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2005: Mit Insiderwissen aus Exit Polls Kasse gemacht!

Wahltagsbefragungen (vulgo: Exit Polls) sind derzeit in aller Munde – vor allem wegen der vermeintlichen Gefahr von Manipulationen in Fällen, in denen die Ergebnisse solcher Befragungen frühzeitig veröffentlicht werden, zum Beispiel über „das Plauderforum“ (FAZ von heute) Twitter. Die Diskussion, darauf ist hier schon mehrfach hingewiesen worden, ist aus mehrerlei Gründen bemerkenswert: Einerseits weil es die Frage der Gleichheit aller Wahlberechtigten berührt (wer darf vorab die Ergebnisse wissen, wer nicht – und warum eigentlich?), andererseits weil wissenschaftliche Studien bislang keine stabilen, einseitigen Effekte von Umfrageveröffentlichungen auf Wahlentscheidungen nachweisen konnten. Viel Rauch um Nichts also?

Doch Vorsicht – zumindest für 2005 scheint es Insider gegeben zu haben, die die Ergebnisse von Wahltagsbefragungen kannten und dieses Insiderwissen auch zu ihren Gunsten genutzt haben. Werfen wir dazu einen Blick auf die Kurse der FDP in der Wahlstreet – einer Wahlbörse, die im Vorfeld der Bundestagswahl gelaufen ist.

Am Wahltag um 16.00 Uhr – Gerüchten zufolge war dies zumindest früher ungefähr der Zeitpunkt, zu dem den Parteien erste Ergebnisse aus den Wahltagsbefragungen zugeleitet wurden – schießt der Kurswert der FDP-Aktie um fast zwei Punkte in die Höhe, nachdem er in den Stunden und Tagen zuvor recht konstant um acht Prozent plätscherte. Das schreit doch sehr nach Insiderwissen…

 

Zum Mitmachen auffordern! Der lahmende Internetwahlkampf

Der Wahlkampf ’09 sollte neue Standards auch im Internet setzen. Alle Parteien und Kandidaten haben schon früh spezielle Websites, Podcasts, YouTube-Kanäle und Diskussionsforen eingerichtet und sind selbstverständlich mit Profilen in den sozialen Netzwerken vertreten. Mit viel Farbe, Graphiken und Mulitimediaclips garniert werden politische Informationen an die potenziellen Wähler weitergegeben. Blickt man auf die noch immer ansteigende Internet-Nutzung in der deutschen Bevölkerung, so liegt die Politik hier voll im Trend.

Die Internet-Nutzung der Deutschen

Quelle: Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie. Die Graphik kann durch Anklicken vergrößert werden.

Im Jahr 2009 nutzen mehr als zwei Drittel der Bundesdeutschen das Internet zu den unterschiedlichsten Zwecken – und unter anderem auch, um sich (politisch) zu informieren. Allerdings springt der Funke im Netz nicht über, das Internet ist hierzulande nicht das zentrale Medium, mit dem Wähler und Anhänger rekrutiert und vor allem mobilisiert werden können. Damit unterscheidet sich der Online-Wahlkampf in Deutschland noch deutlich von seinem US-amerikanischen Vorbild, der internetbasierten Kampagne Barack Obamas. Warum ist das so? Obamas Internet-Stratege Thomas Gensemer hat hierzu gestern im „ZDF heute journal“ einen entscheidenden Punkt gleich zuerst angesprochen: Es wird kein Angebot zur Partizipation gemacht. Zwar können viele Inhalte und Clips angeschaut werden, echtes Mitmachen ist aber nicht ohne weiteres möglich.

Dies ist aber wichtig, wenn man Menschen an sich binden und sie von Interessenten zu Anhängern machen will. Die Bindekraft sozialen Engagements ist in der Sozialwissenschaft unstrittig, das Credo lautet: Wenn ich zu einem Projekt einen aktiven Beitrag leiste, dann steigt auch mein Interesse daran, dass das Projekt gelingt. Und wie groß das Potenzial für eine solche freiwillige politische Mitarbeit ist, hat nicht zuletzt eine Studie zur politischen Partizipation in Deutschland aus dem Jahr 2004 gezeigt.

Einstellungen zu „alternativen“ Partizipationsformen

Quelle: „Politische Partizipation in Deutschland“ – Studie der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag der Bertelsmann Stiftung

Während die Mitgliederzahlen der Parteien sinken, ziehen die Bürger also durchaus einige Formen der politischen Partizipation in Betracht, die in einer eher losen Organisation und unregelmäßig ausgeübt werden können. Allerdings gilt hier mehr denn je: Die Politik muss auf die Bürger zugehen und Ihnen das Angebot zur Mitarbeit machen. Eine bahnbrechende Studie aus den USA hat bereits in den 90er Jahren die drei wesentlichen Gründe ermittelt, aus denen sich die Menschen nicht politisch beteiligen: „because they can’t; because they don’t want; or because nobody asked“.

Diesem Gedanken folgend dürfen sich die Parteien nicht auf die digitale Aufbereitung ihrer Wahlplakate beschränken, echte Kommunikation und klare Partizipationsangebote sind nötig.

 

Über Schaden und Nutzen von Exit Polls

Es gibt für sie nur unschöne Bezeichungen wie Wahlnachfragen, Wahltag- oder Wahltagsbefragungen. In exit polls werden am Wahltag Wähler, die gerade das Wahllokal verlassen haben (exit), mit einem Kurzfragebogen nach ihrer Wahlentscheidung, einigen wenigen möglichen Erklärungen hierfür und nach zentralen sozio-demographischen Merkmalen wie Geschlecht, Alter, Berufsgruppenzugehörigkeit etc. befragt (poll). Die Umfrageinstitute und Fernsehsender erstellen auf der Grundlage dieser Daten ihre sogenannten 18-Uhr-Prognosen, und auch für die ersten Hochrechnungen werden diese Daten immer noch mitverwendet. Darüber hinaus ermöglichen die Exit-Poll-Daten erste Einblicke in die Hintergründe der Wahl, vor allem im Kontrast zu Ergebnissen der jeweiligen exit poll bei der Vorwahl. So ließ sich zum Beispiel in den letzten Jahren immer sehr schön zeigen, wie die Linke sukzessive bei Arbeitslosen erfolgreich wurde, bei denen zuvor die SPD dominierte.

Aufgrund des Durchsickerns von Ergebnissen einiger Exit-Poll-Daten, das in diesem Blog schon länger und wiederholt von Thorsten Faas thematisiert wurde und deshalb hier per se nicht mehr diskutiert werden muss, entbrannte nun eine Diskussion über ein mögliches Verbot der Wahlnachfragen. Man müsse sicher gehen, so die Argumentation, dass jeder Wähler bis zur Schliessung der Wahllokale seine Stimme ohne Kenntnis von Zwischenergebnissen abgeben kann. Dies ist grundsätzlich ein ehrenwertes Ansinnen, das mindestens zwei Fragen nach sich zieht: 1. Beeinflusst die Kenntnis von (Zwischen)Ergebnissen die Wahlentscheidung? 2. Ist der mögliche Schaden der exit polls größer als ihr Nutzen?

Zur ersten Frage lässt sich sagen, dass eine gewisse Beeinflussung nicht auszuschliessen ist. Ein oft zitiertes Beispiel sind die USA. Hier werden nach der Schließung der Wahllokale an der Ostküste die Ergebnisse der dortigen exit polls veröffentlicht. In vielen anderen Bundesstaaten wissen also diejenigen Wähler, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewählt haben, wie in anderen Landesteilen gewählt wurde. In diesem Zusammenhang gibt es im Kern zwei Effekte: Scheint die Wahl deutlich auszugehen, dann ist der Anreiz, noch zu wählen, gering. Ist es knapp, dann mag erst recht jede Stimme zählen. Beide Effekte, die primär Beteiligungseffekte sind, wurden schon beobachtet.

Zur zweiten Frage wird von den Umfrageinstituten gerne auf den wissenschaftlichen Nutzen der exit polls verwiesen. Dieser ist, nüchtern betrachtet, moderat. Ohne Zweifel einmalig sind die hohen Befragtenzahlen von 20.000 Wählern und mehr, verglichen mit 1.000 bis 2.000 Befragten in üblichen Umfragen. Andererseits sind die Exit-Poll-Fragebögen in Deutschland (anders als bspw. in den USA) mit ein bis zwei Seiten sehr kurz, so dass nur sehr wenige Fragen aufgenommen und später zur Kommentierung und Teil-Analyse des Wahlergebnisses herangezogen werden können. Ohne Umfragedaten, die vor und nach der Wahl erhoben werden, lassen sich die Wahlergebnisse nicht wirklich gut erklären. Darüber hinaus werden Exit-Poll-Daten, anders als viele Umfragedaten, der Wissenschaft nicht oder nur in Ausnahmefällen zur Sekundäranalyse zur Verfügung gestellt. Und für die Umfrageinstitute ist die Wahl spätestens mit der Erstellung ihrer Wahlberichte ein bis zwei Wochen nach der Wahl „gelaufen“. Die Exit-Poll-Daten, deren Erhebung sehr viel Geld kostet (und im Übrigen von uns allen durch die Rundfunk- und Fernsehgebühren mitfinanziert werden), verschwinden in den Schubladen der Institute. Sie dienen ihnen primär als Ausweis dafür, wie „exakt“ sie das Wahlergebnis bereits um 18 Uhr „vorhersagten“ – nett, aber, wie Justizministerin Zypries bereits anmerkte, nicht wirklich wichtig, wenn bereits zwei bis drei Stunden später ein vorläufiges Endergebnis vorliegt.

Welche Schlüsse sollte man also ziehen? Exit Polls verbieten? Ich würde sagen: Nicht das Kind mit dem Bade ausschütten! Wer über Zwischenergebnisse plappert, sollte ernste Konsequenzen zu fürchten haben. Aber auch der Nutzen der exit polls sollte gesteigert werden. Letzteres bedeutet, dass das Instrument mehr Analysemöglichkeiten eröffnen, d.h. die Befragungen umfangreicher werden sollten. Dies macht aber nur dann Sinn, wenn die Fernsehanstalten schon früh am Wahlabend Analysen auf dieser Datengrundlage anbieten und nicht die erste Stunde primär mit Interviews von Wahlparties, mit Politikern und ein paar Hochrechnungen füllen. Und schliesslich – sozusagen ein Hinweis in eigener Sache – müssten zumindest die Exit-Poll-Daten der öffentlich-rechtlichen Anstalten auch der Wissenschaft zur Analyse zur Verfügung gestellt werden. Zeitnah. Ohne Wenn und Aber.

Literaturhinweise:

Jürgen Hofrichter (1999): Exit Polls and Election Campaigns, in Newman (Hg.).: Handbook of Political Marketing.
Warren J. Mitofski (2000): Exit Polls, in: Rose (Hg.): International Encyclopedia of Elections.
Andreas M. Wüst (2002 u.a.): Exit Poll, in: Nohlen/Schultze (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft, Bd. 1.

 

Wer versteht die Bundesregierung? Die Webseiten der Bundesregierung im Verständlichkeitstest

Dass die Bedeutung der politischen Online-Kommunikation von Parteien und Politikern stetig zunimmt, dürfte heute als Konsens bezeichnet werden können. Dass diese Online-Kommunikation gerade in Wahlkampfzeiten aber besonders wichtig ist, hat nicht zuletzt der beeindruckende Wahlkampf und Wahlerfolg von Barack Obama in den USA gezeigt. Auch die deutschen Parteien haben auf diese Entwicklung reagiert und zur Bundestagswahl ausnahmslos aufwändige Kampagnen-Portale gestartet. Und die amtierende deutsche Bundeskanzlerin ist die erste Regierungschefin der Bundesrepublik, die einen regelmäßigen Video-Blog im Internet betreibt. Zweifellos scheint die Chance der direkten und ungefilterten Ansprache der Wähler über das Internet von der deutschen Politik erkannt worden zu sein. Doch schlägt sich diese Erkenntnis auch in einer angemessenen Ansprache der Zielgruppe nieder? Gelingt es der Politik, die Übersetzungsleistung der Medien zu kompensieren und sich bei der direkten Ansprache ihrer Wählerschaft verständlich zu machen?

Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim sind dieser Frage nun erstmals nachgegangen. Als Forschungsobjekt haben sie hierbei die Online-Auftritte der Bundesregierung unter die Lupe genommen. Denn: Keine andere politische Institution in Deutschland verfügt über mehr Ressourcen, um einen angemessenen Online-Auftritt zu realisieren, als Kanzleramt und Bundesministerien. Trotzdem stießen die Forscher bei ihrer Recherche schnell auf Wort- und Satzungetüme, die darauf schließen lassen, dass eine institutionalisierte Verständlichkeitsprüfung der veröffentlichten Webseiten-Texte in den meisten Berliner Ministerien keinesfalls Gang und Gäbe ist. Ein Beispiel gefällig? „Das Bundeskabinett hat heute den Entwurf einer Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag zur Ausweitung der Schutzklausel bei der Rentenanpassung beschlossen.“ Nominalstil in Reinkultur, entnommen aus dem Info-Text „Schutz vor Rentenkürzungen“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Dass es auch anders geht, bewiesen die Hohenheimer Forscher ebenfalls: Alle untersuchten Texte wurden in ihrer Verständlichkeit optimiert. Aus dem obigen Satzbeispiel wurde so beispielsweise: „Die Bundesregierung hat heute den Entwurf zu einem Gesetz beschlossen, das die Höhe der Rente schützen soll.“ Diese optimierten Text-Versionen wurden ebenso wie die Original-Texte zwei Gruppen von Probanden zur Bewertung und zum anschließenden Ausfüllen von Verständnistests vorgelegt. Das Ergebnis dieses Experiments: Bei allen optimierten Texten konnte die subjektive Verständlichkeitsbewertung sowie das objektive Verständnis signifikant verbessert werden. Der Optimierungseffekt betrug hierbei teilweise bis zu 56 Prozent.

Quelle: Universität Hohenheim. Die Graphik kann durch Anklicken vergrößert werden.

Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung sollte die Verantwortlichen in den Ministerien besonders hellhörig werden lassen: Alle untersuchten Wählergruppen, ob mit hoher oder niedriger Bildung, mit hohem oder niedrigem politischen Wissen, profitierten in ähnlicher Weise von den verbesserten Texten. Selbst die Stärke der Parteiidentifikation wirkte sich nicht systematisch und in der erwarteten Richtung auf den Optimierungseffekt aus. Im Gegenteil: Der Optimierungseffekt lag bei den stark Parteigebundenen in vielen Fällen sogar höher als bei den schwachen Parteianhängern und den Parteilosen. Eine Verständlichkeitsoptimierung politischer Webseiten wäre demnach keineswegs eine Nischen-Strategie für bestimmte Teilgruppen der User, sondern würde mit hoher Wahrscheinlichkeit der gesamten Nutzer-Gemeinde zugute kommen; eine Perspektive, die sicher nicht nur Demokratietheoretiker interessieren dürfte.

 

Die neue Unübersichtlichkeit: Oh Gegner, wo bist Du?

Jamaika, Rot-rot, Rot-rot-grün, Schwarz-gelb, Große Koalition – die Wahlen vom Wochenende hatten und haben fast alles im Programm, für jeden ist etwas dabei. Auch die Bundestagswahl steht unter einem ähnlichen Vorzeichen – vieles ist möglich, wenig wird ausgeschlossen. Die neue Situation ist unübersichtlich – für Parteien, aber vor allem auch die Wähler.

Im Angesicht der neuen Unübersichtlichkeit wird von ihnen (mindestens) ein Dreisprung verlangt – zumindest sofern man annimmt, dass sie sich nicht über die Wahl einer Partei, sondern auch die Zusammensetzung der nächsten Regierung Gedanken machen. Sie müssen sich im ersten Schritt (Hop) überlegen, wie gut (oder schlecht) sie verschiedene Regierungskoalitionen finden (siehe hierzu auch den Beitrag von Rüdiger Schmitt-Beck in diesem Blog); sie müssen im zweiten Schritt (Step) abschätzen, wie es wohl um die Bereitschaft der Parteien bestellt ist, bestimmte Koalitionen einzugehen (siehe z.B. Rot-rot-grün). Schließlich müssen sie (Jump) abschätzen, welches Ergebnis wohl am Ende des Wahlabends am 27. September steht, welche Koalitionsmöglichkeiten der Souverän also den Parteien faktisch eröffnet. Und im Lichte all dessen, muss jeder einzelne Wähler seine kleine Wahlentscheidung treffen. Als einzelner bei solchen Rahmenbedingungen Koalitionsbildungsprozesse zu beeinflussen – ein nahezu aussichtsloses Unterfangen.

Wie reagieren die Wähler also? Sie bleiben weitgehend in altem Lagerdenken verhaftet. Schon die Analyse von Rüdiger Schmitt-Beck hat gezeigt, dass die „beliebtesten“ Koalitionen weiterhin Schwarz-gelb und Rot-grün sind. Weiter untermauert wird dies durch Ergebnisse von Umfragen, die aufzeigen, zwischen welchen Parteien Wähler aktuell noch schwanken: FDP-Wähler können sich demnach vor allem vorstellen, Union zu wählen – und umgekehrt. SPD-Wähler ziehen ggf. auch die Wahl der Grünen in Betracht, wenn überhaupt, und umgekehrt. Und auch Personen, die beabsichtigen, „Die Linke“ zu wählen, ziehen vor allem Rot und Grün als Alternativen in Betracht. Alles also schön sortiert, zumindest auf dieser Ebene.

Trotzdem kann es sein, ist es nach dem Wochenende vielleicht sogar ein Stück wahrscheinlicher, dass es weder für Schwarz-gelb und schon gar nicht für Rot-grün alleine reicht. Was sollten die Parteien im Angesicht dessen in den kommenden gut drei Wochen tun? Gerade im bürgerlichen Lager rumort es spätestens seit dem Wochenende bezüglich dieser Frage: Wer ist und wo steht der politische Gegner? Angela Merkel wird von einigen Seiten bedrängt, sich klar zum bürgerlichen Lager zu bekennen. Aber warum eigentlich?

Im Lichte der oben präsentierten Zahlen ist ein Wechsel von Wählern über politische Lager hinweg eher unwahrscheinlich. Eine polarisierende Kampagne würde zwar potenziell eigene Anhänger mobilisieren, aber erst recht würde dies für die Anhänger des politischen Gegners gelten. Hinzu kommt, dass eine Polarisierung dem bürgerlichen Lager insgesamt nutzen könnte – also auch und vielleicht sogar vor allem der FDP (zum Beispiel aus Angst vor einer Neuauflage der Großen Koalition). Kann das im Interesse der Union sein? Nein. Die Situation ähnelt exakt jener von vor vier Jahren. Aus Sorge vor einer Großen Koalition, so zeigen unsere Umfragen, haben sich viele Bürger auf der Zielgeraden (d.h. in der Woche vor der Wahl) anstelle der Union für die FDP entschieden. Mit welcher Konsequenz? Für das bürgerliche Lager hat es trotzdem nicht gereicht und die Union ging deutlich gezeichnet in die Verhandlungen zur Bildung einer Großen Koalition.

Im Angesicht dieser neuen Unübersichtlichkeit scheint also vor allem zu gelten: Jeder ist seines Glückes Schmied, d.h. jede Partei muss zunächst für sich selbst sorgen. Was dann, wenn der Souverän am 27. September millionenfach gesprochen hat, daraus wird, was möglich sein wird und was nicht, worauf man sich wird verständigen können, all das wird man dann erst sehen können. An solche Situationen werden wir uns gewöhnen müssen. Viele unserer Nachbarländer – in langen Jahren an wirkliche Viel-Parteien-Systeme gewöhnt – haben das längst getan, dort ist die Unübersichtlichkeit eher alt. Für uns ist sie noch neu.

 

Thüringen: Warum nicht eine grüne Ministerpräsidentin?

Nach der Landtagswahl gibt es in Thüringen zwei realistische Koalitionsoptionen: Schwarz-Rot oder Rot-Rot-Grün. Der Spitzenkandidat der SPD, Christoph Matschie, hat am Wahlabend und am Tag darauf betont, dass es mit der Thüringer SPD keinen Ministerpräsidenten der Linken geben wird. Auch die Grünen haben große Vorbehalte gegen Bodo Ramelow. Wie die SPD stößt man sich an zwei Kandidaten (jetzt: Abgeordnete) auf der Landesliste der Linken, die keine ganz reine „DDR-Weste“ haben. Ramelow und die Linke beanspruchen dagegen das Amt des Ministerpräsidenten. Matschie lässt verlauten, dass er eher eine Koalition mit Dieter Althaus und der CDU eingehen wird als unter der Führung eines linken Ministerpräsidenten Rot-Rot-Grün zu versuchen. Andererseits weisen die drei Parteien der Linken auf programmatische Übereinstimmungen hin, die ein Rot-Rot-Grünes Bündnis lohnenswert machten.

Was tun? Nun, die Linke wird nie und nimmer Herrn Matschie zum Ministerpräsidenten wählen, SPD und Grüne dagegen nicht Herrn Ramelow. Da bleibt eigentlich nur noch die Große Koalition, die vielleicht gar nicht das Schlechteste für Thüringen wäre. Andererseits könnte man gleich ein weiteres Mal etwas Neues wagen: Warum nicht eine grüne Ministerpräsidentin in Thüringen? Diese hiesse dann Astrid Rothe-Beinlich. Für die Grünen könnte sich mit diesem Personalvorschlag eine Regierungsoption eröffnen. In Thüringen haben sie – verglichen mit dem Saarland oder Sachsen – nur eine Option: Rot-Rot-Grün. Eine grüne Ministerpräsidentin hätte zwischen zwei roten Blöcken zu moderieren und liefe natürlich Gefahr, zwischen SPD und Linken aufgerieben zu werden. Andererseits: Wer es nicht versucht, hat in jedem Fall verloren. Aber vielleicht gehen die Grünen ja gern in die Opposition. Hierzu meinte ein gewisser Franz Müntefering einmal: Opposition ist Mist.

 

Wer mit wem? Die Parteien und ihre Koalitionsaussagen vor der Bundestagswahl

Nach den Landtags- und Kommunalwahlen vom Wochenende versuchen die Parteien in gewohnter Weise, aus den Ergebnissen mit mehr oder minder gewagten Interpretationen Kapital für die verbleibenden vier Wochen bis zur Bundestagswahl zu schlagen. Aus einigen Medien erschallt hingegen der Ruf, nun sei es Zeit, über neue Koalitionsformationen nachzudenken. Stichworte sind: Rot-Rot-Grün und Jamaika-Koalition. Die Führungen der Bundestagsparteien scheinen sich auf diese Ideen nicht einlassen zu wollen. So wenden sich beispielsweise die Grünen gegen Koalitionen mit den Unionsparteien. Oskar Lafontaine schließt ein Bündnis mit der SPD auf Bundesebene aus. Und die SPD-Führung bleibt bei ihrem Mantra, was auch immer auf Landesebene geschehe, werde es im Bund keine Koalition mit der Linken geben. Da sie sich mit ihrer ablehnenden Haltung gegen neue Konstellationen zusätzlicher Machtoptionen nach dem 27. September begeben, dürften die Parteiführungen ihre Entscheidungen wohlbedacht getroffen haben. Vermutlich nehmen sie an, mit einem Richtungswechsel in der Koalitionsfrage kurz vor der Bundestagswahl mehr zu verlieren, als sie damit nach dem Wahltag gewinnen könnten.

Wie sich eine koalitionspolitische Kehrtwende auf die Wahlchancen der Parteien bei der anstehenden Bundestagswahl tatsächlich auswirken würde, werden wir nicht endgültig erfahren. Einige Indizien deuten jedoch darauf hin, dass veränderte Koalitionsaussagen die Wahlentscheidung der Bürger nicht unberührt ließen. So gab in einer Onlineumfrage rund ein Viertel der voraussichtlichen Grünen-Wähler auf die Frage, wie sie sich entscheiden würden, wenn sich die Grünen für eine Koalition unter Führung der Union aussprächen, an, in diesem Fall würden sie ihre Stimme der SPD geben. Im Falle einer Koalitionsaussage zugunsten eines Bündnisses aus SPD, Grünen und der Linken würden sich ebenfalls einige Grünen-Wähler anders entscheiden. Rund 15 Prozent gaben die Unionsparteien an, zwischen fünf und zehn Prozent wollten der Wahl fernbleiben. Von den befragten SPD-Wählern würden sich demnach gut zehn Prozent für die Unionsparteien entscheiden, knapp 15 Prozent würden von ihrem Wahlrecht nicht Gebrauch machen. Diese Werte dürfen nicht überinterpretiert, entstammen sie doch einer nicht bevölkerungsrepräsentativen Onlinebefragung und beruhen auf Antworten auf höchst hypothetische Fragen. Allerdings deuten sie doch darauf hin, dass Bürger bei der Wahlentscheidung auf Koalitionsaussagen reagieren.

Mit neuen Koalitionen eröffnen sich Parteien also nicht nur neue Möglichkeiten zum Machterwerb, sondern sie scheinen dafür auch einen Preis in Form von Stimmen bezahlen zu müssen. So betrachtet, ist es nicht unverständlich, dass sich Parteiführungen bis zum Wahltag zögerlich zeigen, neue Bündnisse begeistert zu begrüßen. Eine andere Frage ist es allerdings, welche Schlüsse Wahlberechtigte aus dem Koalitionsgeschehen auf Landesebene ziehen werden. Erst recht lässt sich aus den Bündnisaussagen vor der Wahl am 27. September nicht folgern, dass auch in der neuen Legislaturperiode koalitionspolitisch alles beim Alten bleiben wird.

 

Haben Landtagswahlergebnisse Effekte auf die Bundestagswahl?

Es ist ein beliebtes Spiel am Abend nahezu jeder Landtags-, Europa- oder Bundespräsidentenwahl. Journalisten fragen Experten – meist Politikwissenschaftler – danach, welche Auswirkungen dieses regionale Wahlergebnis auf die Bundesebene haben wird. Die Experten spielen häufig mit und mutmaßen darüber, dass diese unerwartet hohen Verluste, Gewinne oder diese neue Koalitionskonstellation schon in der ein oder anderen Weise die Bundespolitik beeinflussen werde.

Aus Sicht der Wissenschaft sollte man mindestens ein Fragezeichen hinter solche Medienspiele setzen. Zum einen können die Wähler sehr wohl zwischen verschiedenen Wahlebenen unterscheiden. Gute Indikatoren sind unterschiedliche Wahlbeteiligungsraten oder die ganz unterschiedliche Bewertung von Bundes- oder Landesregierungen sowie -parteien. Und am gleichen Tag gab es schon häufig in verschiedenen Bundesländern ganz unterschiedliche Wahlergebnisse wie z.B. am 25. März 2001 in Baden-Württemberg (hier gewann die CDU hinzu und blieb in der Regierung) und in Rheinland-Pfalz (hier gewann die SPD hinzu und blieb an der Regierung). In beiden Fällen spielte die Landespolitik für die Wahlentscheidung die zentrale Rolle.

Wir wissen andererseits, dass Wahlergebnisse niedrigerer Ordnung stets zu einem variablen Grad von der Bundespolitik beeinflusst werden. Vor allem inmitten von Legislaturperioden des Bundestags gibt es häufig starke anti-gouvernementale Effekte, die dann auch die Landesparteien zu spüren bekommen. Viele Wähler protestieren auf der ihnen gerade zur Verfügung stehenden (Landes-)Ebene gegen die Bundesregierung. Dies begünstigte vor fünf Jahren die CDU im Saarland, die PDS in Thüringen und die NPD in Sachsen. Nun stehen wir am Ende der Legislaturperiode auf Bundesebene, so dass diese Effekte deutlich schwächer sein werden. Zum anderen ist vor allem die CDU nicht mehr in der Opposition, sondern führende Regierungspartei. Insbesondere für sie wird es schwieriger als 2004, zumal im Saarland, wo der Regierungschef immerhin schon zehn Jahre im Amt ist.

Mögliche Effekte von Landtagswahlergebnissen auf Bundestagswahlergebnisse sind demgegenüber vor allem eines: hoch spekulativ. Nicht vier, sondern zwei Wochen vor der Bundestagswahl 1998 fand eine Landtagswahl in Bayern statt. Die CSU gewann damals – trotz hoffnungsloser Situation der Union auf Bundesebene – hinzu und verteidigte souverän die absolute Mehrheit in Bayern. Ein Bundeseffekt dieser Wahl blieb aus, zumindest zwei Wochen später. Es gab in Umfragen zwar einen temporär positiven Effekt für die CDU/CSU in der Woche unmittelbar nach der damaligen Bayernwahl, doch bis zur Bundestagswahl war dieser Effekt verflogen. Selbst die Bayern konnten Kohl nicht retten.

Wie also sollten die drei Landtagswahlen (oder gar die Kommunalwahlen in NRW) von heute Einflüsse auf das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl am 27. September haben? Und wie sollten sie Steinmeier zurück „ins Rennen“ bringen? Sicher, systematisch ausschliessen kann man bundespolitische Effekte nicht, vor allem wenn es sich um dramatische Ergebnisse handelt. Doch wenn beispielsweise ein Ministerpräsident stürzt, hat das zwar politische Effekte, vor allem auf innerparteiliche Machtverhältnisse, aber das Wahlverhalten auf der weitaus wichtigeren politischen Ebene, dem Bund, wird davon weitgehend unbeeinflusst bleiben. Zwar entschlossen sich Schröder und Müntefering noch am Abend der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005, vorgezogene Neuwahlen anzustreben. Doch die NRW-Wahl war lediglich der schmerzhafte Endpunkt einer langen Leidenszeit. Vorausgegangen waren Landtagswahlpleiten in Serie, ein „Heide-Mörder“ und eine Abspaltung von der SPD, die WASG. Die Lage ist 2009 eine völlig andere. Deshalb werden die Wahlen von heute vor allem eines sein: Der Startschuss für den Endspurt des Bundestagswahlkampfs 2009. Hier geht es dann um eine neue Bundesregierung. Die landespolitischen Ergebnisse von heute werden, davon sollte man ausgehen, für die Wähler dann keine Rolle mehr spielen.

 

Thüringen hakt nach

Kurz vor den Landtagswahlen am Sonntag ist noch immer schwer vorhersagbar, zu welchen Koalitionen die Ergebnisse führen könnten. Denn die Bandbreite der möglichen Koalitionen ist so groß wie selten zuvor: Ein rot-rotes Bündnis, eventuell mit Beteiligung der Grünen, ist ebenso denkbar wie Jamaika- oder Ampelkoalitionen oder die klassischen Varianten Schwarz-gelb und Große Koalition.

Diese unterschiedlichen Szenarien werfen Fragen auf. Gerade in Thüringen, wo derzeit neben der Koalitions- auch die Ministerpräsidentenfrage besonders heiß diskutiert wird, scheinen viele Bürgerinnen und Bürger noch großen Informationsbedarf zu haben und ihre Wahlentscheidung erst dieser Tage zu treffen. Ein Indikator dafür ist die Aktivität der Plattform abgeordnetenwatch.de, auf der man Politikern Fragen stellen kann. Hier wurden bis Freitag immerhin 785 Anfragen zur Landtagswahl in Thüringen verzeichnet, das sind umgerechnet immerhin ca. 35 Fragen pro 100.000 Einwohner. Damit wurden im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr als doppelt so viele Fragen eingereicht wie in Sachsen und dem Saarland.

Die Politiker in Thüringen sind sich des Stellenwerts solcher Foren offensichtlich bewusst und haben etwas mehr als vier von fünf Fragen (82,7%) auch beantwortet. Damit liegen sie knapp vor den Kollegen in Sachsen (80,4%) und deutlich vor jenen im Saarland (69,8%). Zum Vergleich: Von den 2.715 Fragen, die bisher im Rahmen der Bundestagswahl gestellt wurden (das sind ca. 3,3 pro 100.000 Einwohner), wurden gerade mal 61,7% beantwortet.

Natürlich sind solche Zahlen interpretierbar. Beispielsweise könnte man argumentieren, dass der Stellenwert der Internetanfragen dort geringer ist, wo die Bevölkerungsdichte höher und es somit einfacher und wahrscheinlicher ist, die Kandidaten in der Nähe des Wohnortes persönlich an den Wahlständen anzutreffen. Dennoch zeigt die Internetaktivität der Bevölkerung (und der Politiker) an, dass es bis zuletzt noch einige unentschlossene Wählerinnen und Wähler gab und gibt. Gerade in Thüringen könnte es sich also lohnen, den Wahlkampf bis zur letzten Minute zu führen.