Im Oktober 1990 war ich einige Tage in einer einsamen Gegend in den Berner Alpen und habe unter anderem das obere Foto von den Lobhörnern geschossen. In der Mitte kann man mein dunkelgrünes Zelt erkennen. Diesen Herbst, also zwanzig Jahre später, war ich neugierig darauf, zu sehen, ob sich etwas geändert hat. Ich war also auf die Woche genau wieder dort und habe einige Motive von vor zwanzig Jahren von denselben Positionen aus noch mal fotografiert.
Bis auf Wetter und Schattenwurf der Sonne sieht man auf den ersten Blick keine Unterschiede. Selbst bei kleinen Steinen im Vordergrund konnte ich keine Veränderung erkennen. Ein Unterschied ist allerdings deutlich vorne links zu sehen: Das Gras ist dieses Jahr höher gewachsen.
Kürzlich hatten wir unseren 40. Hochzeitstag. Bei den Vorbereitungen für unsere kleine Familienfeier mit italienischen Freunden kam mir die Idee, mein Hochzeitskleid wieder anzuziehen. Es ruhte seit vierzig Jahren im Keller, und dementsprechend muffig roch es. Aber es passte noch! Ich hatte damals – als Achtundsechzigerin! – aus Traditionsverweigerung nicht Weiß getragen, obwohl wir auch in der Kirche geheiratet hatten, sondern dieses kurze, bunte Kleid mit Kapuze.
Wir hatten es damals in London, in der Carneby Street, für fünf Pfund gekauft. Mein Mann hatte sich für ein kariertes Sakko mit Weste entschieden. Und auch die Weste hatte überlebt und passte tatsächlich auch noch. Meine Schwiegermutter übrigens hatte damals, bei unserer Hochzeit, unseren Anblick kaum ertragen. Sie hatte demonstrativ weggeblickt.
Hier zwei Fotos, die mich auf der Terrasse meiner Eltern im Berliner Norden zeigen. Das obere stammt aus dem Frühjahr 1988: Wir hatten im Winter diese vier kleinen Igelkinder aufgenommen, weil sie ohne Hilfe den Winter im Freien kaum überlebt hätten. Ich war mächtig stolz auf diese kleinen stachligen Gäste! Und nun, viele Jahre später, wohnen wir in der Nähe meines Elternhauses. Erneut haben wir Gäste für den Winter aufgenommen.
Das untere Foto, das mich mit meinem eineinhalbjährigen Sohn Tim zeigt, haben wir an demselben Tisch auf der Terrasse meiner Eltern aufgenommen. Diese Igelkinder fanden wir peu à peu vor unserem Haus. Sie werden bis zum nächsten Frühjahr bei uns bleiben. Es lohnt sich bestimmt für manchen ZEIT-Leser in diesen Wochen, einen Blick in den Garten zu werfen. Nur bei einem Gewicht von mindestens 500 bis 600 Gramm haben Igel gute Chancen, allein durch den Winter zu kommen. Und sollte ein Igel bei Tage unterwegs sein, ist er vermutlich krank. Man sollte ihn gesund pflegen und ihn mit Katzenfutter ernähren. Bitte auf keinen Fall mit Milch! Die vertragen Igel nämlich überhaupt nicht!
Die Fotos wurden von dem Balkon der Berliner Wohnung aus gemacht, in der ich groß geworden bin. Einige frühe Erinnerungen habe ich an Steinwürfe von West nach Ost, meine Mutter saß mitten in der Nacht an meinem Bett, und eigentlich beunruhigte mich das mehr als die Tatsache, dass dort jemand über etwas für mich Unerklärliches wütend war.
Später hätte ich mir sehr gerne mal angesehen, wie die Gardinen in meinem Kinderzimmer vom Westen her wirkten. Dafür hatten wir die Möglichkeit, unseren Besuchern den anderen Teil Berlins zu zeigen – so, wie es der Regierende Bürgermeister mit seinen Gästen umgekehrt auch tat. Einmal klingelte die Polizei an unserer Tür und wollte wissen, ob ich einen roten Pullover besäße – jemand in Rot hätte nach drüben gewinkt.
Schon deshalb hätte ich es vor 1990 nie gewagt, vom Balkon aus zu fotografieren. Mitte November 1989, mit knapp 23 Jahren, konnte ich zum ersten Mal das Fenster meines Kinderzimmers von der Straße aus ansehen. Da waren die Gardinen aber schon längst andere. Rot mochte ich vor 1990 übrigens gar nicht.
Seit über drei Jahren sammle ich Fotos, die „Fehlstaben“ zeigen: Buchstaben, die verschwunden sind, aber doch dableiben, die in einem Wort fehlen, aber trotzdem lesbar sind. Oft ist das, was sie bezeichnen, längst fort. Oder immer noch da. So gibt es auch die Reihe „Duplex“, aus der dieses Bild stammt. Duplex-Fotos dokumentieren zwei aufeinanderfolgende Nutzungsphasen von Ladenlokalen. Die erste, ältere Beschriftung ist noch lesbar oder zumindest nachvollziehbar: Aus dieser kölschen Frühstücks-Kaffeebud’ wurde ein Kebap-Imbiss. Fehlstaben duplizieren die Botschaft.
Warum soll ein Zeitsprung nicht auch in die Zukunft weisen? So wie auf dem unteren Bild könnte es immer aussehen vor der Gethsemanekirche in Berlin, Prenzlauer Berg! (Entstanden ist es bei einem Straßenfest im vergangenen Mai.) Die Gethsemanekirche bildet mit der umgebenden Bebauung nicht nur einen herausragend schönen Stadtraum, sie erlangte im Herbst 1989 auch noch historische Bedeutung.
Doch dieser außergewöhnliche Ort ist zu einem Parkplatz degradiert worden, wie das obere Foto zeigt. Wann werden die Menschen endlich merken, dass man Straßen viel besser nutzen kann als zum Parken? Warum sollte es uns nicht dauerhaft gelingen, diesen Platz zu dem zu machen, was seiner Würde und Historie wirklich angemessen ist: zu einer Stadtoase für die Menschen? Zu einem Ort, wo man auf der Straße spielen, hüpfen, malen, musizieren, rollern, tanzen kann – oder nur dasitzen und dem bunten Treiben zuschauen?
Ich habe es noch in den Ohren, das „Muh“ der Kühe, die durch mein Heimatdorf im Westerwald schlurften, sei es als Zugtier vor dem Pflug oder den Erntewagen oder als Milchlieferant, wenn sie von der Gemeindeweide kamen. Die Kühe als Zugtiere bestimmten die Zeit, nach ihrem Tempo musste sich die Ernte richten, und wenn ein Gewitter aufzog, ging ein Blick zum Himmel: Würden wir es noch rechtzeitig in die Scheune schaffen? Hühner scharrten auf dem Mist, und im ganzen Dorf hörte man die Hähne krähen.
Aber nach dem Krieg, als das Leben sich wieder normalisierte, war bald klar, dass die Landwirtschaft keine Familie im Westerwald mehr ernähren konnte: Die Felder waren klein, das Klima war rauh. Es wurde immer weniger mit Ackerbau und Viehzucht. Heute versperrt kein Erntewagen mehr den Ausblick auf die Landschaft, und man hört nur noch das „Wusch, Wusch“ der Windräder, die die Windenergie in Strom umwandeln. Aus der großen Gemeindeweide ist ein Golfplatz geworden.
Das Foto oben schoss mein Vater, als er sich vor zwanzig Jahren beruflich in Peking aufhielt. Es zeigt den Tiananmen-Platz, im Hintergrund die Gedenkstele der Volkshelden und das Mao-Mausoleum, die beide auf der Nord-Süd-Achse errichtet wurden und somit jenen Blick versperren, der sich dem chinesischen Kaiser geboten hatte, wenn er von seinem Thron sinnbildlich nach Süden in sein Reich hineinschaute. Das Foto unten entstand im vergangenen Sommer während einer Kulturfreizeit, an der wir teilnahmen, um das neue China kennenzulernen.
Nicht, dass im neuen Bild das Riesenporträt Sun Yat-sens fehlt, des Gründers der ersten Republik, ist der auffälligste Unterschied – es wird auch heute noch zu den Maifeiern aufgestellt. Aber im Vordergrund sind jeweils Besucher zu sehen: 1990 die zu Feierlichkeiten versammelten Vertreter der Arbeiterklasse, 2010 einheimische Touristen aus der neuen Mittelschicht. Die blau-grünen Ameisen von einst sind modisch und selbstbewusst geworden.
Das erste Bild zeigt mich als kleinen Jungen bei einem Sonntagsspaziergang im Jahre 1955 vor dem bekannten spätsezessionistischen Jugendstiltheater auf dem Schillerplatz von Cottbus. Im vergangenen Sommer habe ich meine Heimatstadt nach langen Jahren wieder besucht, und dabei entstand das zweite Bild an gleicher Stelle.
Bis auf die Bepflanzung und die wasserspeienden Tierfiguren hat sich der Platz nur wenig verändert. Doch die Atmosphäre ist grundverschieden: Früher flanierte man dort in Sonntagskleidung, heute wird – was auf dem Foto leider nicht zu sehen ist – auf der Wiese in legerem Look gegrillt.
1980 war ich 15 Jahre alt und stand während eines Kurzurlaubes im Harz mit der Familie an einem Aussichtspunkt, der einen Blick in das fremde Land DDR ermöglichte. Der Grenzort Ellrich lag sichtbar, aber unerreichbar in der Sperrzone, der Eiserne Vorhang ließ nur Güterzüge durch. Der Weg in der Bildmitte führt in den sogenannten Todesstreifen. Wie viele andere dachten auch wir: „Ob man dort wohl jemals wird hinkommen können?“ 2010: Die Bäume sind gewachsen. Sonst könnte man sehen, dass die Postenbrücke und der Grenzzaun längst auf dem Schrottplatz der Geschichte gelandet sind und dass auf der freien Fläche zur Linken ein Wohngebiet entstanden ist. In einem dieser Häuser wohne ich seit 1997.