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Was mein Leben reicher macht

Kurz vor Weihnachten: Nur im Schritttempo komme ich mit meinem VW-Bus durch die Hamburger Innenstadt. Am Alten Wall steht neben mir ein alter amerikanischer Straßenkreuzer mit geöffneter Motorhaube. »Haben Sie wohl ein Überbrückungskabel?«, fragt mich der Fahrer, ein alter, grauhaariger Mann. »Nee, tut mir leid!«, rufe ich und rolle langsam weiter. Doch dann meldet sich mein Gewissen: Ich habe ein Kabel, ich bin nicht in Eile, es ist Weihnachtszeit! Ich schere aus der Autoschlange aus. Als der Straßenkreuzer wieder anspringt, schenkt mir der alte Mann eine CD. Er ist Chef einer Oldie-Jazzband, sie hat wunderschön verjazzte Weihnachtslieder aufgenommen. Immer, wenn ich sie höre, erinnert sie mich an dieses anrührende Weihnachtserlebnis.

Wolfgang Kausch, Hamburg

 

Schlaftrunken: Mein Wort-Schatz

Mein Wort-Schatz: schlaftrunken. Wenn ich am frühen Morgen nicht wie sonst mit meinem Mann aufstehe, sondern liegen bleibe, weil ich am Abend zuvor spät von einer Probe kam. Wenn er  sich dann, bevor er das Haus verlässt, noch mal für ein paar Minuten zu mir legt. Dann schmiege ich mich an, nur zur Hälfte wach: schlaftrunken. Und glücklich.

Anke Schönle, Ebermergen

 

Zeitprung

Sommer

Advent

Als im vergangenen Jahr Weihnachten vorbei war, konnten mein Mann und ich uns gar nicht von dem Adventskranz trennen. Beim Frühstück die vier Kerzen zu entzünden, das gab so ein gemütliches Licht! Deshalb haben wir uns entschieden, den Kranz nicht wegzupacken, sondern immer nach Jahreszeit und Anlass neu zu gestalten. Die vier Bärchen begleiten uns dabei. So sehen Sie hier den Zeitsprung von Advent (mit Tanne und Weihnachtsschmuck) bis Sommer (mit Sand und Muscheln). Zu Ostern kommen selbstverständlich Eier und im Herbst Früchte,  Eicheln und Nüsse auf den Kranz. Zum Geburtstag wird er mit Herzen und Blumen dekoriert. Vielleicht ist das ja eine Anregung für andere Leser, eine solche Deko-Initiative zu ergreifen.

Gisela Höhns, Schieder-Schwalenberg

 

Was mein Leben reicher macht

Nahren, mein Deutsch-Nachhilfekind, ein stets vergnügtes neunjähriges Mädchen irakischer Herkunft, bringt ihre Hausaufgaben zu mir mit. Es geht um den Münchner Oberbürgermeister und unter anderem um die Frage, wie lang er schon im Amt sei. Ich weiß es auch nicht. Nahren schaut mich leicht verwundert an: »Frau B., wie haben Sie das mit der Einbürgerung geschafft?«

Gerda Bödefeld, München

 

Wiedergefunden: Der Weihnachtsgruß


In den Tagebüchern meines Großvaters, der 1956 gestorben ist, habe ich ein Dokument gefunden, das mich schlagartig in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg versetzt hat: die Nachricht über ein Care-Paket aus Amerika zu Weihnachten 1946, vor genau 65 Jahren also. Absender war der Bruder meines Großvaters, der viele Jahre zuvor nach Amerika ausgewandert war. Der Inhalt dieses ersten Pakets war für unsere Familie (meinen Großvater, meine Mutter und meine beiden Brüder) in der Zeit der Mangelernährung überlebenswichtig. Mein Vater kam erst Mitte 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. In den Jahren 1946 und 1947 erhielten wir insgesamt 150 Pakete, wie sich aus den Tagebuchaufzeichnungen ergibt. Noch heute denke ich mit großer Dankbarkeit an diese großzügige Überlebenshilfe. Heute habe ich übers Internet wieder Kontakt mit den Nachfahren unserer Verwandten in Amerika.

Heino Bosse, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Endlich wieder Klavier zu spielen! Nach zwei Monaten »Entzug« – ich bin im Auslandssemester in Spanien – frage ich in einem heruntergekommenen Antiquitätengeschäft in Sevilla den Verkäufer, ob ich auf dem Flügel spielen dürfe. »Ja!« Zum Glück bemerke ich erst zum Schluss, dass sich vor dem Schaufenster eine Traube von Menschen gesammelt hat, die mir zuhören.

Merle Hömberg, Cádiz, Spanien

 

Weihnachten?

(Nach Joseph von Eichendorff, »Weihnachten«)

Markt und Straßen sind voll Drängen,
Lichterketten niederhängen.
Hektisch eil ich durch die Gassen,
Kann die Tüten kaum noch fassen.

Bunte Fenster dringend werben:
»Bitte, nicht das Spiel verderben!
Schaut – doch lasst vor allen Dingen
Unsre Ladenkassen klingen!«

Bang erreich ich meinen Schlitten,
Hab die Parkzeit überschritten.
Knöllchen klebt schon an der Scheibe,
Dass vom Geld nichts übrig bleibe.

Draußen, vor des Städtchens Toren,
Summt es mir noch in den Ohren
Von den Liedern, die gedudelt,
Tausendfach schon abgenudelt.

Einer sei da einst erschienen,
Uns zu lieben und zu dienen,
Mitzuleiden mit uns allen –
Irgendwas ist mir entfallen …

Sylvia Börgens, Wölfersheim

 

Der Sommerengel

Juni. Ein Spargelessen zu dritt. Sie hatte den Tisch festlich gedeckt, ihr Mann die Kartoffeln gekocht, die Freundin den Spargel. Ihr Mann war heiter, prostete ihr zu, denn es war ihr Geburtstag. Da störte ein Anruf die friedliche Stimmung. Ein Theologiestudent bat sie, ihm zwei, drei Monate lang jeden Tag beim Übersetzen griechischer und lateinischer Texte zu helfen. Das Thema: Sterben, Tod, das Fortleben der Seele in Texten von Platon und Cicero. Texte, in die sie seit ihrem Studium nicht mehr hineingesehen hatte. Eigentlich hatte sie vor, in den nächsten Wochen und Monaten den Garten umzugestalten, einen Seerosenteich anzulegen, neue Rosen zu pflanzen, die Hecken zu schneiden. Draußen wollte sie sein von morgens bis abends, aber nicht sich mit Perioden und der Funktion von Nebensätzen in den beiden antiken Sprachen beschäftigen. Sie fragte ihren Mann um Rat. »Das machst du«, sagte er nur und fügte ein leises, eindringliches »bitte« hinzu. Sie sagte zu, obwohl sie sich innerlich sträubte. In der Nacht starb ihr Mann an einem Herzinfarkt. In seinem Arbeitszimmer. Als erfahrener Arzt, erfuhr sie einige Tage später von einem seiner Kollegen, hatte er die Vorzeichen am Tage ihres Geburtstags stoisch gelassen selbst diagnostiziert. Zwei Wochen später saß der Theologiestudent, »der Junge«, wie sie ihn von nun an nannte, ungezwungen im Schneidersitz in einem ihrer Sessel. Über ihm im Regal ein Foto ihres Mannes: in Ferienlaune, erholt, lachend. Fast sehnsüchtig erwartete sie die tägliche Anwesenheit des Jungen, während sie nach geeigneten Texten für den Unterricht suchte. Sie half dem Jungen bei seinen allmählich flüssiger werdenden Übersetzungen, ließ ihn die Gedanken der Philosophen interpretieren, entdeckte mit ihm Parallelstellen in der Bibel und bei den Kirchenvätern. Das jugendliche, fast aufmüpfige Gebaren des Studenten und seine fantasievollen Übersetzungsvorschläge brachten sie manchmal zusammen zum Lachen. Und das alles half ihr, nicht die Contenance zu verlieren. So durchlebte sie, nach fast fünfzigjähriger Ehe, die ersten Monate ihres Alleinseins. Dass der Junge vielleicht ein Engel war, der ihr eine Botschaft überbrachte, vielleicht sogar eine frohe, dachte sie bisweilen. Auch später noch und nicht nur zur Weihnachtszeit.

Ursula Schorsch, Berlin

 

Was mein Leben reicher macht

Der Laden war fast leer. Nur eine Kundin wurde bedient. Ich stellte ich mich in einiger Entfernung geduldig auf. Wenig später betrat eine weitere Kundin das Geschäft, ebenfalls im  Seniorenalter. Nach kurzer Wartezeit wandte sie sich an mich: »Haben Sie es eilig?« – »Nein.« – »Schön, nicht wahr?« Und strahlte.

Heinz Wolfermann, Darmstadt