Vor längerer Zeit stand auf der Moorweide in Hamburg eine wunderschöne, wuchtige Granitskulptur. Ein bildhauerisches Meisterwerk. Der Künstler war nicht genannt. Eines Tages war sie verschwunden, und nun habe ich sie wiederentdeckt – auf einer Grasfläche an der Kennedybrücke. Da fristet sie ein recht einsames Dasein, sozusagen auf dem Abstellgleis, und ist Anlaufstelle für notdürftige Passanten. Ein Sprayer hat sich auch schon auf ihr verewigt. Dieses Kunstwerk hätte wahrlich einen würdigeren Platz verdient. Was für ein Armutszeugnis für die zuständige Hamburger Behörde!
Im Nachlass meiner Großmutter fand ich ein beidseitig beschriftetes Stück Birkenrinde, das mein Großvater von der russischen Front im Herbst 1915 an seine Frau und seine siebenjährige Tochter schickte. Meine Großmutter war zu diesem Zeitpunkt wieder schwanger. Erst 1918 erfuhr sie, dass ihr Mann im März 1916 (also fast zeitgleich mit der Geburt seines Sohnes) in russischer Kriegsgefangenschaft an Flecktyphus gestorben war. Als junge Witwe sorgte sie fortan unter schwierigen Verhältnissen alleine für die beiden Kinder, denn nach dem frühen Tod ihres geliebten Mannes hat sie nie mehr geheiratet.
Dies ist mein Beitrag zu »100 Jahre Erster Weltkrieg«.
Ein Spaziergang im Berliner Tiergarten führte meine Frau und mich auch zum nahen Bundeskanzleramt. Auf einer Raseninsel vor dem Gitterzaun irritierte ein kleiner blauer Fleck im leuchtend frischen Grün. Neugierig ging ich näher und pickte ein zerknittertes »Ginkgo-Blatt« aus dem Gras. Aus blauem Papier, die Rückseite grün. »Na, das ist doch …!«, sagte ich verwundert zu meiner Frau, als ich auf der blauen Seite den Satz las: »Geburtsort ist Zufall«. Wir erinnerten uns an die Eröffnung der Schweizer Botschaft nebenan vor 13 Jahren, bei der die Züricher Künstlerin Pipilotti Rist im Eingang eine »Blattspendemaschine« installiert hatte, die Baum-Blätter aus Papier hervorbrachte. Auch wir hatten damals einige aufgesammelt, die aber im Laufe der Zeit »verweht« wurden. Nun hat uns der Wind offensichtlich – von wo auch immer – nach so vielen Jahren wieder ein Blatt zugespielt.
»Nur 168 Tage!« Diese Postkarte schrieb mein Onkel im Frühjahr aus dem Militärdienst in einer Kaserne im lothringischen Forbach an seine Familie in Erkrath bei Düsseldorf.
Es sollte anders kommen. Nach Ausbruch des Krieges kam er an die Westfront und starb bald darauf – wie es offiziell hieß – den Heldentod. Zuvor war bereits mein Großvater, Schneidermeister und Ernährer der Familie, verstorben. Meine Großmutter verlor kurzzeitig den Verstand und kam in die Heilanstalt Grafenberg. Das war vor ziemlich genau hundert Jahren, als der Rekrut Willi Kloft noch dachte, bald in die Heimat entlassen zu werden.
Im Nachlass meiner geliebten »Tante Hi« fand ich ein Schreiben aus dem Jahr 1931, also ihrer Anfangszeit bei der Oberpostdirektion. Eine Kuriosität: Ehe-Verbot für weibliche Beamte! Tante Hi, die Schwester meines im Krieg gefallenen Vaters, ist übrigens bis zu ihrem Tod im Jahr 1980 unverheiratet geblieben.
In der Ausgabe Nr. 18/14 zeigten wir in dieser Rubrik eine Ansichtskarte, die der Leser Thomas Uerlichs vor 30 Jahren von dem großen Schriftsteller Heinrich Böll erhalten hatte – aus Ibiza. Das Problem: Uerlichs hatte nie genau entziffern können, was ihm Böll da auf einen Fanbrief geantwortet hatte. Wir baten unsere schriftkundigen Leserinnen und Leser um Hilfe und erhielten tatsächlich eine ganze Reihe von einleuchtenden Transkriptionen. Schließlich baten wir Thomas Uerlichs um sein Urteil, denn nur er kannte den Inhalt seines Briefes an Heinrich Böll. Uerlichs fand die folgende Zuschrift unserer Leserin Gisela Meyer-Velde am plausibelsten. DIE REDAKTION
Auch die Schrift meines Mannes (dessen Briefe mein Leben reicher gemacht haben) wurde mit der Zeit immer unleserlicher. So bin ich einigermaßen geübt im Entziffern, aber bei der Postkarte Bölls an Thomas Uerlichs hat ja obendrein noch die spanische Post ganze Arbeit geleistet. Mein Entzifferungsversuch: »Lieber Herr Uerlichs, Freundlichkeiten wie Ihre erfährt ein Autor selten, deshalb ist die Freude groß – auch zur Bestärkung – denn oft verliert einer den Mut und zweifelt an allem – herzlichen Dank Ihr Heinrich Böll«
Unser Haus ist Teil einer denkmalgeschützten Siedlung aus dem Jahr 1926. Hinter dem Haus steht ein alter Hasenstall, den wir ursprünglich den sechziger Jahren zuordneten. Als wir jetzt aber das Dach der Hütte erneuern mussten, kamen unter der Dachpappe viele alte Zeitungen zum Vorschein, und es waren auch Bruchstücke einer Ausgabe von 1928 dabei. Besonders die Kleinanzeigen haben es mir angetan.
Mit 17 Jahren durfte ich erstmals nach London reisen – mit begrenztem Taschen Geld. Doch die Carnabystreet war so verführerisch! Bald hatte ich alles Geld verprasst und sogar mein Rückfahrticket verkauft. Ich wollte ganz schlau sein, ging zur deutschen Botschaft und erzählte, beim Taubenfüttern auf dem Trafal gar Square sei mir mein Ticket gestohlen worden. Geglaubt hat mir der Beamte mit Sicherheit nicht, aber er half mir. Glück gehabt! Dass jemand das Geld für das Ticket von meinen Eltern zurückverlangen würde, so weit dachte ich in meinem jugendlichen Leichtsinn nicht. Und so kam es, wie es kommen musste: Ein halbes Jahr später flatterte die Rechnung ins Haus. Ich bekam zwei Monate (!) Taschengeldentzug und eine Standpauke, die ich heute noch im Ohr habe.
1984, vor 30 Jahren also, schrieb ich einen Brief an Heinrich Böll. Meine Lesebiografie war und ist maßgeblich durch seine Arbeiten und auch durch sein Leben geprägt. Dafür wollte ich ihm einmal danken. Wenige Wochen später erhielt ich diese Postkarte aus Ibiza. Jetzt, beim Abstauben und Stöbern in meiner Bibliothek, fiel mir die verloren geglaubte Karte wieder in die Hand. Auch wenn ich bis heute nicht alles entziffern kann, was Heinrich Böll mir da geschrieben hat: Die Verehrung für ihn als Mensch und Autor ist über die Jahre immer weiter gewachsen.
Beim Sortieren von Papieren habe ich dieses Andenken an unsere verunglückte Romfahrt zu Ostern 1950 wiederentdeckt. Reisepapiere gab es damals noch nicht für besiegte deutsche Teenager. Zu dritt gingen wir über die grüne Grenze bei Kufstein und waren per Anhalter bis zum Brenner gekommen. Leider wurden wir auf der italienischen Seite geschnappt, verbrachten erst einige Tage in der Caserma Cesare Battisti am Brenner und dann im Polizeigefängnis in Innsbruck. Am Samstag vor Ostern wurden wir heimwärts abgeschoben. Im nächsten Jahr gab es schon wieder Reisepässe. Aber das Heilige Jahr, das Papst Pius XII. für 1950 proklamiert hatte, hatten wir verpasst.