Lieber Rich,
ich komme gerade aus Vancouver zurück. Dort habe ich ein Stück Zukunft erlebt: Eine junge, dynamische Stadt, weltoffen und auf Asien ausgerichtet, politisch progressiv, auf Nachhaltigkeit bedacht, post racial. So habe ich diese Zukunft in Europa noch nicht gesehen. Europa hat dort Stärken, wo es in Nordamerika noch hapert: bei der wirtschaftlichen und politischen Integration. Aber die Euro-Krise hat gezeigt, dass, auch wenn Landesgrenzen niedergerissen werden, die Grenzen in den Köpfen weiterleben. Vielleicht braucht das Zeit und weitere Integration – auch der Menschen und ihrer Politiker. Kanada geht einen anderen Weg: Es lädt die Welt zu sich ein – rund 250 000 Einwanderer sind es pro Jahr – und versucht, die Grenzen in den Köpfen vor Ort anzugehen, wenn alle erst mal Kanadier sind. Es formt aus Tausenden eine Identität und ist somit Europa bei der Integration seiner Menschen um einiges voraus. So ebnet es sich seinen eigenen Weg in die Zukunft, indem es Talente anzieht und der Alterung der Gesellschaft entgegenwirkt.
Beide Fälle spielen ihre historischen Stärken aus: Europa, die eher gesetzte, aber über Jahrhunderte amorphe Einheit; Kanada, das klassische Einwandererland. Beide könnten aber noch viel voneinander lernen. Kanadier und ihre Nachbarn vom Nutzen der Integration, Europäer etwas über den Aufbau einer postmodernen Gesellschaft. Zum Beispiel durch eine Reise nach Vancouver.
Dein Julian
Im wöchentlichen Wechsel schrieben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen. Dies ist der vorläufig letzte von insgesamt 14 Briefen.