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Zeitsprung



Als wir Kinder waren, verbrachten wir unsere Ferien meistens auf Usedom an der Ostseeküste. Das Schwarz-Weiß-Foto entstand nach einem dieser Sommerurlaube im Jahr 1978 auf der Rückreise nach Dresden. Ich selbst (rechts im Bild) war damals knapp drei Jahre alt, meine Schwester Sabine war sechs. Wir standen vor dem Schlagbaum am Brandenburger Tor. Berlin war geteilt, an die Wende mehr als zehn Jahre später war noch nicht zu denken. Schon gar nicht für uns Kinder. Kürzlich, kurz vor dem 21. Jahrestag der deutschen Einheit, traf ich mich mit meiner Schwester, die jetzt in Rottenburg lebt, in Berlin, und wir wiederholten das Foto. Jetzt steht meine Schwester rechts im Bild. Auf unserem Weg zum Pariser Platz durchquerten wir das Brandenburger Tor, was 33 Jahre zuvor einfach unvorstellbar gewesen wäre.

Ulrike Kubisch, Dresden

 

Mein Wort der Woche

Mein Wort der Woche steht in keinem Duden, denn meine zehnjährige Tochter hat es sich kürzlich selbst zusammengereimt. Wir waren mit dem Auto unterwegs und sie versuchte ein Gedicht auswendig zu lernen, während ihre achtjährige Schwester ihren eigenen Kram erzählte. Meine große Tochter konnte das irgendwann nicht mehr ertragen und schrie wütend: „Lara, nun halt‘ endlich die Klappe. Du diskonzentrierst mich!“ Wir leben in Spanien und unsere Kinder gehen auf eine französische Schule – vielleicht kommt daher die sprachliche Kreativität.

Iris Werner, Malaga, Spanien

 

Kritzelei der Woche

Delphine lebt in Marseille, sie ist die beste Freundin unserer 17-jährigen Tochter. Während eines gemeinsamen Urlaubs in den Pyrenäen hat sie dieses Motiv in aller Ruhe gezeichnet und  wollte wohl das ganze Blatt füllen. Als ich es sah, sagte ich ihr, ich würde es an unsere deutsche Zeitung schicken. Delphine lernt fleißig Deutsch und würde gern in Deutschland studieren.  Ich dachte, ich schaffe ihr hier eine kleine symbolische Verbindung.
Martine Passelaigue-Dartmann, Marseille, Frankreich

 

Was mein Leben reicher macht

In meinem Garten Äpfel sammeln und dabei so richtig kräftig am Baum rütteln. Die Ernte in den Fahrradkorb und in den Rucksack verladen. Beim Tritt in die Pedale den halben Zentner Zusatzgewicht spüren. In der Kelterei angekommen alles wiegen, die Äpfel in eine Art Auffangbecken kippen und dabei das spezifische Geräusch klackender Äpfel zu hören, die auf einem Förderband zur Weiterverarbeitung abtransportiert werden. Das hat was! Auf den Hof der Kelterei fährt ein Auto mit einem großen Anhänger voll Äpfel – und auf den Äpfeln lagen zwei lachende Kinder. Noch mehr Lebensfreude. Schön!

Ralph Schneider, Ulm

 

Was mein Leben reicher macht

Vor sieben Jahren starb mein Vater, plötzlich und viel zu früh. Seitdem erlebten wir vier Kinder unsere Mutter als fassungslos Trauernde. Sie, die in unserer Familie stets für Contenance stand, war außer sich vor Kummer. Vor drei Monaten ist ein neuer Mann in ihr Leben getreten. Er war klug genug, nichts zu übereilen, und hartnäckig genug, die Trauerschichten, die diese ungewöhnliche Frau umgaben, so lange zu erweichen, bis etwas Verschüttetes wieder zum Vorschein kam. Wir wissen nicht, wer nun glücklicher ist: sie, die frisch Verliebte, oder wir Kinder, wenn wir ihr helles, übermütiges Lachen wieder hören.

Petra van Laak, Potsdam

 

Enken?


Dieses Foto habe ich kürzlich im Bremer Stadtteil Findorf aufgenommen. Vielleicht haben Sie ja Verwendung dafür …

Hannes Dziggel, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Endlich ist die Ruppelstrecke, auf der ich bis vor kurzem über tausend Schlaglöchern zum nächsten Dorf fuhr, repariert. Auf der frischgeteerten Straße surrt mein Autochen dahin wie auf einem dunklen Seidenband.

Sibylle Korber, Odenthal

 

Was mein Leben reicher macht

Wie früher, doch diesmal ohne Zeitdruck, sitze ich im Lesesaal der großen Bibliothek und schaue erwartungsvoll der Bibliothekarin zu, wie sie mir mit weißen Handschuhen große, in Leder gebundene Folianten vorlegt. Dann kann ich in uralte Texte eintauchen, und ich mache mich in aller Ruhe auf die Suche nach einem Konjunktiv, der mir damals in der Eile entgangen sein muss.

Knud Willenberg, Nürnberg

 

Lehrers Bilanz

(Nach Johann Wolfgang von Goethe, »Faust I«)

Habe nun, ach! während zweier Jahr’
Literatur nach Lehrplan-Doktrin
und Orthographie sogar
durchaus gelehrt mit heißem Bemühn.
Da sitz ich nun, ich armer Rat,
und grüble, was ich da denn tat.
Zog ich nicht nur quer und krumm
meine Schüler an der Nase herum?
Gab ihnen Texte zu interpretieren,
von vorne nach hinten zu analysieren?
Ich habe Klausuren schreiben lassen,
die Gedanken des Dichters tief zu erfassen.
Und merkte doch, daß niemand was wissen wollte,
in den Augen die Frage, was das bloß sollte.
Faust zog den Schluß für sein eigenes Leben:
Er hat sich der Magie ergeben.
Doch was soll ich tun, ich Fachidiot,
noch zwanzig Jahre in dieser Not?
Und doch bleibt das vage verspürte Hoffen:
Stand da nicht doch noch ein Türchen offen?
War es nicht doch nur ein Wörterkramen?
War es nicht auch Zeit für sprossenden Samen?

Heinz Schlögl, Bad Säckingen

 

Straßenbild


Auf dem Weg zu unserer Trauminsel Halki mußten wir aufgrund des (griechischen) Lotsenstreiks vor einigen Wochen einen Tag auf Rhodos verbringen – was zugegebenermaßen keine große Überwindung brauchte.  Beim verbummeln der so gewonnenen Zeit kamen wir an den üblichen Touristen- Ständen in der Neustadt vorbei. Obwohl die Griechen auf Rhodos meinten, Griechenland und damit die Krise sei weit weg, sahen wir plötzlich dieses Plakat.

Heike Vogt, Schwieberdingen