Vor Kurzem habe ich geträumt, ich müsste mein Abitur noch einmal machen. Sie können sich sicher vorstellen, dass das kein schöner Traum war.
Ich hatte den x-ten Meinungsbeitrag zum Thema schulische Inklusion gelesen, diesmal in der Welt. „Die Idee, dass behinderte und nicht behinderte Kinder in einem Klassenzimmer erfolgreich lernen können, ist eine Fiktion“, las ich da. Mein Abitur, ja meine ganze Schulzeit soll eine Fiktion gewesen sein?
Ich habe an einer Regelschule 1996 Abitur gemacht. Zuvor war ich bedingt durch Umzüge auf zwei anderen Schulen, auf einer ganz normalen Grundschule und in zwei ganz normalen Kindergärten. Nun schreiben 18 Jahre nach meinem Abitur schlaue (mehrheitlich nicht behinderte) Menschen, dass das eigentlich gar nicht gehen kann. Inklusion sei eine Illusion.
Dabei wird völlig übersehen, dass es auch in Deutschland seit Jahrzehnten behinderte Kinder gibt, die erfolgreich aus dem Sonderschulsystem ausgeschert sind und das keineswegs in einem Desaster endete.
Vor ein paar Wochen rief mich eine Wissenschaftlerin an. Sie war auf der Suche nach den „wild Integrierten“. So nennen Pädagogen Leute wie mich, die einfach am System vorbei beschult wurden. Die Wissenschaftlerin wollte der Frage nachgehen, was denn genau zum Erfolg geführt hat, dass meine schulische Inklusion geklappt hat.
Ich glaube, wesentlich sind folgende Punkte:
1. Barrierefreiheit
Auch wenn das immer so diskutiert wird als sei das ja das geringste Problem, ist es doch Tatsache, dass über Jahre verpennt wurde, Schulen barrierefrei zu bauen. Wenn meine Eltern umgezogen sind, haben sie zuerst die Schule für mich gesucht und sich dann für einen Wohnort im Umkreis entschieden. Ich habe mein Abitur an einer katholischen Mädchenschule gemacht. Nicht weil meine Eltern unbedingt wollten, dass ich auf eine Mädchenschule gehe, sondern weil die Schule einen Fahrstuhl hatte. Großbritannien hat vorgemacht, wie man die Barrierefreiheit der Schulen verbessern kann: Alle Schulen (auch Privatschulen) wurden per Gesetz verpflichtet, „angemessene Anpassungen“ vorzunehmen, damit auch behinderte Schüler bei ihnen eingeschult werden können. Dann wurden lange Übergangsfristen gesetzt und dann die Einhaltung überprüft.
2. Finanzierung
Das Ganze ist nicht umsonst zu haben und wer Inklusion als Sparmaßnahme versteht, hat nicht verstanden was Inklusion bedeutet. Ich hatte das große Glück, einen nicht-staatlichen Kostenträger zu haben. Eine Versicherung muss bei mir diese Aufwendungen tragen. Hätte ich das nicht gehabt, wäre das für meine Familie sehr teuer geworden.
Die Fahrten für die Schüler kosten Geld, die Assistenz und Ausstattung der Schulen auch. Andererseits will ich aber auch mal erwähnen, dass nicht jedes behinderte Kind „sonderpädagogischen Förderbedarf“ hat. Derzeit wird mir sehr nach dem „Gießkannen“-Prinzip diskutiert. Für mich wäre es nervig gewesen, wenn ständig jemand um mich rumgetanzt wäre. Andere behinderte Kinder brauchen dafür mehr Assistenz.
3. Neue Wege gehen
Mir konnte noch niemand wirklich erklären, warum es im Interesse eines Kindes sein sollte, aussortiert zu werden, um dann nach der Schulzeit mühsam den Weg in die mehrheitlich nichtbehinderte Gesellschaft zu finden. Es wird Kinder geben, die man nicht im Klassenverband unterrichten kann oder nur in sehr eingeschränktem Rahmen. Dennoch müssen diese Kinder nicht komplett draußen bleiben.
Und auch die Lehrer müssen bereit sein, neue Wege zu gehen. Ich hatte eine Sportlehrerin, die mit mir in ihrer Freizeit überlegt hat, wie man Tanzschritte in Rollstuhlbewegungen umsetzen kann und wie man das am besten benotet. Ich hatte aber auch Sportlehrer, die mir gleich am Anfang des Schuljahres mitgeteilt haben, dass ich zum Sportunterricht nicht kommen solle. Es wird in Zukunft immer weniger funktionieren, 20 Jahre lang das Gleiche zu machen oder sogar gleichen Unterricht abzuhalten. Aber auch das wäre doch wohl auch im Interesse der nichtbehinderten Schüler.
4. Bildet die Lehrer weiter
Ein Argument, das immer wieder pro Sonderschule gebracht wird ist, dass die Lehrer besser auf behinderte Kinder eingestellt seien. Sie werden es mir jetzt vielleicht nicht glauben, aber selbst viele Gehörlosenpädagogen können zum Teil nur sehr schlecht Gebärdensprache, wenn überhaupt. Mir sind während meines Studiums an der Uni angehende Blindenpädagogen begegnet, die die Blindenschrift Braille nur sehr rudimentär konnten, um mal nur ein paar Beispiele zu nennen.
Das ist einer der Gründe, warum ich nicht „Förderschule“ sage, sondern „Sonderschule“. Keine Frage, es gibt gute Sonderpädagogen und die werden in der Zukunft gebraucht, vermutlich mehr als zuvor. Aber nicht überall, wo „Förderschule“ draufsteht, ist auch Förderung drin. Daher kommt unter anderem der Druck, behinderte Kinder in Regelschulen zu lassen. Das Bildungsniveau auf Sonderschulen für körper- und sinnesbehinderte Kinder ist teilweise derart schlecht, dass die Kinder nicht die Bildung bekommen, die ihnen eigentlich zusteht.
Aber natürlich haben Sonderpädagogen, wenn sie ihren Job ernst nehmen, ein Wissen, das andere Pädagogen nicht haben. Dennoch glaube ich, dass auch reguläre Lehrer einiges davon in Weiterbildungen lernen könnten.
Fazit
Was bei der Debatte viel zu wenig bedacht wird: Inklusion ist nicht nur „behinderte Kinder in normale Schulen schicken“, sondern sie legt den Grundstein dafür, dass eine ganze Gesellschaft den Umgang mit behinderten Menschen als normal empfindet und Berührungsängste abgebaut werden. Das ist die Grundlage für so viele andere Bereiche. Wer jahrelang neben einem blinden Klassenkameraden saß, ist vielleicht später als Arbeitgeber eher bereit, jemanden, der blind ist, einzustellen. Nicht aus Mitleid, sondern weil er weiß, was blinde Menschen leisten können. Was ich aus der Debatte oft heraushöre, ist vor allem Angst. Angst vor Veränderung, Angst Lösungen zu suchen, weil man glaubt, keine zu finden.
Als ich anfing bei BBC zu arbeiten, war das Erste, was mir auffiel, dass meine Kollegen überhaupt keine Berührungsängste hatten. Niemand stellte komische Fragen, alle fanden es völlig normal, eine rollstuhlfahrende Kollegin zu haben. Irgendwann habe ich dann komische Fragen gestellt. Ich wollte wissen, woher diese Normalität kommt, die ich so nicht gewohnt war. Und die übereinstimmende Antwort lautete: „Wir hatten doch alle mindestens einen behinderten Klassenkameraden im Laufe unserer Schulzeit.“