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Zeitsprung: Lübeck-Blankensee

1955

1955 flohen wir aus „der Zone“ nach Lübeck und wurden im Flüchtlingslager am Flughafen Lübeck-Blankensee untergebracht. Das Rollfeld war von Bombentrichtern übersät, die mit Sand zugeschüttet worden waren. Und da der Flugbetrieb noch von den Siegermächten untersagt war, hatte ich genug Platz zum Spielen. Unsere Unterkunft war der Glaskasten des Towers, den wir mit einer weiteren Familie teilen mussten. Bettlaken dienten als Raumteiler. Von oben beobachtete meine Mutter mich beim Spielen.

2008

Mittlerweile ist Gras über die Trichter gewachsen, und man kann von Lübeck nach Stockholm, London, Pisa oder Kiew fliegen. Einen neuen Tower gibt es auf der gegenüberliegenden Seite, doch das alte Gebäude steht noch. Nur den Glaskasten hat man entfernt. Ob die Uhr noch unter all dem Efeu hängt, oder in irgendeinem Partykeller?

Frank Herbst, Berlin

 

Zeitsprung: Siena

1989

1989, auf meiner ersten selbstständigen Auslandsreise mit zwei Freunden, benutzte ich in einem Restaurant in Siena nur das Telefon. In der Aufregung, eine Verabredung verpasst zu haben – Handys gab es noch keine, unser potenzieller Gastgeber hatte nicht mal ein eigenes Telefon – ließ ich meinen Kalender mit Adressbuch liegen. Mit einem freundlichen „Arrivederci!“ haben die Leute aus dem Guidoriccio ihn mir nach München nachgeschickt.

2010

Dieses „Auf Wiedersehen!“ erfüllte sich erst 21 Jahre später, als ich mich bei einem neuerlichen Besuch in Siena endlich persönlich für diesen Service bedanken konnte. Das Restaurant hatte noch immer den gleichen Namen, die gleiche Adresse und die gleiche Telefonnummer. Nur die Visitenkarte sah etwas anders aus. Und diesmal haben wir im Guidoriccio auch gegessen: Es war lecker.

Julia Franke, Zürich

 

Zeitsprung: Winter in Osnabrück

1972

Im Winter 1972 nahm mein Vater das obere Foto nach dem Schneeschaufeln vor unserem Haus in Osnabrück-Pye auf, denn solche Schneewinter sind eher selten in Norddeutschland. Über die diesjährigen Weihnachtstage waren wir drei Geschwister wieder bei unseren Eltern zu Besuch.

2010

Wieder lag Schnee, der Schlitten gehört inzwischen unseren eigenen Kindern, wir mussten also nur noch die alte Schaufel aus dem Schuppen unseres Vaters holen. Es ist nicht selbstverständlich, für so lange Zeit ein Elternhaus zu haben, in das man immer wieder zurückkehren kann.

Guido Hafer, Hasbergen, Niedersachsen

 

Zeitsprung: Kindheit an der Oder

1936

Zu meinem 80. Geburtstag schenkten mir meine Enkel Hanna, Jonas und David eine gemeinsame Reise an die Stätten meiner frühen Kindheit im heutigen Polen: Es ging nach Komorów (Mückenberg bei Guben) und dann weiter nach Krosno Odrzańskie (Crossen an der Oder), wo ich 1936 eingeschult worden war. Obwohl die tausendjährige Altstadt im Krieg stark zerstört worden war, fanden wir die Schule unversehrt, wir folgten meinem mehr als halbstündigen ehemaligen Schulweg auf die andere Oderseite und die noch vorhandene „Himmelsleiter“ hinauf in die Oberstadt, wo wir anhand eines alten Fotos sogar mein früheres Wohnhaus in der ehemaligen Kasernenstadt identifizieren konnten.

2010

Das war ein bewegendes Erlebnis für alle Beteiligten. Mit Befriedigung sahen wir, dass die einstigen Kasernengebäude grundlegend saniert und in zivile Wohnblocks umgewandelt wurden. Aus dem Kasernenhof war ein Park mit Teich, Hügel und Sitzecken geworden. Welch erfreuliche Konversion dieses einst unseligen Areals, auf dem mein Vater 1935/36 vorübergehend als Infanterie-Ausbilder gearbeitet hatte, nicht ahnend, dass der damit half, den Weltkrieg vorzubereiten!

Günter Warnecke, Berlin

 

Zeitsprung: Kurzwellenzentrum

2005

Seit ich denken kann, standen vor den Toren meiner Heimatstadt diese mehr als 100 Meter hohen Stahltürme. Von der Merscher Höhe in Jülich sendete das „Kurzwellenzentrum“ über 50 Jahre lang das Programm der Deutschen Welle und später auch anderer Anbieter in die Welt. Wenn wir als Kinder auf der Merscher Höhe spielten, bewachten uns die Sendetürme stumm, sie sahen zu uns herab und wir zu ihnen hinauf. Man sah sie bei Tag und Nacht, denn dann leuchteten ihre zahlreichen roten Flugwarnlampen weit übers Land. Auch später, als ich längst woanders wohnte, empfing mich die Deutsche Welle schon aus der Ferne, wenn ich meine Eltern besuchte. 1996 stellte die Deutsche Welle dann die Nutzung der Sendeanlagen in Jülich ein.

2010

Jetzt hat man die Türme endgültig „zurückgebaut“, sie sind überflüssig geworden, nur zwei hat man zur Erinnerung stehen lassen, einen davon sieht man auf der neuen Fotografie ganz links. Geblieben ist eine wunderbare, aber ungewohnt „leere“ Landschaft vor einem weiten Himmel, und unter diesem Himmel: zwei Relikte einer vergangenen Epoche.

Evelyn Meessen, Köln

 

Zeitsprung: Kater in der Leseecke

Diese Sequenz aus 16 Bildern zeigt einen Zeitsprung von weniger als einer Minute: Unser Kater Pete Felici hält im Bücherregal zunächst entspannt und interessiert Ausschau und zieht sich dann in seine Leseecke zurück…

Marcus Unger

 

Zeitsprung: Villa Dr. Estrich

1932

Als kleine Kinder sprangen wir fröhlich im Garten unseres Hauses in Jüterbog bei Berlin herum, nicht ahnend, dass es einmal als „Opus 1“ des berühmten Architekten Konrad Wachsmann in die Architekturgeschichte eingehen würde. Es war eine unbeschwerte Kindheit, und unser Respekt vor der Höhe der Stützmauer oder dem filigranen Geländer hielt sich in Grenzen. Für uns war die „Villa Dr. Estrich“ unser Raum zum Toben und Träumen, und das Haus war so frisch und unverbraucht wie wir. Doch die Zeit sollte uns einholen, wir Kinder gingen in die Welt hinaus, die Immobilie musste naturgemäß bleiben, wo sie war, und erlebte wechselvolle Zeiten.

2008

Nach über 80 Jahren trafen meine Cousine Eva-Maria und ich wieder in dem Garten zusammen. (Mein Bruder Wulf, der uns auf dem alten Foto voranschreitet, lebt seit 1988 leider nicht mehr.) Und beruhigt stellten wir fest, dass der Zahn der Zeit nicht nur an uns genagt hatte: Auch das Haus zeigte Risse im Gesicht. Ehrfürchtig standen wir vor dieser morbiden Architektur-Ikone der klassischen Moderne: modern im Herzen, klassisch im Blick.

Jürgen Estrich, Triesenberg, Liechtenstein

 

Zeitsprung: Klassenreise

Das obere Bild entstand 1959 bei unserem 14-tägigen Englandaufenthalt am Trafalgar Square in London. Bei einem Klassentreffen 51 Jahre später haben wir versucht, die Szene nachzustellen, was uns leider nicht ganz detailgetreu gelungen ist. Eventuell waren die Regieanweisungen der Fotografin – ja, es waren damals auch einige Mädchen dabei auf der Klassenreise – nicht präzise genug. Nein, nein, das wäre wohl nicht recht und billig, es ihr in die Schuhe zu schieben. Vermutlich lag es eher daran, dass der Abend bereits etwas fortgeschritten war… Schön, dass wir alle noch da sind und zusammen lachen können.

Dieter Paul, Solingen

 

ZEITsprung: Vier Jahre Leben

2006

Das linke Foto zeigt die erste Ausgabe der ZEIT, die ich als Abonnentin las. Das war im Februar 2006 – ich hatte mich gerade dazu entschlossen, nach meinem Bachelorstudium der Kulturwissenschaften gegen den Uni-Reform-Strom zu schwimmen und zusätzlich ein Magisterstudium der Soziologie anzuhängen. Mein damaliger Verlobter schenkte mir das ZEIT-Abo, damit ich nicht mehr so viele Stunden in der Uni-Bibliothek mit Zeitunglesen verbringen musste.

2010
2010

Ich begann damit, jede der Ausgaben aufzuheben. Als der Stapel immer höher wuchs und Besucher bei uns nach dessen Sinn fragten, antwortete ich, dass er so lange mitwachse, bis ich mein Studium beendet haben würde. Vier Jahre, eine Hochzeit und zwei Kinder später ist es nun endlich so weit: Das Studium ist abgeschlossen, und damit kann ich den ganzen Stapel getrost zum Altpapier bringen. Auch wenn der Zeitsprung nur wenige Jahre veranschaulicht, ist es doch erstaunlich, wie sehr sich die Welt in so kurzer Zeit verändern kann.

Verena Feller, Oberkotzau, Oberfranken

 

Zeitsprung: Bad Sachsa

1959

2010

Im Winter 1959 wurde ich „zum Aufpäppeln“ in ein Kinderheim nach Bad Sachsa geschickt. Für ein paar Wochen war ich von Eltern und Geschwistern getrennt, und ich erinnere mich nur noch an das harte Regiment des Personals. Geblieben ist mir auch ein kleines Foto, das mich inmitten einer Gruppe von Kindern zeigt.

Gut 50 Jahre später habe ich den Ort wiedergefunden: Die Brücke führt über den Einlauf zum Schmelzteich in Bad Sachsa, sie ist inzwischen erneuert worden. Jetzt stehe ich allein auf der Brücke, die Birken nehmen die Sicht, der Ahornbusch auf der Kurparkwiese verdeckt die nahezu unveränderten Häuser am linken Bildrand. Nicht einmal meine Frau steht neben mir – die musste das Foto machen. Nur das Wasser fließt wie eh und je mit leisem Gluckern in den Teich und auf Bad Sachsa zu.

Heinrich Bellmann, Mölln