Über die Jahre (57): Seit 1973 ist Pink Floyds „Dark Side of The Moon“ auf der Welt. Noch immer lässt es Menschen erstarren und staunen, wie kürzlich auf der Insel Formentera
Der Sommer das Jahres 2009 hat mir ein musikalisches Erweckungserlebnis beschert, in San Francisco. Nicht San Francisco in Kalifornien, sondern San Francisco auf Formentera. Formentera, die Hippie-Insel. Jeder kam hier mal vorbei, Jimi, Bob und wie sie alle hießen. In der Hauptsaison wird sie heute von den Heerscharen heimgesucht. Aber im Hinterland, wenn man angesichts der Größe davon sprechen mag, wird der alte Geist bewahrt.
San Francisco heißt auf Katalanisch San Francesc de Formentera und ist mit 2500 Einwohnern Verwaltungszentrum der knapp 20 Kilometer langen neben Ibiza gelegenen Insel. Am 11. Juli werden dort stets die Feierlichkeiten zu Sant Jaume begangen, dem Schutzheiligen Formenteras. Aber jeder spricht eigentlich nur von der „Flower Power Party“.
Auf der Plaça de la Constitució steht eine Bühne mit üppiger Beschallungsanlage. Kirche, Rathaus und umliegende Gebäude mit Projektoren angestrahlt: bunte, psychedelische ineinander laufende Bilder. Die Straßen, gesäumt von Bier- und Grillständen, füllen sich. Es strömen Leute herbei, von denen manche aussehen, als hätten sie ihre Finca seit Jahrzehnten nicht verlassen. Sonnenverbrannte Gesichter, verknitterte Mattenkönige, verblühte Blumenmädchen, freakige Queens. Dann ist es endlich dunkel. Es geht los.
Mit Pink Floyd. Mit Dark Side Of The Moon. In voller Länge. Ein paar Tausend Leute halten inne, in dem Moment, als der tiefe Herzschlag von Speak To Me über den Platz wummert. Kinder tollen um ihre Beine, aber sie sind in einer anderen Welt. In einer Klangwelt, die 36 Jahre zurückliegt, aber bis heute nachhallt. Und dann kommt Time, zuerst das Intro mit den tickenden und bimmelnden Uhren, dann die oktavparallelen Läufe von Synthie und Gitarre, darüber das Rototom-Solo von Nick Mason, soweit alles bekannt, Millionen Mal gehört.
Aber nach zwei Minuten setzt Roger Waters’ Stimme ein. „Ticking away the moments that make up a dull day„, ruft er in das Schlagzeug-Break hinein, „you fritter and waste the hours in an offhand way„.
Jeder, wirklich jeder steht wie angewurzelt. Time wird zur Zeitmaschine und beamt ein paar Tausend Leute zurück in eine Ära, die wesentlich langsamer war als die heutige, deren hysterischer Leerlauf aber schon damals derselbe gewesen dürfte.
Zeitzeugen mögen widersprechen. Tun sie aber nicht. Zeitzeugen stehen da und spielen Luftgitarre. „And you run and run to catch up with the sun / but it’s sinking.“ Als wäre ein UFO gelandet und brächte eine Botschaft vom anderen Ende der Galaxie: Hey, Erdlinge, kommt mal runter, der Stress lohnt sich nicht, hat Euch Euer Einstein das nicht gesagt? „The Sun is the same in a relative way, but you’re older.„
Die bunten Projektionen haben ihren Grund darin, dass Aubrey Powell, Grafiker aus der legendären britischen Design-Schmiede Hipgnosis auf Formentera lebt. Powell hing schon mit Syd Barrett hier ab. Einige Hüllenmotive der Pink-Floyd-Alben, etwa das zu More, wurden auf der Insel fotografiert. Die Platte wird einmal komplett abgehört, wie eine Art Gottesdienst. Dann kann die eigentliche Sause losgehen.
Meine Vinylplatte von Dark Side Of The Moon kaufte ich erst 1977, mit zwölf Jahren. Ich hatte Time auf einer Oberstufenparty gehört. Am nächsten Tag verscheuerte ich meine gesamte Sammlung an Glam-Rock-Singles, The Sweet, Slade, T.Rex, an einen Nachbarsjungen. Fortan wollte ich nur noch „richtige“ Musik.
Ich ahnte nicht, dass zur selben Zeit in England Menschen mit Sicherheitsnadeln im Gesicht herumliefen, denen genau diese Musik die falsche war. Der Legende nach lernte Johnny Rotten, der Sänger der Sex Pistols, seinen Entdecker und späteren Manager Malcolm McLaren kennen, weil er ein T-Shirt trug, auf dem geschrieben stand: „I hate Pink Floyd„. In deren Augen waren Pink Floyd Saurier, ihre Musik bestenfalls geeignet für bekiffte Althippies, die in Matratzengruften vor ihren Angeber-Stereo-Anlagen hockten und immer längere und grotesker aufgeblähte Prog-Rock-Alben hörten. Dabei ist Dark Side Of The Moon ein Dokument der Sinnsuche, gehalten in sarkastischem Grundton, ein Ausdruck der Ernüchterung nach dem Ende der Flower-Power-Zeit, ausgelöst durch die Drogenkarriere des ehemaligen Pink-Floyd-Gitarristen Syd Barrett.
Kritiker hatten schon 1973, bei Erscheinen von Dark Side Of The Moon geschrieben, die Band sei definitiv hinterm Mond angekommen und zitiere sich nur noch selbst. Das hat nicht verhindert, dass eben dieses millionenfach verkauft wurde, in der ewigen Bestenliste übertroffen nur von Michael Jacksons Thriller. 741 Wochen stand es ununterbrochen in den amerikanischen Billboard-Charts.
Pink Floyd wurden tatsächlich mit den Jahren etwas saturierter und berechenbarer, aber in dem halben Jahr, als sie an Dark Side Of The Moon frickelten, erreichten sie einsame Höhepunkte, die ihr Toningenieur Alan Parsons perfekt auf 24-Spur-Tonband festhielt.
Am Ende spricht der Pförtner der Abbey Road Studios die letzten Worte: „There is no dark side in the moon, really, matter of fact it’s all dark.“ Es bleibt der tiefe Herzschlag, mit dem das Album auch beginnt. Dieser Herzschlag hat nachfolgende Generationen inspiriert, unter anderem die Easy All Stars aus New York, sie spielten unter dem Titel Dub Side Of The Moon eine kongeniale Reggae-Version des kompletten Albums ein. 2003 erschien eine Remaster-Version auf SACD, die auch aus zeitgenössischen Angeber-Anlagen das Letzte herausholt. Aber das sind andere Geschichten aus einer anderen Zeit. The Time has gone, the song is over, thought I’d something more to say.
„Dark Side Of The Moon“ von Pink Floyd ist 1973 bei Capitol Records erschienen. „Dub Side Of The Moon“ (2003) von Easy All Stars wird in Deutschland vertrieben von Broken Silence.
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