicht zugänglichen Allgemeinmediziner? Die Leute haben Jahrzehnte ins System einbezahlt, um am Ende vor Stufen zu stehen, die sie nicht mehr hochkommen.

Nun will die Bundesregierung die Arztpraxen barrierefreier machen. Eine gute Idee, aber gefühlt 20 Jahre zu spät. Dagegen haben auch die Ärzte nichts, wenn es sie denn nichts kostet. Ein Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sagte, keiner dürfe für seine Standortwahl bestraft werden. Tatsache ist aber: Derzeit werden Patienten bestraft, die durch das jahrzehntelange Ignorieren ihrer Bedürfnisse, einen erheblich erschwerten Zugang zum Gesundheitssystem haben. Es ist weder neu, dass es behinderte Menschen gibt, noch dass die Gesellschaft zunehmend altert. Wer das über Jahrzehnte ignoriert, zahlt dann unter Umständen am Ende die Rechnung für den Treppenlift, den er vielleicht besser schon vor 20 Jahren angeschafft hätte.

 

Erschreckende Hilfsbereitschaft

Ich bin wirklich kein schreckhafter Mensch, aber vor ein paar Tagen habe ich mich wirklich fast zu Tode erschrocken. Es war ein sonniger Tag, strahlend blauer Himmel und ich war auf dem Weg zur U-Bahn. Mein Auto hatte ich auf dem Park&Ride-Parkplatz abgestellt. Es war um die Mittagszeit und weit und breit war niemand zu sehen. Nur am etwas weiter entfernten Busbahnhof standen ein paar Leute.

Um zur U-Bahn zu gelangen musste ich eine Straße überqueren, die zum Busbahnhof führt. Der Übergang steigt etwas an und so nahm ich Schwung und wollte die abgeflachte Stelle hinauf fahren. In dem Moment, wo meine Arme nach hinten greifen, um dem Rollstuhl Schwung zu geben, merke ich wie ich die Kontrolle über den Rollstuhl verliere und mich jemand von hinten schubst, drückt, schiebt oder was auch immer.

Ich schreie vor Schreck. Der Rollstuhl schießt nach vorne, ich versuche dagegen zu steuern. In dem Moment lässt die Person hinten los und ich denke, ich falle nach hinten. Ich war ja immer noch dabei, die Steigung hochzufahren. Erst zu drücken und dann abrupt loszulassen führt bei Rollstühlen auf einer Steigung dazu, dass sie nach hinten kippen, wenn es blöd läuft.

Ich erobere die Gewalt über meinen Rollstuhl zurück und drehe mich um. Vor mir steht ein groß gewachsener Mann. Im ersten Moment denke ich, der will mich überfallen. Als ich gerade ansetze, um „Hilfe“ zu rufen, erklärt er mir, er wolle mir nur helfen. Ich merke wie mein Herz pocht, hole einmal tief Luft und sage dann zu ihm: „Hören Sie, das ist sehr nett, dass Sie mir helfen wollen. Aber können Sie nicht vorher fragen, bevor Sie mich irgendwohin schieben? Sie haben mich zu Tode erschreckt.“

Er wiederholt immer wieder, dass er mir helfen wolle, ist sichtlich irritiert über meinen Schreck, und ich habe fast Mitleid mit ihm. Vielleicht kann man meine Reaktion besser verstehen, wenn Sie sich vorstellen, Sie überqueren eine Straße, setzen gerade an, die Bordsteinkante zu überwinden als Sie von hinten jemand packt, hochhebt, um Sie auf dem Bürgersteig wieder abzusetzen, dann aber doch fast fallen lässt.

Mit seiner Hilfsbereitschaft hätte mich der Mann fast samt Rollstuhl rückwärts mit dem Hinterkopf auf die Straße befördert und hat mir wirklich einen riesigen Schrecken eingejagt.

Mit nur vier Worten, wäre das alles ganz anders abgelaufen: Kann ich Ihnen helfen?

Wenn er mich vorher gefragt hätte, ob er mir helfen soll, hätte ich gewusst, dass da jemand hinter mir ist. Ich hätte die Entscheidung treffen können, ob ich möchte, dass mich jemand wildfremdes schiebt oder nicht. Sich im Rollstuhl schieben zu lassen, hat viel mit Vertrauen zu tun. Ich suche mir Leute, von denen ich mir helfen lasse, daher lieber aus. Aber ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn mich Menschen fragen, ob ich Hilfe brauche. Im Gegenteil! Ich schätze jedes Angebot, wenn dann auch akzeptiert wird, dass ich es ablehne. Aber wer mir die Gewalt über meinen Rollstuhl wegnimmt, und damit über mich selbst, ohne sich vorher überhaupt bemerkbar zu machen, der darf sich nicht wundern, dass ich erschrocken reagiere.

 

Der Kult ums Laufen

Nein, ich rede nicht von irgendwelchen Lauf-Apps und Marathon-Begeisterten, sondern vom ganz normalen Laufen. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendeine Zeitschrift, Zeitung oder ein Promi verkündet, wie furchtbar es ist, nicht laufen zu können. Es wird einfach als allgemein gültige Wahrheit vorausgesetzt.

Ich frage mich jedes Mal, von was die eigentlich reden und wer ihnen das gesagt hat. Für die meisten Menschen, die ich kenne, die wie ich ebenfalls nicht laufen können, ist das nicht furchtbar, sondern gehört zu unserem Leben wie für andere die Haarfarbe oder die sexuelle Orientierung.

Die Fifa hielt es für eine gute Idee, einen querschnittgelähmten Jungen in einem Exoskelett zum Start der Fußballweltmeisterschaft einen Fußball kicken zu lassen. Ein Exoskelett ist eine Art Ganzkörper-Korsett. Ein Computer misst die Hirnströme, so wird das Gerät angesteuert.

Ich lehne mich jetzt weit aus dem Fenster, man wird diesen Text vielleicht auch noch in zehn Jahren im Internet finden können, aber ich sage voraus: Das Ding wird sich nicht durchsetzen. Warum? Ganz einfach: Möchten Sie so rumlaufen? In einem Ganzkörper-Korsett? Also ich nicht. Also jedenfalls nicht, wenn die Alternative ein metallicfarbener, 8 Kilo leichter, leichtgängiger, auf mich angepasster Rollstuhl mit Vorderrädern ist, die beim Rollen bunt blitzen.

Mein Rollstuhl ist irre wendig, ich bin damit flott unterwegs und würde ihn niemals gegen so ein Ding eintauschen. Rollstühle sind heute Accessoires. Ich habe mir gerade ein neues Auto gekauft und bin gerade dabei, einen neuen Rollstuhl zu bestellen. Ich kann Ihnen sagen, es ist schwieriger das Zubehör für den Rollstuhl auszusuchen als für ein Auto. Rollstühle sind cool, Exoskelette sind es nicht. Und ja, es lebt sich ziemlich gut damit, nicht laufen zu können. Das sage nicht nur ich, sondern das ist sogar wissenschaftlich erforscht:

Schon 1973 stellten Forscher keinen Unterschied bei behinderten und nichtbehinderten Menschen fest, wenn sie zu ihrer Zufriedenheit, ihrer Laune oder ihrem Frustrationsgrad befragt wurden. 1994 gaben 86 Prozent der befragten, hoch querschnittgelähmten Menschen (Tetraplegie) in einer Studie an, ihr eigenes Leben als “durchschnittlich” oder “besser als durchschnittlich” zu bewerten. In einer anderen Studie mit älteren querschnittgelähmten Menschen bewerteten diese ihre Lebensqualität sogar höher als nichtbehinderte Menschen der gleichen Altersgruppe.

Und es gibt noch viele weitere Studien dazu, die mehrheitlich alle das Gleiche sagen: Die Fähigkeit, laufen zu können, hat kaum Einfluss auf die Beurteilung der eigenen Lebensqualität.

Sport sollte eigentlich verbinden und die Vielfalt der Menschen als etwas Positives feiern. Die Olympischen und Paralympischen Spiele in London 2012 haben gut gezeigt, wie das geht, auch mit ihren Eröffnungsfeiern. Okay, ich gebe zu, ich bin da nicht ganz neutral, ich war bei beiden Eröffnungsfeiern dabei. Im Rollstuhl. Zusammen mit Tausenden anderen Freiwilligen unterschiedlichster Herkunft, jung und alt, mit und ohne Behinderung. Wie gesagt, nicht nur bei den Paralympics, auch bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele. Regisseur Danny Boyle hat mit der Eröffnungsfeier die Vielfalt der Menschen gefeiert. Die Fifa ging genau von dem Gegenteil aus: Alle sollen laufen, auch wenn sie es eigentlich gar nicht können.

Dieser Beitrag ist der Auftakt unseres neuen Blogs „Stufenlos“. Weitere Informationen darüber und über die Autorin finden Sie hier und hier.

 

Gefangen in Bonn Hauptbahnhof

Grundsätzlich finde ich Bahnfahren immer ein bisschen abenteuerlich. Seit ich nicht mehr in Deutschland lebe, genieße ich den Luxus, immer zum nächstgelegenen Flughafen zu fliegen und mich dann abholen zu lassen oder andere öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, wenn sie denn barrierefrei sind.

Nach Bonn zu kommen, stellte mich allerdings vor eine Herausforderung. Die Flugzeiten nach Köln/Bonn passten nicht so in meinen Plan. Die nach Düsseldorf allerdings schon, und so entschied ich mich, nach Düsseldorf zu fliegen und dann den Zug nach Bonn zu nehmen.

Mein Vorhaben wurde bereits zu Beginn der Reise schwer in Frage gestellt, als der Mann vor mir am Ticketautomat einen cholerischen Anfall bekam, weil der Ticketautomat wohl nicht das tat, was der Mann wollte. Das ist schon etwas ein Kulturschock, wenn man aus England kommt, wo alle friedlich in der Schlange stehen und möglichst wenig emotionale Regungen zeigen, auch dann nicht, wenn der Ticketautomat nicht so will wie man selbst.

Wenn man von dem völlig überfüllten Zug absieht – das bin ich von London wiederum gewöhnt – lief alles ganz reibungslos, der Zugbegleiter im Zug zwischen Köln und Bonn bediente die im Zug integrierte Rampe und ich konnte problemlos ein- und aussteigen. Ich fuhr geradezu beeindruckt von diesem guten Erlebnis zielstrebig zum Aufzug. Vor mir warteten eine Frau mit Fahrrad, ein älteres Ehepaar und ein Paar mit Kinderwagen. Angesichts der Größe des Fahrstuhls war klar, dass ich diesen Bahnhof so schnell nicht verlassen würde. Dass es allerdings so lange dauern würde, konnte ich nicht ahnen.

Der Fahrstuhl kam, das Fahrrad der ersten Frau passte kaum hinein. Sie musste es heben und knallte aus Versehen mit dem Hinterrad gegen die offene Fahrstuhltür. Daraufhin schaltete sich der Fahrstuhl ab. Das tun Fahrstühle schon mal, wenn man sie zu sehr haut, um größeren Vandalismusschäden entgegenzuwirken. Dass die Frau nicht randalieren wollte, sondern nur zu bequem war, ihr Fahrrad die Treppe herunterzutragen, weiß die Fahrstuhlelektronik nun mal nicht.

Nun musste sie also das Fahrrad doch tragen. Und auch das ältere Ehepaar und das Paar mit Kinderwagen machten sich auf in Richtung Treppe. Bevor die Fahrradfahrerin aber verschwand, bat ich sie, dem Bahnhofspersonal Bescheid zu geben, damit der Fahrstuhl wieder in Gang gesetzt würde. Ich kam ohne diesen Fahrstuhl alleine nicht mehr vom Bahnsteig runter. Sie versprach es und verschwand.

Der Bahnsteig leerte sich allmählich. Bald war ich alleine. Vom Bahnhofspersonal aber kam niemand. Ich weiß nicht, ob die Fahrradfahrerin niemanden fand oder vor lauter Anstrengung bis unten vergessen hatte, dass ich noch oben wartete oder was auch immer passiert war. Ich jedenfalls hing fest. Zu allem Übel hatte sich mein Handyakku kurz vor Ausstieg verabschiedet, aber ich hatte noch mein iPad, das auch eine SIM-Karte hat.

Also twitterte ich an den Kundenservice der Deutschen Bahn, dass ich auf ihrem Bahnsteig festsitze. Noch während ich auf Antwort wartete, fuhr ein IC ein. Ich ging zum Zugbegleiter, erklärte ihm meine Lage und er sagte, er werde mir helfen. “Dieser Zug fährt nirgendwohin bis ich für Sie Hilfe organisiert habe”, sagte er und signalisierte das auch seinem Kollegen, der auf die Abfahrt des Zuges drängte.

Bei der ersten Nummer, die der Zugbegleiter wählte, meldete sich niemand. “Dann eskalieren wir das jetzt mal nach oben”, sagte er. “Oben” ging jemand dran. Er schilderte das Problem, legte auf und sagte “Da kommt jetzt jemand. Das verspreche ich Ihnen.” Und bei dieser Ankündigung hätte es mich nicht mehr überrascht, wenn Bahnchef Grube selbst aufgetaucht wäre, um den Fahrstuhl wieder in Gang zu setzen.

Ich bedankte mich sehr bei ihm, er pfiff den Zug ab und fuhr weiter nach Koblenz. Etwas verspätet, aber er war mein Held des Tages, als wenig später endlich ein Bahnhofsmitarbeiter erschien.

Zeitgleich schickte mir die Deutsche Bahn auf Twitter eine Nachricht, dass Hilfe unterwegs sei. Und noch etwas entdeckte ich, als ich mich umdrehte: Eine Notrufsäule, die ich vorher zwar gesucht, aber nicht gefunden hatte. Notrufsäulen, die man im Notfall nicht findet, sind keine guten Notrufsäulen. Aber Mitarbeiter, die im Notfall Verantwortung übernehmen, auch wenn dadurch ein Zug fünf Minuten Verspätung hat, sind unbezahlbar.