Man war anfangs gewillt, Frau Merkel die ehrliche Betroffenheit über die Katastrophe in Japan abzunehmen und das sofortige dreimonatige Abschalten der deutschen Atomkraftwerke eben nicht als Wahlkampfmaßnahme zu verstehen. Mittlerweile jedoch ist die deutsche Debatte um den „Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg“ in vollem Gange und alle Parteien versuchen, sich innenpolitisch zu positionieren. Dabei dominiert ein aggressiver Umgangston, den Regierung und Opposition gleichermaßen schüren, und die Bürger zweifeln zunehmend, ob es hier wirklich um die Sache geht oder eben doch um die anstehenden Wahlen.
Dies wirft natürlich die Frage auf: Kann man Politikern im Wahlkampf eigentlich glauben? Halten sie Ihre Versprechen? Die Sozialwissenschaften haben hierauf eine recht klare empirische Antwort, die verblüfft und unserem momentanen Empfinden entgegen steht. In einer international und historisch vergleichenden Studie haben drei renommierte Sozialwissenschaftler, Hans-Dieter Klingemann, Richard Hofferbert und Ian Budge, Wahlprogramme aus 10 Ländern (Australien, Österreich, Belgien, USA, Deutschland, Schweden, Kanada, Großbritannien, Niederlande und Frankreich) über vierzig Jahre inhaltsanalytisch untersucht und mit den tatsächlichen politischen Maßnahmen der dann gewählten Regierungen verglichen. Ihr Indikator waren die Staatsausgaben, es wurde also betrachtet, welchem Politikfeld wie viel finanzielle Unterstützung zugekommen ist. Daraus ergab sich eine Rangliste von sehr wichtigen bis eher unwichtigeren Politikfeldern. Diese Rangliste wurde dann mit den jeweiligen Prioritäten in den Wahlprogrammen verglichen. Eine hohe Übereinstimmung würde somit besagen, dass Parteien sich sehr an ihre Wahlversprechen halten, eine geringe Kongruenz eben das Gegenteil.
Unter den momentanen Eindrücken würden wir alle intuitiv von einer recht geringen Kongruenz ausgehen. Politiker richten ihre Fahne nach dem Wahlkampfwind und der hat sich eben in den letzten Tagen mächtig gedreht. Aber die Ergebnisse der Kollegen sind deutlich: Zusammenfassend lässt sich eine recht hohe Kongruenz ermitteln zwischen dem, was Parteien versprechen, und dem, was sie dann – wenn in die Regierung gewählt – auch tun.
Einen mächtigen Haken gibt es jedoch an der Sache: Die Studie untersucht die Jahre 1949-1990! Ob das heute immer noch so ist, sollte eine längst überfällige Nachfolgestudie untersuchen. Gleichwohl sollten wir die Ergebnisse ernst nehmen, da sie wichtige Hinweise auf die Logik politischen Handelns geben: So sehr Politiker vor den Wahlen auf Stimmungen in der Bevölkerung reagieren, so konsequent sind sie dann jedoch auch darin, diese Forderungen umzusetzen. Alles in allem also kein schlechter Befund für die Demokratie. Er gibt Grund zu der Hoffnung, dass die Willensbekundungen der Bevölkerung nicht ganz so wirkungslos sind, wie sie gerne dargestellt werden.
Literatur: Klingemann, Hans-Dieter/Hofferberg, Richard/Budge, Ian (1994): Parties, Policies, and Democracy. Westview Press, Boulder, Colorado.