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Gustav zermahlern

 

Der Elektromusiker Matthew Herbert hat die Zehnte Sinfonie von Mahler tiefergelegt. Das Ergebnis wird Clubgänger, Jazzfreunde und Klassikliebhaber gleichermaßen verwirren.

© Dino Wand

Wer hört Matthew Herbert? Es sind zunächst Clubgänger, die seit 1996 zu seinen Rhythmen tanzen; inzwischen auch Jazzfreunde, hat er doch 2003 eine weithin beachtete Fusion aus Elektronika und Swing versucht, mit Bigband und Echtzeit-Sampling vor Publikum.

Für jemanden, der mit Musik richtig Geld verdient, probiert er viel aus. Die Klänge seines wohl bekanntesten Albums Bodily Functions setzte er nur aus Körpergeräuschen zusammen, aus Herztönen, Gurgeln und Blubbern im Leib. Sich bewegen konnte man trotzdem dazu. So steht der frühere DJ und klassisch geschulte Pianist mit seinen inzwischen 38 Jahren an jenem Übergang zwischen Unterhaltungskunst und Avantgarde, an dem sich immer schon die interessanteren Popmusiker getroffen haben.

Daher war es keine Überraschung, dass die Deutsche Grammophon den Engländer fragte, ob er nicht Werke aus dem Katalog der Plattenfirma mit seinen Mitteln bearbeiten wolle. Er wollte, und die vierte Ausgabe der ReComposed genannten Reihe ist nun also von ihm, beziehungsweise von Gustav Mahler: Dem Album zugrunde liegt das Fragment der Zehnten Symphonie, eingespielt vom Philharmonia Orchestra London unter Giuseppe Sinopoli.

Was macht Matthew mit Gustav? Zermahlert er ihn? Legt er ihn tiefer? Nun, er verbessert ihn. Oder sagen wir: Er versucht es.

Herbert macht die leisen Stellen leiser, die lauten lauter, er setzt immer noch eins drauf und fühlt sich durch das Unvollendete der Symphonie dazu ermutigt. Dabei greift er weniger das melodische und harmonische Material an als die Aufnahme selber.

Üblicherweise wird ja versucht, den Klang eines Orchesters so festzuhalten, dass man als Hörer über die Aufnahme gar nicht nachdenkt. Die Wahrnehmung soll der künstlerischen Interpretation gelten, nicht dem technischen Akt der Reproduktion. Herbert strebt das Gegenteil an. Er konfrontiert die 1987er Aufnahme mit der existenziellen Krise Mahlers 1910, dessen Tod 1911 und der Rekomposition 2010.

Ins Internet ließ er ein fünfminütiges Video stellen, in dem er sein Vorgehen zeigt. So sieht man ihn allen Ernstes über einen Sarg gebeugt, in den er ein Autoradio samt Lautsprechern einbaut. Dann kommt der Deckel drauf. Aus dem Sarg ertönt Mahlers Zehnte, davor Herberts Mikrofon. Kann man Musik mit ins Grab nehmen? Hat man nirgendwo seine Ruhe? Solche Fragen.

Mahler spielt auch in einem Leichenwagen, der im Vorbeifahren mitgeschnitten wird, oder im Versammlungsraum eines Krematoriums, den die Hinterbliebenen mit mitgebrachten CDs beschallen, wenn das Geld für Musiker fehlt. Mahler spielt auch an Mahlers Grab in Wien, dort allerdings von einer Bratschistin neu aufgenommen. Herbert behauptet einen Zusammenhang zwischen Klang und Ort, dessen gelegentliche Komik ganz unfreiwillig ist.

Das rekomponierte Werk wird Clubgänger, Jazzfreunde und Klassikliebhaber gleichermaßen verwirren. Plattenhändler aber wissen, wohin damit: zu den Hörspielen!

„Recomposed by Matthew Herbert: Mahler Symphony X“ ist erschienen bei Deutsche Grammophon.

Dieser Text wurde abgedruckt in der ZEIT Nr. 23/2010.