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Die Kritzelei der Woche

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Entstanden ist diese Kritzelei bei einem internationalen Workshop in Berlin zum Thema EU-Recht, -Wirtschaft und -Politikwissenschaften. Nicht dass ich mich gelangweilt hätte, aber diese Themen sind so gradlinig, dass ich Angst hatte, meine Gehirnzellen würden sich in parallelen Reihen anordnen. Und um dies zu vermeiden, habe ich dann kreuz und quer gekritzelt, allerlei kleine Bildchen und Symbole, die mir eingefallen sind. Während einer Pause hat eine Mitstudentin aus dem Kosovo – ich selbst bin ein luxemburgischer Däne – das Blatt geklaut und einige ihrer eigenen Kritzeleien zugefügt. Deshalb sind einige Details am Rande des Werks viel künstlerischer als der Rest.

Bjørn Clasen, Rollengergronn, Luxemburg

 

Was mein Leben reicher macht

Am Donnerstag bekommt mein Mann, 52, Hörgeräte. Am Freitag früh steht er neben seinem Wagen in unserer Einfahrt und sagt: »Ich höre die Vögel zwitschern!« Zum ersten Mal wieder seit 20 Jahren.

Hanna Wimmer-Goeritz, Leonding, Österreich

 

Was mein Leben reicher macht

Der erste richtige Frühlingstag! Euphorisch bugsiere ich meine Gartenmöbel vom Speicher auf den Balkon. Zurücklehnen mit einem Kaffee und Vivaldis Frühling lauschen. Das leben ist schön!

Dorothea Krause, Mainhardt, Baden-Württemberg

 

Ein Gedicht!

Sozusagen grundlos sauer
(nach Mascha Kaléko, »Sozusagen grundlos vergnügt«)

Mich ärgert, dass der Himmel blau ist
Die Sonne scheint, die luft so lau ist.
Mich ärgert auch die weiße Jahreszeit,
Wenn Eiskristalle blühen und es von oben schneit.
Dass Wölfe heulen und die Bären brummen,
Dass Gänse schnattern und die Krähen krähen.
Dass Flocken aus dem Schwarzen fallen.
Dass Vögel stumm sind. Und dass Fische singen.

Mich ärgert, dass kein Stern vom Himmel fällt
Und dass die Sonne uns den pelz verbrennt.
Dass Herbst dem Sommer folgt und lenz dem Winter
Gefällt mir nicht. Da steckt kein Sinn dahinter,
So wenig wie in diesem komischen Gedicht.
Wenn auch die ach so Schlauen einen sehn
Man kann nicht alles ungeköpft verstehn!
Ich ärgre mich. Und das ist meines lebens Sinn.
Ich ärgre mich vor allem, dass ich bin.

In mir ist alles durcheinander und ganz düster:
Hab keine Kohle, keinen Kerl und kaum noch Kraft.
An solchem Tag, da fällt man von der leiter
Die Stufen bis zur Hölle und noch weiter.
Da kann kein Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
weil er sich selber hasst – den Nächsten lieben.
Mich ärgert, dass gedankenlos ich nach dem Schönen greife
Und blind bin für die Wunder dieser Welt.
Dass alles immer gleich bleibt, so beim Alten!
Mich ärgert so, dass ich … Dass ich mich ärgere.

Corinna Reinke, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Meine Frau muss seit zwei Jahren in einem Pflegeheim leben. Kürzlich, beim Abschied von ihr ein längeres, freundschaftliches Gespräch mit ihrem Arzt. »Du musst dich jetzt nicht kasteien«, sagt er. »Du hast auch ein Anrecht auf ein eigenes Leben!«

Jürgen Hagenmeyer, Hamburg

 

Straßenbild: Jederzeit

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Auf dem Nachhauseweg von Norderney kamen wir kürzlich im Ostfriesischen an diesem Schild vorbei – und an mindestens einem Dutzend engagierter Boßlergruppen. Auch strömender Regen und eine Temperatur von zwei Grad Celsius konnte sie nicht davon abhalten, ihrem Sport nachzugehen – den nur Böswillige als »Bauerngolf« bezeichnen.

Sabine Dippner, Vögelsen, Niedersachsen

 

Was mein Leben reicher macht

Ich parke in einer Straße im Stuttgarter Westen. Am Straßenrand stehen zwei Männer. Der eine gehört zu der Kfz-Werkstatt, die sich im Hinterhof befindet, wie seine Arbeitskleidung mit dem Logo verrät. Der andere ist wohl ein Kunde. Der aus der Werkstatt rezitiert einen Text. Die Sprache klingt nicht wie Latein, aber auch nicht wie heutiges italienisch. Ich sage: »Das hört sich an wie Dante.« Er antwortet mit strahlendem lächeln: »Das ist Dante, Signora!«

Regine Bonfert, Horb

 

Was mein Leben reicher macht

Heute passiert: in einem Kaffeehaus trinke ich einen Cappuccino und lese die ZEIT. Da tritt ein Herr vom Tisch gegenüber heran. Er hat die deutsche Zeitung gesehen und bittet mich, ihm ein Gedicht von rainer Maria Rilke vorzulesen. Er könne Deutsch zwar lesen und verstehen, vermisse jedoch den Tonfall des gesprochenen Wortes. So lese ich ihm aus dem Bändchen, das er dabei hat, eines von rilkes Apollo-Gedichten vor. Der Herr ist erkennbar gerührt, sitzt schweigend da und bittet mich schließlich, den Text noch einmal vorzutragen. Beim Abschied hinterlasse ich einen glücklichen Menschen.

Christoph Käufer, Philadelphia, USA

 

Pallawatsch: Mein Wort-Schatz

Ein Wort, das ich früher ab und zu von meiner sudetendeutschen Mutter hörte und inzwischen tot geglaubt hatte, ist der Pallawatsch. Meine Mutter benutzte diesen Ausdruck etwa, wenn sie durch Unachtsamkeit Durcheinander angerichtet hatte. Nun habe ich gegoogelt, und siehe da, in Österreich und zwar vor allem in den östlichen Bundesländern benutzt man ihn noch heute. Der Pallawatsch ist eine Verballhornung des italienischen balordaggine, wörtlich übersetzt »Tölpelei«. Das Wort erinnert an die Zeit, als Österreich noch bis an die Adria reichte.

Ingrid Schmid, Dornstadt, Baden-Württemberg

 

Was mein Leben reicher macht

Schweine, Hühner und Hasen sind gefüttert. Ich ziehe die Stallklamotten wieder aus und hole meine Jüngste aus ihrem Kinderbett. Wir kuscheln uns gemeinsam noch einmal ein, neben dem wärmenden Ofen.

Anja Meyer, Rosche, Niedersachsen