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Briefe über Deutschland (14)

Lieber Rich,

ich komme gerade aus Vancouver zurück. Dort habe ich ein Stück Zukunft erlebt: Eine junge, dynamische Stadt, weltoffen und auf Asien ausgerichtet, politisch progressiv, auf Nachhaltigkeit bedacht, post racial. So habe ich diese Zukunft in Europa noch nicht gesehen. Europa hat dort Stärken, wo es in Nordamerika noch hapert: bei der wirtschaftlichen und politischen Integration. Aber die Euro-Krise hat gezeigt, dass, auch wenn Landesgrenzen niedergerissen werden, die Grenzen in den Köpfen weiterleben. Vielleicht braucht das Zeit und weitere Integration – auch der Menschen und ihrer Politiker. Kanada geht einen anderen Weg: Es lädt die Welt zu sich ein – rund 250 000 Einwanderer sind es pro Jahr – und versucht, die Grenzen in den Köpfen vor Ort anzugehen, wenn alle erst mal Kanadier sind. Es formt aus Tausenden eine Identität und ist somit Europa bei der Integration seiner Menschen um einiges voraus. So ebnet es sich seinen eigenen Weg in die Zukunft, indem es Talente anzieht und der Alterung der Gesellschaft entgegenwirkt.

Beide Fälle spielen ihre historischen Stärken aus: Europa, die eher gesetzte, aber über Jahrhunderte amorphe Einheit; Kanada, das klassische Einwandererland. Beide könnten aber noch viel voneinander lernen. Kanadier und ihre Nachbarn vom Nutzen der Integration, Europäer etwas über den Aufbau einer postmodernen Gesellschaft. Zum Beispiel durch eine Reise nach Vancouver.

Dein Julian

Im wöchentlichen Wechsel schrieben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen. Dies ist der vorläufig letzte von insgesamt 14 Briefen.

 

Briefe über Deutschland (13)

Lieber Julian,

Dein Friseur irrt sich gewaltig: Von einer Ära Europa, die zu Ende geht, kann keine Rede sein. Stell Dir bloß die Europäische Union in zehn oder zwanzig Jahren vor: In welchem Europa werden insbesondere die Jugendlichen von heute dann leben? Die Finanz­krise macht es deutlich: Die Währungs­union bietet Sicherheit und Stabilität. Statt sich abzuwenden, denkt man in einigen Staaten jetzt sogar neu darüber nach, der EU beizutreten! Die Europäische Union wird weiterhin existieren und den viel gepriesenen europäischen Mehrwert für ihre Bürger umset­zen. Sie wird sich erweitern, auch wenn es noch unterschiedliche Einschätzungen in Hinblick auf den Beitritt der Türkei gibt. Die geänderte Demografie in der Europäi­schen Union erhebt die europäischen Zukunftsfragen zu generationsübergreifenden Aufgaben. Viele Aspekte des europäischen Einigungsprozesses und ihre Relevanz für Euch junge Leute kommen hinzu. Als gro­ßes Plus bewerte ich die zunehmende Mo­bilität, kritische Einwände habe ich aller­dings für den Bologna­-Prozess mit seinen Folgen für das Studium. Und natürlich muss auch die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen noch besser werden: Nur ein Drittel der Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren hat sich an der letzten Wahl beteiligt.

Doch trotz solcher Zahlen: Ich bin sicher, dass die Mehrheit der Deutschen, vor allem auch der jungen, so denkt wie ich: Es ist gut, dass es die EU gibt und dass unser Land eines ihrer Mitglieder ist.

Dein Rich

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen, und sein Stiefsohn Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal

 

Briefe über Deutschland (12)

Lieber Rich,

natürlich hat Kanada den Luxus der Distanz und kann sich die Griechenland-Saga mit etwas mehr Gelassenheit zu Gemüte führen, zumal es ja fix aus seiner kleinen Rezession rausgeklettert ist. Kürzlich sprach ein Leitartikler vom „deutschen Imperium“. Die Wortwahl wäre in Deutschland sicher anders ausgefallen, aber der Bezug auf Deutschlands dominante, exportorientierte und Abhängigkeit generierende Wirtschaft ist richtig. Daher trifft hier der Widerwille, mit dem sich die deutsche Regierung zu dem Hilfspaket durchgerungen hat, auf Unverständnis.

Allerdings nicht so sehr wie die Zustände, die in Griechenland die Krise mit herbeigeführt haben. Da zeigen die Kanadier eher Solidarität mit den Deutschen, die ihnen ja wirtschaftlich ähnlicher sind und mit denen sie sich daher leichter identifizieren können. Eine erboste Restaurantbesitzerin traf ich kürzlich in Spanien: Ihr missfiel, dass ihr Land, selbst gefährdet, jetzt auch noch Milliarden nach Griechenland schicken müsse. In ihrem hervorragenden Restaurant waren wir die einzigen Gäste. Mein Friseur meinte übrigens, dass Europas Ära zu Ende sei. Als stolzer Europäer, der auch weiterhin an das Projekt der europäischen Einheit und Solidarität glaubt, denke ich da anders. Aber wie ist die Stimmung in Deutschland?

Dein Julian

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen

 

Briefe über Deutschland (11)

Lieber Julian,

wir kommen gerade von einem Besuch zurück, der nachklingt. Geschürt von einigen Medien hat die Angst in Deutschland einmal mehr die Oberhand gewonnen: Steht der Zusammenbruch des Euro bevor? Reicht das milliardenschwere Rettungspaket für Griechenland, oder geht der Staat doch pleite? Kippen noch andere EU-Länder? Unsere Freundin zeigt Anzeichen von Panik. „Was mache ich mit meinem Geld? Und ihr?“ Daneben Wut auf die „Pleite-Griechen“.

Sie versteht es nicht, als ich einwende, dass wir zur griechischen Misere selbst erheblich beigetragen haben: Unsere hohen Exportüberschüsse bestehen zum Teil eben auch aus mit Schulden finanzierten
Ausfuhren nach Südeuropa. Noch weniger verstanden werden diese großen Zahlen: Seit dem Zusammenbruch einiger Banken scheinen Milliarden so etwas wie die kleinstmögliche Einheit zu sein im politischen Denken und
Handeln. Selbst ein Herunterrechnen von 1 Milliarde in 12,50 Euro pro Deutschen hilft wenig.

Mich macht es ratlos. Bräche der Euro tatsächlich auseinander, dann wäre vermutlich das Geld am besten hier in Deutschland aufgehoben, denke ich mir. Sind wir doch finanzpolitisch eines der solidesten Länder der Erde, weit vor den USA. Wie denkt man bei Euch darüber?

Dein Rich

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen, und sein Stiefsohn Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal

 

Briefe über Deutschland (10)

Lieber Rich,

Du hast recht: Naturkatastrophen wird es immer geben. Aber man kann versuchen, die Zahl und die Folgen jener Katastrophen zu reduzieren, die von Menschen verursacht werden. Natürlich ist man im Nachhinein immer schlauer, aber derzeit muss man doch die Frage stellen, warum die amerikanische Gesetzgebung bei Unterwasserölbohrungen keine Sicherheitsventile verlangt. Derweil nutzt die kanadische konservative Regierung die Ölpest, um die Ölsände in Alberta zu preisen, denn immerhin könne dort so etwas ja nicht passieren.

Praktischerweise vergessen sie natürlich dabei, dass auch die Ölsände viele Umweltrisiken bergen. Die menschliche Solidargemeinschaft, die Du in Deutschland ansprichst, ist wunderbar – besonders in Katastrophenzeiten. Aber was die Flutopfer angeht, so würden viele doch bestimmt einen Versicherungsscheck den gut gemeinten Spenden vorziehen. Denn Ersterer verspricht Sicherheit. Und wer die will, landet zwangsläufig wieder bei einem gesetzlich geregelten Solidarpakt. Wenn die Deutschen den aufgeben, müssen sie sich fragen, ob eine Kombination aus Markt und Hilfsbereitschaft ihn ersetzen kann. Um es überspitzt zu sagen: Deine studentischen Helfer in allen Ehren, aber im Moment ziehe ich es vor, dass BP sich um die Aufräumarbeiten kümmert. Denn so will es das Gesetz, und das ist gut so, findet

Dein Julian

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen

 

Briefe über Deutschland (9)

Lieber Julian,

Naturkatastrophen wird es immer geben – von Menschen initiierte Katastrophen ebenfalls: Vulkanasche versus Tiefseeöl. Die letzte Katastrophe, die Deutschland direkt traf, liegt weniger als zehn Jahre zurück: Hochwasser an Elbe und Oder. Es kam zu enormen Schäden. Wir Deutschen haben uns damals als erstaunliches Volk erwiesen: Wir zeigten eine Solidarität, welche in den Jahren davor so nicht verwirklicht wurde.

Bis vor wenigen Jahren gab es in den Bundesländern gesetzlich vorgeschriebene Elementarversicherungen für Haus und Hof – eine Solidargemeinschaft aller Versicherten. Heute kann jeder seine Versicherung wählen, allerdings nicht gegen die wirklichen Gefahren: Da lehnt die Versicherung das Risiko ab. Der ursprüngliche Solidarpakt ist aufgehoben, aber durch die Hintertür der Opferbereitschaft kommt er wieder herein. Und es klappt. Ein großer Fortschritt.

Er beginnt sich auch jetzt zu zeigen. Einige meiner Studierenden, die in der vorlesungsfreien Zeit einen Kurzurlaub in Florida planten, diskutieren über eine Veränderung ihrer Pläne. Sie wollen nun an die Nordküste des Golfs von Mexiko fahren und bei der Beseitigung der Ölpest-Folgen helfen. Diese junge Generation ist offenbar weit besser als ihr Ruf.

Das freut
Deinen Rich

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen, und sein Stiefsohn Julian
Lee, 30, Umweltberater aus Montreal

 

Briefe über Deutschland (8)

Lieber Rich,

das Missbrauchsproblem kennen wir hier auch nur zu gut. Unsere amerikanischen Nachbarn sind es vor ein paar Jahren, wie üblich, mit großen juristischen Prozessen angegangen. In Kanada kommt eine weitere Dimension hinzu: Zwischen 1870 und 1996 wurden 150 000 Ureinwohnerkinder in sogenannte „residential schools“ weit weg von Heimat und Familien geschickt, um bekehrt und assimiliert zu werden. Was für die Spätkolonialherren Kiplings „Bürde des weißen Mannes“ war, hat Generationen von Ureinwohnern zerstört. Denn zu kultureller und familiärer Entwurzelung kamen allzu oft gewalttätiger, emotioneller und sexueller Missbrauch hinzu. Eine von der Regierung initiierte und von den Kirchen ausgeführte Katastrophe, unter deren Folgen auch heute noch viele Menschen leiden.

Ich selbst bin mit 16 von zu Hause ausgezogen, aber nicht wegen der Distanz zu Euch, sondern um neue Abenteuer zu finden und meine Horizonte zu erweitern. Unvorstellbar, wenn das durch eine Autorität forciert oder ich gar dabei missbraucht worden wäre. Ihr hättet Euch nie verziehen, und ich mir auch nicht. Für die mehr als 100 Jahre Missbrauch in Kanada hat sich Papst Benedikt vor Kurzem – wenn auch wieder halbherzig – entschuldigt. Die katholische Kirche hat mit solchen Entschuldigungen unter ihrem deutschen Papst Schwierigkeiten. Wie viele Deutsche sich wohl noch gern an den „Wir sind Papst“-Jubel erinnern?

Das fragt sich
Dein Julian

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen.

 

Briefe über Deutschland (7)

Lieber Julian,

habe ich Dir eigentlich schon einmal erzählt, welchen Beruf sich meine Großmutter für mich ausgedacht hatte? Bischof! Ich musste in den letzten Wochen oft daran denken. Zum Glück scheiterte ich schon beim ersten Eignungstest – ich war fünf Jahre alt. Da gab es eine Andacht im Kindergarten und zwei Aufgaben: Weihrauchfass schwenken (dauernd) und Klingeln (nur zum Eingang und beim Segen). Mein Konkurrent war ein Schwächling, ungeeignet für die mühevolle Aufgabe des Schwenkens, unfähig, unbeobachtet die dreifache Menge an Weihrauch auf der Glut zu deponieren. Zum Segen stellte ich das Weihrauchfass auf den Boden, entriss dem laut aufklagenden Schwächling die Klingel und schüttelte sie so heftig, dass der Herrgott selbst es hören musste. Abruptes Ende der Andacht: zwei schallende Ohrfeigen.

Züchtigung und Strafe schienen damals notwendig in Kindergarten und Schule, ergänzt durch eine Art der Zuwendung, die Distanz auf ein mir unerträgliches Maß verringerte. Ich wehrte mich erfolgreich. Und machte die Naturwissenschaft zu meinem Beruf.

Und jetzt beschäftigt mich die Frage: Habe ich dich je geschlagen? Kam ich Dir, der gern meine Nähe suchte, je zu nahe, wenn Du eigentlich Distanz gewünscht hast? Das fragt Dich und sich

Dein Rich

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen, und sein Stiefsohn Julian, 30, Umweltberater aus Montreal

 

Briefe über Deutschland (6)

Lieber Rich,

zunächst: Wir sind ohne Probleme aus Europa zu­rückgekommen. An den drei Flughäfen, über die ich fliegen musste, war kein einziger Flug mehr storniert, und im Flugzeug von Madrid nach Ams­terdam gab es sogar reichlich freie Plätze. Das Problem besteht nicht darin, dass die Vulkan­asche sich vielleicht im Nachhinein als ungefähr­lich herausgestellt hat (immerhin deuteten die Ab­lagerungen in dem finnischen Kampfjet auf das
Gegenteil hin), sondern darin, dass die Politik un­vollständige Informationen hatte. Das verlangt nach besserer Wissenschaft, besserer Koordination und, ja: Grenzwerten. Der unaus­sprechliche isländische Vulkan war aber zum letz­ten Mal vor der Ära der kommerziellen Luftfahrt ausgebrochen.

Dem Vorbeugeprinzip folgend, konnte die Politik nicht anders reagieren – die Konsequenzen einer Fehlentscheidung zulasten der Sicherheit wären nicht verzeihlich gewesen. Nun kann man darüber streiten, ob dieses Prinzip Sinn hat. Allerdings ist es Teil der europäischen Entscheidungsfindung, mehr jedenfalls als dies­seits des Atlantiks. Das betrifft nicht nur Vulkan­asche, sondern auch den Klimawandel, Genmani­pulation, Chemikalien und ihre Auswirkung auf die Gesundheit, Datenschutz und so weiter. Wir sollten es uns nicht nehmen lassen, findet

Dein Julian

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen

 

Briefe über Deutschland (5)

Lieber Julian,

Asche über Dein Haupt – mit dieser Redensart haben wir noch vor wenigen Tagen manchen in Missbrauch Verstrickten zum Bekennen seiner Schuld aufgefordert. Und nun? Nun ist die Asche über unsere Häupter gekommen, wie BSE, Schweinegrippe und anderes Ungemach. Meine Reise nach Hamburg wurde zur Odyssee.

Der Ausbruch des Vulkans auf Island kam keineswegs überraschend, die europaweiten Konsequenzen waren es umso mehr. Es ist nur schwer vorstellbar, wie ein solches Naturschauspiel den kompletten europäischen Flugverkehr lahmlegen kann. Das Problem ist allerdings nicht der Vulkan, ist nicht die Asche. Das Problem ist, dass es keine fest etablierten Grenzwerte gibt. Strikte Reaktionen deshalb: umfassende Flugverbote! Hätte man nicht früher modifizierte Entscheidungen treffen können?

Was machen die Behörden im nächsten Herbst, wenn die Zugvögel gen Süden ziehen? Meine Studierenden haben es mit „Pi mal Daumen“ nach einigen Minuten berechnet und schauen mich fragend an: Was bedeuten 170 Gramm Asche in einem Kubikkilometer? Zum Vergleich ziehen wir einen großen See heran, in den ein kleines Kind gepinkelt hat. Bade- oder Trinkwasserverbot?

Und wie hast Du es schließlich geschafft von Spanien zurück nach Kanada? Von Hamburg in den Schwarzwald fährt ja die Bahn, aber wie kommt man ohne Flugzeug von Madrid nach Montreal? Ich hoffe Dich dennoch gut daheim,

Dein Rich

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen, und sein Stiefsohn Julian, 30, Umweltberater aus Montreal