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Der Sympathiemalus der FDP

Marc Debus und Jochen Müller

Die Aussage des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofers nach der Unterzeichnung des Koalitionsabkommens zwischen SPD und Union am 27. November, dass er „diese große Koalition von Beginn an“ wollte, deutet auch darauf hin, dass Seehofer dem Bündnis mit der FDP nicht wirklich hinterher trauert. Generell hat der Ausgang der Bundestagswahl 2013 gezeigt, dass die Liberalen – im Gegensatz zu früheren Bundestagswahlen und auch Landtagswahlen – nicht im gewohnten Ausmaß auf Anhänger der Union zählen konnten, die ihre Zweitstimme aufgrund des Wunsches auf Fortführung der christlich-liberalen Koalition der FDP gegeben haben. Dies mag – wie auch das schlechte Abschneiden der FDP 2013 insgesamt – auch damit zusammenhängen, dass die Liberalen und ihre Repräsentanten im Laufe der Legislaturperiode von 2009 bis 2013 von den Wählern insgesamt als nicht besonders sympathisch angesehen wurden.

Betrachtet man die Sympathiewerte, die die Anhänger der Union anderen Parteien und damit auch dem 2009 explizit gewünschten Koalitionspartner FDP im Zeitverlauf zugewiesen haben, dann wird eine Ursache für den Auszug der Liberalen aus dem Bundestag deutlich. Auf der Basis der seit 1977 erhobenen Daten des Politbarometer (ZA-Nr. 2391) lassen sich die seitens der Wähler den Parteien zugewiesenen Sympathien nachzeichnen. Abbildung 1 weist die Parteisympathien von Befragten mit CDU-Parteiidentifikation von 1977 bis 2011 aus. Nicht überraschend sind CDU und CSU von Befragten mit einer subjektiv empfundenen Nähe zur Union die als am sympathischsten eingestuften Parteien. Die FDP gewinnt nach der Bonner Wende 1982 deutlich an Sympathie unter den Unionsanhängern hinzu und ist im Laufe der großen Koalition von 2005 bis 2009 den CDU/CSU-Anhängern beinahe genauso sympathisch wie die CSU. Dieses Bild wendet sich dramatisch nach der Bildung der schwarz-gelben Bundesregierung 2009: Die FDP wird von den Anhängern des eigenen Koalitionspartners im Jahr 2010 und 2011 weniger sympathisch als die Oppositionsparteien SPD und Grüne eingeschätzt. Unter der Annahme, dass die Sympathie gegenüber Parteien nicht nur das Wahlverhalten beeinflusst, sondern auch ein Indikator für die Zustimmung der jeweiligen Parteianhänger zu möglichen Koalitionen ist, so wundert auf Basis dieser Ergebnisse weder die Bildung der großen Koalition im Bund noch von Schwarz-Grün in Hessen.

Abbildung 1: Partysympathien von Befragten in Westdeutschland mit CDU/CSU-Parteiidentifikation, 1977-2011
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Wie dramatisch die Lage der Liberalen ist, macht auch ein Blick auf die Entwicklung der Parteiensympathien der Befragten mit FDP-Parteiidentifikation deutlich. Bis einschließlich 2009 ist die FDP – wenn auch mit einigen Schwankungen – aus Sicht der eigenen Anhänger die klar sympathischste Partei. 2010 und damit nach der Bildung der Regierung mit CDU und CSU geht die Sympathie der FDP-Anhänger gegenüber der eigenen Partei drastisch zurück. 2011 findet sich kein Unterschied mehr in der Parteiensympathie der Anhänger der Liberalen zwischen CDU und FDP. Dies zeigt, mit welchen Problemen die FDP während der letzten Legislaturperiode zu kämpfen hatte: Die Liberalen wurden nicht nur von den Anhängern der anderen Parteien und dabei selbst von denjenigen des Koalitionspartners als immer unsympathischer eingeschätzt, sondern auch von der eigenen Kernwählerschaft. Wenn die FDP wieder auf die bundespolitische Bühne zurückkehren will, dann muss sie nicht nur programmatisch neue Ansätze entwickeln, sondern sich vor allem auch so verhalten, dass sie seitens der potentiellen Wählerschaft wieder als sympathische Partei wahrgenommen wird.

Abbildung 2: Partysympathien von Befragten in Westdeutschland mit FDP-Parteiidentifikation, 1977-2011
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Referenzen:

Müller, Jochen und Marc Debus. 2014. Koalitionsoptionen und Lagerdenken aus Wählerperspektive. Eine Analyse anhand der Parteiensympathien der Bundesbürger von 1977 bis 2011. In: Sigrid Roßteutscher, Thorsten Faas und Ulrich Rosar (Hrsg.): Bürger und Wähler im Wandel der Zeit: 25 Jahre Wahl- und Einstellungsforschung in Deutschland. Wiesbaden : Springer VS (im Erscheinen).

 

Regierungsbildung in Hessen: Warum Schwarz-Rot und Schwarz-Grün in Hessen plötzlich realistische Optionen sind

Der hessische Landtag gilt als eines der Landesparlamente in Deutschland, in dem die Parteien und ihrer Vertreter sich am härtesten bekämpfen und in denen daher Kompromisse, die über die Lagergrenzen hinaus gehen, eher eine Seltenheit darstellen. Eine Ursache dafür lag unter anderem in dem explizit konservativen Kurs, den die CDU seit Beginn der 1970er Jahre in diesem Bundesland gefahren ist und der durch Persönlichkeiten wie Alfred Dregger, Manfred Kanther und Roland Koch nach außen repräsentiert wurde. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass sich Sozialdemokraten als auch Grüne nunmehr gegenüber einer möglichen Koalitionsregierung mit der Union nach der Landtagswahl vom September 2013 durchaus offen zeigen.

Was könnte eine Ursache dafür sein? Neben der Tatsache, dass die Bildung einer großen Koalition aus CDU und SPD oder einer schwarz-grünen Koalition der einzige Weg sind, kurz- oder mittelfristig Neuwahlen zu vermeiden – es sei denn, SPD und Grüne wagen eine Kooperation mit der Linken trotz anderweitiger Aussagen im Wahlkampf –, spricht eine computergestützte quantitative Analyse der Wahlprogramme der hessischen Parteien dafür, dass die Union ihre durchaus konservative Ausrichtung zur Wahl 2013 aufgegeben hat. Unten stehende Abbildung, in der die Positionen der hessischen Parteien auf der Grundlage ihrer Wahlprogramme zu den Landtagswahlen 2009 und 2013 auf den zwei relevanten, den deutschen Parteienwettbewerb strukturierenden Politikdimensionen abgetragen sind, zeigt eine deutliche Verschiebung der Position der CDU. So haben die hessischen Christdemokraten zwar ihre moderat wirtschaftsliberale Haltung im Vergleich zu 2009 beibehalten, nahmen jedoch 2013 eine wesentlich progressivere Position in innen-, rechts- und gesellschaftspolitischen Fragen ein, die denen von SPD, FDP und auch den Grünen in Hessen überraschend nahekommt.

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Zwar ist – auf der Grundlage der hier ermittelten ideologischen Positionen der hessischen Parteien 2013 – zwar noch immer ein programmatischer „Graben“ zwischen der CDU auf der einen und SPD sowie Grünen auf der anderen Seite deutlich erkennbar. Jedoch haben sich die hessischen Christdemokraten bei der Verfassung ihres Wahlprogramms zur diesjährigen Landtagswahl offenbar einige Mühe gegeben, zumindest in gesellschaftspolitischen Fragen die inhaltlichen Distanzen zu Grünen und SPD zu minimieren. Es bleibt abzuwarten, ob sich dies positiv auf die Bildung einer Koalitionsregierung – entweder aus CDU und SPD oder aus Union und Grünen – auswirken wird.

Weiterführende Literatur:

Bräuninger, Thomas und Marc Debus (unter Mitarbeit von Jochen Müller). 2012. Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Debus, Marc und Jochen Müller. 2013. The programmatic development of CDU and CSU since reunification: Incentives and constraints for changing policy positions in the German multi-level system. German Politics 22, 151-171.

 

Koalitionsbildung im Bundestag: Höhere Chancen für Schwarz-Rot als für Schwarz-Grün

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 hat zu keinem Sieg eines der beiden klassischen „Lager“ – Schwarz-Gelb oder Rot-Grün – geführt. Entsprechend kompliziert gestaltet sich momentan die Suche nach einer tragfähigen Koalitionsregierung auf Bundesebene. Neben Einschätzungen und Spekulationen seitens der Beobachter des politischen Prozesses in Berlin kann auch die empirisch-analytische Politikwissenschaft helfen, Licht ins Dunkel zu bringen. Theorien der Koalitionsbildung unterstellen Parteien und ihren Repräsentanten zum einen, dass sie Bündnisse mit programmatisch ähnlich ausgerichteten Akteuren bevorzugen. Dies führt dazu, dass die Koalitionspartner jeweils ein Höchstmaß ihrer eigenen inhaltlichen Positionen in der Regierung umsetzen können. Zudem sollten politische Parteien solche Regierungskoalitionen bevorzugen, die ihnen einen möglichst hohen Anteil an Posten innerhalb einer Regierung versprechen. Umso mehr Ministerien von einer Partei kontrolliert werden, desto eher kann die entsprechende Partei ihre Politikziele implementieren und zudem Posten an Mitglieder der Parteispitze verteilen.

In Deutschland spielen noch weitere Faktoren für die Regierungsbildung auf Bundes- und Landesebene eine entscheidende Rolle. Neben den Koalitionsaussagen der Parteien, durch die manche Bündnisse von vorneherein ausgeschlossen werden – wie etwa die Zusammenarbeit mit der Linken seitens der SPD –, hat die Kräftekonstellation im Bundesrat einen nicht unbedeutenden Einfluss auf das Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses. Wenn eine Bundesregierung eine Mehrheit der Stimmen in der Länderkammer kontrolliert, dann lässt es sich in der Regel leichter regieren, da – trotz Föderalismusreform – noch immer ein Anteil von rund 40% aller Gesetzesinitiativen der Zustimmung einer Mehrheit des Bundesrates bedarf.

Auf der Grundlage eines Datensatzes, der Informationen zu den 97 Regierungsbildungsprozessen in Bund und Ländern seit Januar 1990 umfasst und auf dessen Grundlage es möglich ist, in 78 Fällen (81,3%) das Ergebnis der Regierungsbildung korrekt vorherzusagen, können wir mit Hilfe statistischer Analysetechniken die Wahrscheinlichkeiten ermitteln, die jede theoretisch denkbare Koalition (hierzu zählen etwa auch Einparteien-Minderheitsregierungen) nach der Bundestagswahl 2013 aufweisen (siehe Bräuninger und Debus 2009, 2012; Debus 2011).

Selbst wenn man nicht berücksichtigt, dass die CSU sich skeptisch bis ablehnend gegenüber einer Koalition aus Union und Grünen zeigt und dass eine Mehrheit der Wähler eine große Koalition statt Schwarz-Grün befürwortet, so ergibt sich bereits eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Bildung einer schwarz-roten Koalition (51,8%) gegenüber einem schwarz-grünen Bündnis, für das eine Wahrscheinlichkeit von 39,1% ermittelt werden kann. Die Chancen für die Bildung einer Minderheitsregierung der Union liegen den Schätzungen zufolge bei 5%, für die Etablierung einer rot-grünen Minderheitsregierung bei 2,9%.

Warum sind die Chancen für eine große Koalition höher als die für Bildung eines schwarz-grünen Bündnisses? Ein Grund liegt – neben der Mehrheitssituation im Bundesrat – schlichtweg darin, dass die programmatische Distanz zwischen Union und Grünen, die auf der Grundlage ihrer Wahlprogramme ermittelt werden kann, auf dem alles entscheidenden Politikfeld Wirtschaft, Arbeit und Finanzen größer ist als zwischen CDU/CSU und SPD. Die beiden großen Parteien sollten sich also leichter auf inhaltliche Kompromisse einigen können und müssten – im Vergleich zu einer Koalition aus Union und Bündnis 90/Die Grünen – weniger stark von ihren eigenen Positionen abrücken, wenn sie eine Koalition eingehen. Auch wenn es lange und zähe Verhandlungen zwischen den Parteien in Berlin geben wird, vieles spricht aus diesem Blickwinkel für eine Neuauflage einer Koalition aus CDU, CSU und Sozialdemokraten und einer Bundeskanzlerin Merkel.

Literatur:

Bräuninger, Thomas und Marc Debus. 2009. “Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Jamaika oder die Ampel? Koalitionsbildungen in Bund und Ländern im Superwahljahr 2009.” Zeitschrift für Politikberatung 2 (3): 563-567.

Bräuninger, Thomas/Marc Debus. 2012. Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Debus, Marc. 2011. “Parteienwettbewerb, Regierungsbildung und Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2009.” In: Oskar Niedermayer (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: 281-306.

 

Signifikante Verschiebungen? Die programmatischen Positionen der Bundestagsparteien zu den Wahlen 2009 und 2013 im Vergleich

Nachdem nun alle im Bundestag vertretenen Parteien ihre Wahlprogramme zur Bundestagswahl am 22. September 2013 veröffentlicht haben, bietet es sich an, einen Vergleich zwischen den in den aktuellen Wahlprogrammen eingenommenen programmatischen Positionen der Parteien mit denjenigen zur Bundestagswahl 2009 vorzunehmen. So kann der Frage nachgegangen werden, ob sich die inhaltlichen Ausrichtungen der Parteien entscheidend verschoben haben oder nicht und was dies für Konsequenzen für die Regierungsbildung im Herbst haben könnte.

Hierzu nehmen wir eine computergestützte Inhaltsanalyse der Wahlprogramme von Union, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken zu den Bundestagswahlen 2009 und 2013 auf Basis des „wordscores“-Verfahrens vor. Dieses Verfahren basiert auf der relativen Worthäufigkeit in den jeweiligen Dokumenten. Grundlegende Idee dieser Methodik ist es, dass die Sprache und damit die Wortwahl in programmatischen Dokumenten von Parteien nicht zufällig erfolgt, sondern vielmehr dazu dient, den Wählern und den Mitbewerbern schnell erkennbare Zeichen der eigenen programmatischen Verortung zuzusenden. Die mit Hilfe dieses Verfahrens ermittelten Positionen der Wahlprogramme aus dem Jahr 2009 auf einer wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension sowie einer Konfliktlinie, die zwischen progressiven und konservativen Positionen in Fragen der Gesellschaftspolitik unterscheidet, dienen hierbei als Ankerpunkte zur Ermittlung der programmatischen Positionen in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2013.

Die folgende Abbildung zeigt die Ergebnisse. Demnach gibt es durchaus Verschiebungen in den Positionen der Bundestagsparteien zwischen 2009 und 2013. Den markantesten programmatischen Wandel haben die Freien Demokraten durchgemacht. Waren sie in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen 2009 (und auch zu früheren Bundestagswahlen) explizit wirtschaftsliberal ausgerichtet, so hat die FDP zur Wahl 2013 ihre Haltung in diesem Politikfeld deutlich abgemildert und nimmt nun eine ähnliche Position wie die Union ein. CDU und CSU haben hingegen vor allem ihre Position in der Gesellschaftspolitik verschoben und sind auf dieser Politikdimension weiter in die Mitte gerückt. Möglicherweise spiegelt sich hier die Schwächung des konservativen Flügels, der seit dem Beginn der Kanzlerschaft Angela Merkels beobachtet werden kann, innerhalb der Union wider. Während die Sozialdemokraten den Ergebnissen zufolge ihre programmatische Ausrichtung kaum verändert haben, so zeigt sich bei Grünen und Linken insbesondere in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen eine Verschiebung hin zu „linkeren“ Positionen und damit für einen stärker in das Wirtschaftsgeschehen eingreifenden Staat.

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Was implizieren diese programmatischen Verschiebungen für den Regierungsbildungsprozess nach der Bundestagswahl? Wenn Parteien gemäß ihrer inhaltlichen Ausrichtung Koalitionen bilden, was sie auf der Grundlage zahlreicher Studien sowohl in Deutschland als auch in anderen modernen Demokratien tun, dann ergibt sich zum einen ein sehr kohärentes Lager aus Union und FDP. Hingegen hat sich die programmatische Distanz in einem von SPD und Grünen favorisierten rot-grünen Bündnis im Vergleich zu 2009 deutlich vergrößert. Auch sollten sich – aufgrund der nunmehr stärker links angesiedelten Grünen – die Chancen auf eine ohnehin von den beteiligten Akteuren nicht wirklich herbeigesehnte schwarz-grüne Koalition wohl kaum erhöht haben. Wenn es am 22. September weder für Schwarz-Gelb noch für Rot-Grün reichen sollte, dann spricht – auf der Grundlage der hier ermittelten Parteipositionen – vieles für eine Neuauflage der großen Koalition. Alle in den Medien diskutierten Dreierbündnisse wie die Ampelkoalition, ein Jamaika-Bündnis oder eine Zusammenarbeit von SPD, Grünen und Linken, die zudem von mindestens einer der jeweils beteiligten Parteien bereits ausgeschlossen wurden, hätten mit einem deutlich größeren internen programmatischen Konfliktpotential zu kämpfen als Schwarz-Rot.

 

Die programmatische Ausrichtung der Parteien zur Bundestagswahl 2013 – Eine Kurzanalyse der ersten Wahlprogramm(entwürfe)

Marc Debus und Jochen Müller
Der Termin der Bundestagswahl 2013 rückt näher und so beginnen auch die Parteien, ihre programmatischen Standpunkte zu formulieren. Bislang liegen von den momentanen Bundestagsparteien die Wahlprogramme bzw. Entwürfe von Sozialdemokraten, Liberalen, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken vor. Unterscheiden sich die darin enthaltenen programmatischen Positionen von denjenigen, mit denen die Parteien in den Bundestagswahlkampf 2009 gezogen sind? Insbesondere dem Wahlprogramm der SPD zur kommenden Bundestagswahl wurde in den Medien unterstellt, dass die Sozialdemokraten verstärkt „linkere“ Positionen bezogen hätten.

Wir kommen auf der Basis einer vollständig computerisierten Inhaltsanalyse der bisher vorliegenden Wahlprogramme bzw. Programmentwürfe zu einem anderen Ergebnis. Nach unseren Untersuchungen sind es weniger die Sozialdemokraten und auch nicht die Grünen oder die Linke, die in signifikanter Form ihre programmatische Ausrichtung verschoben hat, sondern vielmehr die FDP. Die unten stehende Abbildung, in der die Positionen auf einer wirtschafts- und einer gesellschaftspolitischen „Links-Rechts-Achse“ inklusive eines statistischen Unsicherheitsbereichs abgebildet sind, zeigt, dass der Wahlprogrammentwurf der Freien Demokraten sich in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik sehr stark hin zu einer moderateren, der Position der Union in diesem Politikfeld nahezu inhaltsgleichen Ausrichtung entwickelt hat. Möglicherweise macht sich hier eine Abänderung in der sozioökonomischen Position der FDP bemerkbar, die momentan auch beim Thema Mindestlohn zu beobachten ist. In der Gesellschaftspolitik haben die Liberalen ebenfalls ihre Positionierung verändert und bewegen sich – aufgrund ihrer Aufgabe explizit progressiver Standpunkte – ebenfalls auf die Position des Wahlprogramms von CDU und CSU aus dem Jahr 2009 zu. Zwar ist die FDP nach wie vor gesellschaftspolitisch deutlich libertärer ausgerichtet als die Union 2009, aber dennoch fällt ins Auge, wie sehr sich durch die im Wahlprogrammentwurf der Liberalen die inhaltliche Distanz zwischen den Regierungsparteien verkürzt hat.

Programmatische Positionen der Parteien 2009 und 2013 im Vergleich
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Behält die FDP diese programmatische Ausrichtung in der finalen Version ihres Wahlprogramms bei, dann deutet dies darauf hin, dass die Liberalen es – mit Hinblick auf das Ergebnis der Niedersachsen-Wahl vom Januar 2013 – den Anhängern der Union leichter machen wollen, ihre Zweitstimme der FDP zu geben. Dies würde die Gefahr verringern, dass die Freien Demokraten den Einzug in den Bundestag verpassen und damit eine Neuauflage der schwarz-gelben Koalition nicht möglich wäre. Im Hinblick auf die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2013 impliziert die Positionsverschiebung der FDP insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik aber auch, dass nicht nur die Distanz zum bisherigen Koalitionspartner CDU/CSU verkleinert wurde, sondern auch der Abstand zu SPD und Grünen. Insofern zementiert der Wahlprogrammentwurf der Liberalen nicht unbedingt das Bündnis mit der Union, sondern dürfte auch Politikkompromisse mit SPD und Grünen im entscheidenden Politikfeld Wirtschaft und Soziales leichter machen. Sollte es nach der Bundestagswahl im September 2013 keine klaren Verhältnisse geben, dann verspricht – gegeben die bislang vorliegenden Wahlprogramme und Entwürfe – der Regierungsbildungsprozess durchaus spannend zu werden.

 

Schwarz-rote Signale bereits in den Wahlprogrammen? Die programmatische Positionierung der Parteien im Saarland vor der Landtagswahl am 25. März 2012

Neben Schleswig-Holstein und – seit gestern – Nordrhein-Westfalen stehen in diesem Jahr auch im Saarland vorgezogene Wahlen zum Landesparlament an. Nachdem Christ- und Sozialdemokraten an der Saar bereits im Vorfeld der Wahl sehr deutlich signalisiert haben, eine gemeinsame Regierungskoalition zu bilden, ist die Debatte über die künftige parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierung wenig spannend. Neben der Frage, wie viele der bislang im Saarbrücker Landtag vertretenen Parteien noch den Sprung über die 5%-Hürde schaffen, ist von Interesse, wie die Parteien auf das Ende der ersten „Jamaika“-Koalition aus CDU, FDP und Grünen in einem Bundesland programmatisch reagiert haben. Zeichnet sich die Bildung einer schwarz-roten Koalition in Saarbrücken auch anhand der in den Wahlprogrammen der Landesparteien formulierten inhaltlichen Positionen ab?

Eine Inhaltsanalyse der Wahlprogramme aus den Jahren 2009 und 2012 kann hier erste Erkenntnisse liefern (siehe Bräuninger und Debus 2012 für eine genauere Beschreibung der Daten und des angewandten Verfahrens). Die folgende Abbildung zeigt die programmatischen Positionen der fünf momentan im Saarbrücker Landtag vertretenen Parteien sowie der Piratenpartei, die gute Chancen hat, in den Landtag des kleinsten deutschen Flächenstaates einzuziehen. Berücksichtigt werden dabei eine wirtschafts- und sozialpolitische Dimension, die zwischen staatsinterventionistischen und marktliberalen Positionen unterscheidet, sowie eine innen-, rechts- und gesellschaftspolitische Dimension, die zwischen progressiv-libertären und konservativ-autoritären Standpunkten differenziert. Es fällt auf, dass SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ihre Positionen auf diesen beiden „Makropolitikfeldern“ kaum bis gar nicht verändert haben. Da das Wahlprogramm der Linken 2012 recht kurz ausfällt, ist der Schwankungsbereich der ermittelten Parteiposition recht groß, so dass nicht mit statistischer Sicherheit von einer Positionsverschiebung der Linken gesprochen werden kann. Die Piratenpartei ist gesellschaftspolitisch explizit progressiv-libertär ausgerichtet, in sozioökonomischen Fragen steht sie jedoch Union und FDP nahe.

Diese Positionierung überrascht vor dem Hintergrund der Forderung der Piratenpartei nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, spiegelt aber auch andere, eher wirtschaftsliberale Forderungen wie die nach deutlichen Ausgabenkürzungen zur Schuldentilgung, einer effizienten, auf dem Leistungsprinzip basierenden Verwaltung oder die zustimmende Haltung zur Leiharbeit wider. Zudem dominiert im Gegensatz zu FDP oder CDU weniger das Politikfeld Wirtschaft und Soziales, sondern vielmehr Fragen der Innen- und Gesellschaftspolitik die Programmatik der Piraten. Daher darf die hier ermittelte wirtschaftsliberale Position der Piraten nicht überbewertet werden. Aus inhaltlichen Gründen könnten die Piraten daher – zumindest zu einem gewissen Grad – eine Alternative für frustrierte Anhänger der zerstrittenen Saar-Liberalen sein, denen – wie zu sozialliberalen Zeiten – Reformen des politischen Systems am Herz liegen.

Die CDU als die momentan die Regierung und die Ministerpräsidentin stellende Partei im Saarland hat hingegen eine deutliche Veränderung ihrer Position in gesellschaftspolitischen Fragen vorgenommen: Sie nimmt nun ähnlich moderat progressive Positionen in diesem Politikfeld an und hat sich damit ihrem gewünschten Koalitionspartner SPD klar angenähert. In Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik müssen jedoch in anstehenden Verhandlungen nach der Wahl noch ein paar Unterschiede zwischen beiden Parteien überwunden werden. Ob diese Distanzen zwischen Union und SPD in dem zentralen Politikbereich Wirtschaft und Soziales eine Koalition zwischen Sozialdemokraten und CDU so erschwert, dass ein rot-rotes Bündnis möglich wird? Wohl kaum, wenn man den Bekundungen der Saar-SPD hinsichtlich der Präferenz für eine gemeinsame Regierung mit der Union folgt.

Literaturverweis:

Bräuninger, Thomas und Marc Debus (2012): Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

Die Koalitionsbildung in Berlin nach der Wahl 2011: Vorteil für Rot-Grün

Erst vor wenigen Tagen hat die Spitzenkandidatin der Grünen bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, Renate Künast, die Bildung einer Koalition mit der CDU öffentlich ausgeschlossen. Auch wenn dieses Statement kein offizieller Beschluss ihrer Partei ist, so wirft diese Aussage die Frage auf, welche Parteienkombination das wahrscheinliche Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses in Berlin nach den Wahlen am kommenden Sonntag sein wird. Diese Frage gewinnt insbesondere vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass jüngste Umfragen der amtieren Koalitionsregierung aus SPD und der Linken keine Mehrheit mehr versprechen. Ein zusätzlicher Überraschungseffekt kann sich zudem daraus ergeben, dass die Piratenpartei den Sprung über die 5-Prozent-Hürde schafft, wohingegen die FDP wohl nicht wieder in das Abgeordnetenhaus zurückkehren wird.

So ergibt sich aus der Vorwahlumfrage der Forschungsgruppe Wahlen ein Fünfparteienparlament, in dem die SPD 47, die CDU 31, die Grünen 28, die Linke 16 und die Piraten 8 Sitze erringen würde. Auf der Grundlage dieser Sitzverteilung, der programmatischen Positionen der Parteien, die sich aus ihren Wahlprogrammen ergeben, der bundespolitischen Kontextfaktoren und der Koalitionsaussagen der Parteien lassen sich die Wahrscheinlichkeiten für die theoretisch möglichen Parteienkombinationen im künftigen Berliner Landesparlament bestimmen. Dies geschieht auf der Grundlage eines Datensatzes, der alle Regierungsbildungsprozesse in den deutschen Bundesländern seit 1990 umfasst (siehe Bräuninger und Debus 2011).

In der unten stehenden Abbildung sind die Wahrscheinlichkeiten für ausgewählte der 31 theoretisch möglichen Koalitionsregierungen in einem aus fünf Parteien zusammengesetzten Landtag aufgeführt. Es wird deutlich, dass eine mögliche Koalition aus SPD und Grünen das Bild deutlich dominiert, selbst wenn die Aussage von Renate Künast hinsichtlich eines potenziellen schwarz-grünen Bündnisses nicht berücksichtigt wird. Die Chance, dass sich eine rot-grüne Koalition bildet, liegt bei 44 bzw. 46 Prozent. Die beiden anderen dominierenden Kombinationen sind neben einer Koalition aus Sozial- und Christdemokraten mit 23 bzw. 24 Prozent ein Bündnis aus SPD, der Linken und der Piratenpartei mit ca. 26 Prozent. Die überraschend hohe Wahrscheinlichkeit für ein solches Dreierbündnis ergibt sich dadurch, dass die programmatische Distanz zwischen den drei Parteien vergleichsweise gering ist und eine solche Option nicht von vornherein ausgeschlossen wurde.

Abbildung 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Parteienkombinationen, den nächsten Berliner Senat zu stellen

Für die Bildung einer rot-grünen Koalition spricht neben den errechneten Wahrscheinlichkeiten zudem, dass diese Variante – im Gegensatz zu einer großen Koalition oder einer Fortsetzung der Zusammenarbeit von SPD und der Linken –  den Ergebnissen des ZDF-Politbarometers zufolge auch von einer Mehrheit der Berliner gewünscht wird. Sollten neben SPD, CDU, Grünen und Linken auch die Piraten in das Landesparlament in der vermuteten, oben angegebenen Stärke einziehen, dann stehen die Chancen für eine rot-grüne Neuauflage in Berlin sehr gut.

Literatur:
Bräuninger, Thomas und Marc Debus (2011): Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

Die programmatischen Ausrichtungen der Berliner Parteien zur Abgeordnetenhauswahl 2011: Deutliche Verschiebungen

Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus findet seit Monaten eine hohe Beachtung in den Medien wie auch in der politischen Öffentlichkeit. Dies hing zunächst maßgeblich damit zusammen, dass in Folge der Reaktorkatastrophe von Fukushima den Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Renate Künast gute Chancen eingeräumt wurden, stärkste parlamentarische Kraft zu werden. Mit dem Abflauen der Stärke von Bündnis 90/Die Grünen in den Umfragen und dem nicht unwahrscheinlichen Fall, dass die amtierende Regierungskoalition aus SPD und der Linken keine Mehrheit im künftigen Berliner Abgeordnetenhaus erreicht, rückt verstärkt die Frage in den Vordergrund, welche Parteien nach der Wahl eine gemeinsame Regierungskoalition bilden können.

In diesem Zusammenhang kommt den Politikzielen der Parteien eine entscheidende Rolle zu. Eine Grundlage zur Evaluierung der inhaltlichen Schnittmengen von Parteien, denen eine zentrale Funktion im Regierungsbildungsprozess zukommt, stellen die Wahlprogramme dar, die im Vorfeld von Wahlen verfasst werden und das Ziel haben, Wählern als auch den parteipolitischen Konkurrenten die eigenen Politikpositionen zu signalisieren. Eine quantitative Inhaltsanalyse der Wahlprogramme der Berliner Parteien zu den Abgeordnetenhauswahlen 2006 und 2011 macht deutlich, dass eine vergleichsweise große programmatische Dynamik vorherrscht (siehe Abbildung 1). So haben insbesondere CDU und FDP ihre wirtschaftspolitischen Positionen deutlich verändert: Während die Berliner Freidemokraten nunmehr moderate statt explizit marktliberale Positionen zur Abgeordnetenhauswahl 2011 vertreten, so hat die Union beinahe eine linke, der Haltung der SPD in sozioökonomischen Fragen sehr ähnliche Position in diesem Politikfeld eingenommen. Die Berliner CDU veränderte – im Vergleich zu 2006 – auch ihre gesellschaftspolitische Position und formuliert nunmehr eher progressive Politikziele. Insgesamt betrachtet haben sich die Christdemokraten in der Bundeshauptstadt derart auf die SPD zu bewegt, so dass sich die Positionen der beiden Parteien in den beiden Politikbereichen Wirtschaft und Gesellschaft kaum voneinander unterscheiden. Das programmatische Verhalten der Union kann dahingehend gedeutet werden, dass sie – aufgrund der Distanzverringerung zu SPD als auch Grünen – die inhaltlichen Hürden für ein rot-schwarzes oder schwarz-grünes Bündnis verringern wollte. Auch die Berliner Grünen haben sich ins Zentrum der gesellschaftspolitischen Dimension und damit in Richtung der Position des SPD-Wahlprogramms 2011 zu bewegt. Der nunmehr progressivste parteipolitische Akteur in Fragen der Innen-, Rechts und Gesellschaftspolitik ist – neben der Linken, die ihre Position im Politikraum nicht in signifikanter Form verschoben hat – die Piratenpartei.

Es wird also spannend werden, inwiefern sich die in den 2011er Wahlprogrammen der Berliner Parteien formulierten Politikziele im Regierungsbildungsprozess bemerkbar machen werden. Sollte es für eine rot-rote Neuauflage nicht reichen, dann erscheint eine große Koalition, ein rot-grünes wie schwarz-grünes Bündnis oder auch eine Dreier-Koalition unter Einbeziehung der Piratenpartei – etwa in Form einer Koalition aus SPD, Linken und Piraten – durchaus möglich. Dies hängt aber vor allem davon ab, wie viele Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten sein werden und damit von der Frage, ob die Piratenpartei und die Liberalen den (Wieder-)Einzug in das Parlament überhaupt erreichen. Es bleibt also nicht nur bis zum 18. September, sondern auch in der Zeit nach der Wahl im Land Berlin politisch mehr als spannend.

Abbildung 1: Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen der Berliner Landesparteien 2006 und 2011

 

Wieder Rot-Schwarz in Mecklenburg-Vorpommern?

Die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern spielt nur eine geringe Rolle in der politischen Tagesberichterstattung. Lediglich die Auswirkungen der innerhalb der Linken im nordöstlichsten deutschen Bundesland geführten Debatte um den Mauerbau von 1961 auf das Wahlergebnis wurden in den letzten Wochen ausführlicher thematisiert. Eine offene Frage ist zudem, ob die FDP aufgrund der für sie schlechten bundespolitischen Rahmenbedingungen den Wiedereinzug in den Landtag von Schwerin schafft. Die Umfragen sehen die Liberalen – ähnlich wie die rechtsextreme NPD – knapp unter der 5%-Hürde.

Sollten nur vier Parteien – SPD, CDU, die Linke sowie Bündnis 90/Die Grünen – in das Landesparlament einziehen, wie es die letzten Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen sowie von Infratest dimap andeuten, aus welchen Parteien wird sich dann die nächste Regierung zusammensetzen? Bleibt die Koalition aus Sozial- und Christdemokraten im Amt oder kommt es zu einer Koalition aus SPD und Linken, die in Mecklenburg-Vorpommern bereits zwischen 1998 und 2006 amtierte? Eine Inhaltsanalyse der Wahlprogramme der Landesparteien von 2006 und 2011 macht zunächst deutlich, dass die beiden Regierungsparteien SPD und CDU in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen ihre programmatische Position signifikant nach links verschoben haben (siehe Abbildung 1). Linke, Grüne und FDP änderten ihre inhaltlichen Standpunkte weder in wirtschafts- noch in gesellschaftspolitischen Fragen in entscheidendem Ausmaß ab. Die inhaltliche Distanz zwischen Sozialdemokraten und Union hat sich insgesamt betrachtet leicht verringert und entspricht ungefähr dem Abstand zwischen den Positionen von SPD und Linken. Aus dieser Perspektive könnte die SPD auch ein Bündnis mit den Sozialisten eingehen und die Koalition mit der Union beenden.

Abbildung 1: Programmatische Positionen der Parteien in Mecklenburg-Vorpommern

Allerdings spielen bei der Regierungsbildung allgemein und in den deutschen Bundesländern insbesondere noch weitere Faktoren eine Rolle, die in Betracht gezogen werden müssen. Dazu zählen etwa das Ziel der Parteien, möglichst viele Regierungsämter zu besetzen, der Amtsinhaberbonus, der der amtierenden Regierungskoalition einen gewissen Vorteil zugesteht, die vor einer Wahl getätigten Koalitionsaussagen der Parteien und die Mehrheitssituation im Bundesrat. Werden alle diese Faktoren inklusive der programmatischen Distanzen zwischen den parlamentarisch vertretenen Parteien berücksichtigt, dann lassen sich – mit Hilfe multivariater statistischer Analyseverfahren – die Wahrscheinlichkeiten für alle theoretisch möglichen Koalitionsvarianten berechnen (für eine genauere Beschreibung siehe Bräuninger & Debus 2011). Eine solche Analyse liefert folgendes Ergebnis: Von allen 15 theoretisch möglichen Koalitionen, die in dem aus vier Parteien bestehenden Parlament (SPD, CDU, Linke und Grüne) möglich sind, dominieren erwartungsgemäß zwei Parteikombinationen das Bild. Dies sind die amtierende Regierungskoalition aus Sozial- und Christdemokraten mit einer Wahrscheinlichkeit von 56,9% und ein Bündnis aus SPD und Linken mit einer Chance von 41,6%. Die restlichen 1,5% verteilen sich auf die verbleibenden 13 anderen theoretisch möglichen Parteienkombinationen. Diesem Ergebnis zufolge stehen die Chancen für eine Neuauflage der Koalition aus SPD und Union – wie auch schon in Sachsen-Anhalt wenige Monate zuvor – in Mecklenburg-Vorpommern nicht schlecht.

Literatur:

Bräuninger, Thomas und Marc Debus (2011): Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

Politikwechsel in Baden-Württemberg?

Das 1952 gegründete Land Baden-Württemberg bekommt in Folge der Landtagswahlen vom März 2011 zum ersten Mal eine Regierung, an der die Christdemokraten nicht beteiligt sind. Die grün-rote Koalition plant Reformvorhaben insbesondere in den Bereichen Bildung und Wissenschaft sowie Umwelt, Verkehr und Infrastruktur. Inwiefern spiegelt sich diese neue Politik auch im neuen Koalitionsabkommen wieder? Zeigen sich Unterschiede zwischen der alten und der neuen Regierung, wenn das grün-rote Programm von 2011 mit demjenigen der schwarz-gelben Koalitionsregierung von 2006 verglichen wird?

Eine Antwort auf diese Frage kann eine Inhaltsanalyse der Wahlprogramme und Koalitionsabkommen der baden-württembergischen Parteien von 2006 und 2011 liefern. Das Ergebnis dieser computergestützten und auf den Volltexten der jeweiligen Dokumente beruhenden Inhaltsanalyse macht mit Hinblick auf die Positionen der Parteien in den beiden, den deutschen Parteienwettbewerb maßgeblich strukturierenden Politikfeldern Wirtschaft und Gesellschaft und unter Berücksichtigung des statistischen Fehlerbereichs deutlich, dass die bislang regierenden Parteien CDU und FDP nur unwesentlich ihre programmatische Position zwischen 2006 und 2011 geändert haben. Die Union nimmt nach wie vor gesellschaftspolitisch konservative und wirtschaftspolitisch moderat-liberale Positionen ein, während die Freien Demokraten in Fragen der Innen-, Rechts- und Gesellschaftspolitik eindeutig progressiv und wirtschaftspolitisch explizit liberal ausgerichtet sind. Leichte Verschiebungen zeigen sich hingegen bei der SPD, die zur Wahl 2011 im Vergleich zu ihrem Wahlprogramm 2006 deutlich progressivere Positionen in gesellschaftspolitischen Aspekten vertritt. Bündnis 90/Die Grünen nehmen in ökonomischen Fragen eine den Sozialdemokraten nahezu identische Haltung ein, sind jedoch gesellschaftspolitisch noch progressiver als ihr künftiger Koalitionspartner ausgerichtet.

Wo befinden sich die Koalitionsabkommen in diesem aus den Politikfeldern Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik aufgespannten Politikraum? Zu erwarten wäre, dass die inhaltlichen Positionen des schwarz-gelben bzw. grün-roten Regierungsprogramms zwischen denjenigen der jeweiligen Koalitionsparteien und zudem näher an dem Standpunkt der jeweils stärkeren Regierungspartei liegen. Die inhaltlichen Positionen der beiden Koalitionsabkommen zeigen, dass das schwarz-gelbe Regierungsprogramm von 2006 ziemlich genau den Mittelwert aus den Positionen von CDU und FDP widerspiegelt. Offenbar konnten sich die Liberalen überdurchschnittlich stark in den damaligen Verhandlungen mit der Union durchsetzen. Auch der grün-rote Koalitionsvertrag lässt sich zwischen den Positionen von Sozialdemokraten und Grünen verorten, jedoch mit einem leichten Vorteil für die SPD: das im April 2011 formulierte Koalitionsabkommen liegt näher an der Position des kleineren Koalitionspartners als an der Position der Bündnisgrünen. Zieht man die Koalitionsabkommen als Indikator für die künftige Politik der baden-württembergischen Landesregierung heran, so lässt sich eindeutig mit Veränderungen in den Politikinhalten rechnen: einigten sich CDU und FDP noch auf einen wirtschaftsliberale und gesellschaftspolitisch moderat-konservative Positionen beinhaltenden Koalitionsvertrag, so spiegelt das Abkommen von Grünen und SPD moderat-linke Positionen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wider und formuliert wesentlich progressivere gesellschaftspolitische Politikziele als das christlich-liberale Regierungsprogramm von 2006. Baden-Württemberg darf sich diesen Ergebnissen zu Folge in der Tat auf zahlreiche Reformen und Neuerungen in den kommen Jahren einstellen.