Carlo Fashion ist ein Arbeiter im Steinbruch der Musik. Er rückt London, Balkan, China, Bayreuth, Jazz, Pop, Elektro und Klassik näher zusammen. Jetzt hat er ein Requiem geschrieben. Aber für wen?
Zwei Jahre ist es her, da gab Wolfgang Petters seine Firma Hausmusik in München auf. Zwei Jahre schon!
Hausmusik war vor allem ein Vertrieb und sorgte dafür, dass die Platten anderer Labels in die Plattenläden kamen. Hausmusik war aber auch eine kleine Plattenfirma, und zwar eine ganz erstaunliche. Seinen Geschäftspartnern wusch Wolfgang Petters regelmäßig den Kopf und dämpfte ihre Verkaufserwartungen – er selbst kalkulierte so vorsichtig, dass sein Label immer schwarze Zahlen schrieb. Die Rechnung war einfach: Je höher die Auflage, desto höher der Aufwand, sie loszuwerden. Lieber verkaufte er 400 Platten von 500, als 1000 von 3000, und sparte sich Werbung und Marketing.
Insgesamt erschienen rund 70 in 15 Jahren, darunter einige, die erst später einen großen Namen tragen sollten. Die erste LP der Band Calexico etwa, frühe Lieder von Smog und Lali Puna, The Notwist und Will Oldhams Band Palace. Der leidenschaftliche Johnny-Cash-Fan Wolfgang Petters förderte den Folk, bevor er in aller Ohren war, er brachte Elektronik unter die Leute, als sie den meisten noch als Experiment galt.
Um den finanziellen Erfolg ging es ihm nicht, er ist ein Missionar. Er veröffentlichte Platten, von denen er wusste, dass sie sich in einer besseren Welt millionenfach verkaufen würden, in dieser aber eben höchstens fünfhundertfach. Das spröde Saitenzupfen von Squares On Both Sides verstauben lassen? Un-vor-stell-bar! Den klugen Elektropop von iso68? Die filmmusikalischen Forschungen von Village Of Savoonga? Raus damit, die Leute sollen zumindest die Möglichkeit haben, es zu hören. Die wuchernden Stilhybriden von Carlo Fashion? Ja, Sakra!, lass sie erklingen!
Carlo Fashion. Sein Name ist untrennbar mit der Geschichte von Hausmusik verwoben. Von keinem anderen Künstler veröffentlichte Petters mehr Platten. Und dennoch: Wer kennt schon Carlo Fashion?
Kurz: Bürgerlicher Name Carl Oesterhelt, hat seine Finger oft im Spiel. Ist Mitglied der Münchner Band F.S.K. (Freiwillige Selbstkontrolle), ist auf Aufnahmen von Ms. John Soda und des Tied & Tickled Trios zu hören und steht mit diesen auf Bühnen. Er produziert die Platten von Michaela Melián, soeben nahm er ein Album auf mit den (Notwist-)Brüdern Acher und anderen, erschienen unter dem Namen 3 Shades. Ein Arbeiter für die Musik ist er.
Sein erstes Soloalbum This Is Carlo Fashion erschien im Jahr 2001 bei Hausmusik. Das war Carlo Fashion: Mal hiphoppende, mal tiefjazzende Rhythmen, darüber bayerischer Swing, indisches Kino, Orchesterprobe, Großstadtcountry, Kaffeehausmusik. Und schon damals: Nie nur eines zur Zeit, jedes Lied eine eigene Welt. 15 Lieder, die auf 15 verschiedene Platten gehören – verbunden in ihrer treibenden Rhythmik. Carl Oesterhelt – der Madlib von München?
Danach gab es beinahe jedes Jahr eine neue Platte von ihm, bis zum Jahr 2006. Zu hören: Immer neue Einflüsse, Siebengebirge, Jamaika, Walt Disney, Balkan, China, East London, Weilheim, Bayreuth, Eurodisco. Neben Synthesizern erklang das Instrumentarium von Jazz und Klassik. Stimmen? Ganz, ganz selten.
Mit dem Doppelalbum Kollision verschwanden dann auch die Synthesizer, fast ganz, Oesterhelt trommelte und spielte Flöte. Klarinette und Cello, Trompete und Klavier legte er die feinsinnigen Melodien des Indiepop in den Mund. Kollision verdient den Namen, ist selten getragen, meist irrwitzig und leicht dissonant. Und die Lieder haben schöne Namen: Berg im Ohr etwa. Im Jahr 2006 folgt Das Konservatorium von Bari, noch durchdachter instrumentiert, noch feiner komponiert und doch nie perfektioniert. Das hier werkelnde Orchester könnte kommendes Wochenende auch wieder als Dixieband auftreten.
Das Folgealbum war schon aufgenommen, da brach bei Hausmusik im Herbst 2007 das Chaos aus, Vertrieb und Laden schlossen, an neue Veröffentlichungen des Labels war nicht zu denken. Nun endlich kann – in Zusammenarbeit mit dem oberbayerischen Schwesterlabel Kollaps – Carlo Fashions Reqiuem ertönen.
Es schließt dort an, wo wir das Konservatorium verließen. Ausgefeilte Kompositionen, die weder ganz und gar klassisch sind, noch als Indiepop oder Jazz durchgehen. Diesmal ist da auch Gesang, und der ist einer Totenmesse durchaus angemessen. Es singt die Familie, Michael Oesterhelt gibt den Tenor, Cornelia Melián den Sopran. Dazwischen erklingt Simone Beck, ganz unten noch Torsten Petsch. Sie singen oft.
Was da wieder alles klingt: Das Präludium geriete in den Händen von Lali Puna zum Hit, Die Wunder des Alls schleppt sich durch die Straßen von New Orleans, Schritt – Schritt – Schritt. Dies Irae ist reine Perkussion, so stellt sich ein Schlagzeuger das jüngste Gericht vor, nachvollziehbar. Den Wunderlichen Oberiuten singen Quartett und Klarinette ein Loblied über Four Tet’sche Elektronika. Und schließlich ist da sogar noch unerhörtes Gloria: Das angejazzte Antiterra, mollig zwar, aber quicklebendig. Schönen Gruß nach Lagos!
Nur: Wem singt Oesterhelt hier eigentlich das Totenlied? Ist es Hausmusik gewidmet? Das wäre freundlich, ist aber unwahrscheinlich, schließlich ahnten die wenigsten das nahe Ende. Singt er es seinem Pseudonym? Ist dies die finale Veröffentlichung? Hoffentlich nicht. Vielleicht schließt Requiem die mit Kollision begonnene zweite Schaffensphase von Carlo Fashion ab. Das ergäbe Sinn. Von hier aus zu neuen Ufern, neuen Verbindungen, Einflüssen und Ideen.
Bis dahin also.
„Requiem“ von Carlo Fashion ist auf CD und LP bei Kollaps/Hausmusik/A-Musik erschienen. Wer eine freundliche Mail an info@hausmusik.com schreibt, der bekommt die Platte zu einem guten Preis.