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Kaputtmachen in Einszwodreivier

 

Schweinestaatbullensystem war gestern, der junge deutsche Punk ergründet die menschliche Konkursmasse. Das Trio Die Nerven macht aus seinem Weltjuckreiz ein tolles Debüt.

© Kai Fischer
© Kai Fischer

Ja, wahrscheinlich war die Pubertät so, beziehungsweise: Sie sah wohl genauso aus wie dieses Plattencover. Da blickt uns ein langhaariges, noch geschlechtsloses Wesen an, im hochgeschlossenen Chiffonhemd, die Augen gefüllt von Trotz und Langeweile, Vorwürfen und Mirdochegal. Und das, wobei man der Gruppe Die Nerven dann zuhören kann, ist ebenfalls beherrscht von diesen jugendlichen Grundaffekten, die sich ja am besten in Grundakkorde übersetzen lassen. In Einszwodreivier. In Punk.

Während im deutschen Pop ein Bandname wie Get Well Soon durchaus als frommer Wunsch für das gesamte Genre gelten kann, besteht beim Deutschpunk seit Jahren kein eiliger Sanierungsbedarf. Gruppen wie Turbostaat, Matula oder auch Captain Planet haben sich erfolgreich von amerikanischen Vorbildern emanzipiert, auch die Feindbilder (und die gibt es noch!) sind komplexer geworden: Statt lautstark trunken gegen das Schweinescheißstaatbullensystem zu wettern, rückten mehr und mehr Bands die emotionale Konkursmasse des modernen Menschen ins Zentrum.

Manchmal genügen da wenige Wörter: „Menschen wie dich interessiert es nicht, ob sie leben oder sterben“, deklamieren Die Nerven gleich zu Beginn ihres Debütalbums Fluidum. Mehr Text braucht es nicht, wenn die Musik den Rest erzählt, sie dröhnt und scheppert wie in Vorortsgaragenzeiten, obwohl die drei Bandmitglieder aus Stuttgart kommen.

Die ganze Platte klingt so: Mittesechzehn bis Anfangzwanzig, vollgeladen mit der Erinnerung daran, dass das schönere Wort für Dekonstruktion manchmal Kaputtmachen heißt. Der junge Mensch in der Revolte: tja, nicht immer angenehm, nicht immer verdaulich, virtuos sowieso nur bedingt. Eine Mischung aus diffusem Weltjuckreiz und erhöhtem Blutdruck treibt die Gruppe durch die zehn Lieder.

Nimmt man den Bandnamen als Aussagesatz, trifft es zuweilen zu: Sie nerven. Aber mit erfreulich kompaktem Ungestüm und dem Gespür für den lebensklugen Satz zur richtigen Zeit: „Und andere Frauen ändern auch nichts an deinen Problemen.“ Musikalisch scheint viel durch in dem, was die Band selbst als „Noise-Punk“ beschreibt. Der knorrige Hamburgerhafenpunk von Oma Hans ebenso wie die schiefen Gitarrenwände amerikanischer Noiserockbands der späten Neunziger.

Ein Foto zeigt die Band brav gedrängt in einem Bett, über ihnen ein Beethovenbild, ihre Hände kokett gefaltet über der gestreiften Bettdecke. Wieso soll man schwimmen, wenn man auch treiben kann, singen sie zum Schluss im Lied Der letzte Tanzende – das ist überhaupt ein schönes Bild.

Es beschreibt die ganze Haltung, mit der Die Nerven antreten: Wo früher der Last Man Standing der Inbegriff des beharrlichen Widerstands war, tanzt nun der letzte Mensch „wie ein Irrer auf dem Parkett“. Als Geste des Trotzes ewiger Jugend, die nicht nach Hause will, die sich um den nächsten Morgen nicht schert, gegen ihn antanzt und alle anderen (einschließlich des Rezensenten) daran erinnert, wie verflucht alt sie geworden sind.

„Fluidum“ von Die Nerven ist erschienen bei This Charming Man/Cargo.