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Sänk ju!

Freitag. Wieder steige ich, wie so oft, in den 15-Uhr-Zug von Hamburg nach Stuttgart. Das Wochenende kommt. Mein Freund wird mit Blumen am Bahnhof warten. Nur noch knappe sechs Stunden.

Von wegen! Es war der falsche Zug.

In Augsburg steige ich aus und verliere die Nerven: heule, meckere und will spontan meine Fernbeziehung beenden. Ein junger Bahnhofsschaffner beruhigt mich: Er schreibt mein Ticket um, sucht mir den nächsten Zug nach Stuttgart raus, schenkt mir Erdnüsse, Gummibärchen und sein Lächeln. Dann setzt er mich ins Bahnhofshallencafé, wo zwei zauberhafte Studentinnen mir Milchreis und Latte macchiato servieren und mir eine Zeitung vor die Nase legen. Am Ende lese ich allen ihre Horoskope vor, und wir lachen. Der Schaffner setzt mich eine Stunde später in den richtigen Zug. Ich komme nach Mitternacht zu Hause an. Mein Freund steht ein zweites Mal an diesem Tag mit Blumen auf dem Bahnsteig und erwartet mich fröhlich. Die Fernbeziehung ist doch noch eine Weile zu ertragen. Dank Augsburg.

Steffi Warncke, Hamburg, Stuttgart, Bielefeld, Schwerin, Potsdam

 

Was mein Leben reicher macht

Mit meinen Söhnen, 16 und 20, aufs Rockfestival zu fahren, zu tanzen, zu singen und nachts auf dem Rückweg zu hören: „Eigentlich müsstest du uns ja peinlich sein, aber wir finden es cool von dir.“ Danke Jungs!

Astrid Beel-Mithoff, Egestorf

 

Was mein Leben reicher macht

Das Abschiednehmen von guten Freunden bei Kaffee und Kuchen in einem Berliner Hinterhof. Wir schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen, schmieden Pläne für die Zukunft und freuen uns auf ein Wiedersehen in São Paulo, Conakry, Lagos, Jerusalem, Dhaka – oder Berlin.

Mathias Keller, Berlin

 

Die Kritzelei der Woche

Bei einem Telefonat mit einer Bekannten, deren Redeschwall nie enden will, entstand diese Kritzelei. Von einer Abendveranstaltung am Vortag war ich sehr müde und konnte die Augen kaum noch offen halten. Doch erst als ich laut gähnte, gelang es mir, den Redefluss zu stoppen. Inzwischen war der Zettel vollgekritzelt. „Eigentlich zu schade für den Papierkorb!“, dachte ich am nächsten Morgen und spielte noch ein wenig mit dem Bildbearbeitungsprogramm, um die Kritzelei zu kolorieren. Hier das Ergebnis.

Bruni Häcker, Talheim bei Heilbronn

 

Was mein Leben reicher macht

Am Donnerstagmorgen die Treppe runterrennen, um dem hausinternen Zeitungsdieb zuvorzukommen. Auf dem Weg in die Wohnung die letzte Seite aufschlagen und sich freuen, dass es Leute gibt, denen das Leben offenbar noch übler mitspielt.

Henrik Mulder, Berlin

 

Was mein Leben reicher macht

Fünf Freunde im gesetzten Alter beim Wandern im schwäbischen Unterland. Auf der Neckarbrücke in Lauffen, der Hölderlinstadt, begegnet uns ein alter Handwerksmann. Man kommt ins Gespräch, und der Alte fragt, ob wir ein Gedicht von Hölderlin aufsagen können. Unser Freund Rudi kann es, die Achtung des Mannes ist ihm gewiss. Und plötzlich stimmt der Alte „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit …“ an. Die Freunde singen begeistert mit.

Frank Laier, Stuttgart

 

Ein Zeichen

Ich bin spät dran, radle, schnell, schnell zu meiner Ärztin: Wo kann ich das Fahrrad abstellen? Schnell an einem Verkehrszeichen abgesperrt … Beim Verlassen der Praxis stocke ich: Was ist denn das? War das vorhin schon da? Ein Herz für mein Fahrrad? Wenn ich noch jünger wäre und nicht glücklich verheiratet, würde ich glatt an einen Verehrer denken … In meinen Studentenjahren lebte ich in diesem Teil der Stadt. Aber die Farbe ist trocken und riecht nicht, das Herz ist schon länger da als mein Fahrrad. Aber das Foto ist es in jedem Fall wert!

Konstanze Eppensteiner, Wien

 

Was mein Leben reicher macht

Bei einem Juwelier in der Innenstadt. Felix sitzt neben mir. Wir bezahlen unsere Eheringe. Die Juwelierin sagt, es sei eine schöne Investition. Mir kullern die Tränen über das Gesicht. Einen Teil dieses Geldes trug mein Vater bei sich, als er unerwartet starb. Meine Mutter schenkte es mir und sagte, ich könne mir vielleicht eine Erinnerung kaufen. Nichts war mir schön und beständig genug. Bisher.

Anja Irgl, Wien

 

Was mein Leben reicher macht

Wenn ich am Samstagmorgen bei trübem Wetter die elende, 30 Kilometer lange Strecke zum Wochenmarkt fahre und unverhofft über mir das Schnattern der Wildgänse höre und ihren wunderschönen Flug am Himmel sehe.

Heidemarie Schwartz, Emlichheim

 

Ich weiß nicht …

(Nach Heinrich Heine, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“)

Ich weiß nicht, was soll ich hier deuten
Den alten Hölderlin;
Mit Sprachtabellen arbeiten,
Erkennen muss ich den Sinn!

Der Frust ist groß und es dunkelt,
Ich sitze bei Lampenschein;
Bei Facebook die Meute schon munkelt:
Hyperion kriegst du nicht klein.

Die brave Deutschschülerin sitzet
Mit wirrem, zerrauftem Haar;
Über Periphasen und Jamben sie schwitzet,
Und Chiasmen quälen sie gar.

Sie zähmt Daktylogramme
Und ringt mit dem Binnenreim;
So langsam entschlüsselt die Dame
Die Metrik im Zeileinerlei.

Ach, wenn sie doch nur begriffe,
Was ich schon seit Langem seh’:
Was bleibt, ist ein Lyrikgerippe,
Reduziert auf aa und bb.

Ich glaub, Analysen verschlingen
Der Lyrik magischen Bann;
Gedichten die Norm aufzuzwingen
Hat niemals je Gutes getan.

Katharina Kanke, Marburg-Wehrda

(Diese Paraphrase, schreibt die 16-jährige Gymnasiastin, sei entstanden, als „ich nachts um 2 Uhr noch über meinen Deutsch-Hausaufgaben saß“ und „Hyperions Schicksalslied“ von Hölderlin interpretieren sollte)