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Die Reform des Wahlgesetzes und das Problem des negativen Stimmgewichts und der Überhangmandate

Von Joachim Behnke
Seit dem 1. Juli verfügt die Bundesrepublik über kein Wahlgesetz mehr, nach dem ordnungsgemäß das Parlament und damit auch indirekt die Regierung gewählt werden könnte. In seinem Urteil vom 3. Juli zum sogenannten negativen Stimmgewicht erklärte das Bundesverfassungsgericht nämlich dieses als verfassungswidrig und legte dem Bundestag auf, diesen „absurden“ und „widersinnigen“ Effekt durch eine Änderung des Wahlgesetzes bis zum 30. Juni 2011 zu beseitigen. Doch der letzte der Fraktionsentwürfe, der von CDU/CSU und FDP, liegt erst seit Ende Juni überhaupt vor. Eine öffentliche Anhörung hierzu findet erst am 5. September statt. Bis zu der Verabschiedung des neuen Wahlgesetzes können keine Bundestagswahlen stattfinden, deren rechtliche Grundlagen unbestritten sind. Wir befinden uns demnach zwar nicht in einem Zustand der Regierungslosigkeit, aber doch immerhin in einem Zustand, in dem die verfassungskonforme Neuwahl einer Regierung nicht möglich ist.

Ein neues Wahlgesetz hat vor allem zwei Anforderungen zu erfüllen. Es muss einerseits dem Gerichtsurteil Rechnung tragen, indem es den Effekt des negativen Stimmgewichts beseitigt. Es muss aber außerdem versuchen, das größte und eigentliche Problem des derzeitigen Wahlgesetzes zu beseitigen, nämlich das der Überhangmandate. Überhangmandate und negatives Stimmgewicht sind zudem eng miteinander verflochten, sodass es naheliegend erscheint, die Beseitigung des einen Problems mit der gleichzeitigen des anderen zu verknüpfen.

Ein negatives Stimmgewicht liegt dann vor, wenn mehr Stimmen für eine Partei zu weniger Mandaten führen. Die CDU hatte z.B. bei der letzten Bundestagswahl aufgrund der Zweitstimmen einen Anspruch auf insgesamt 173 Sitze. Diese wurden im Rahmen der sogenannten Unterverteilung ebenfalls wieder proportional zu den Zweitstimmen auf die einzelnen Landeslisten der CDU aufgeteilt. Demnach entfielen z.B. auf die Landesliste der CDU in Schleswig-Holstein acht Mandate. Da die CDU dort jedoch neun Direktmandate gewonnen hatte, entstand dort ein Überhangmandat. Hätte die CDU in Schleswig-Holstein allerdings z.B. 5.133 Stimmen weniger erhalten, dann wäre im Rahmen der Unterverteilung ein Proporzmandat weniger in Schleswig-Holstein, dafür eines mehr in Niedersachsen angefallen. Das wegfallende Proporzmandat in Schleswig-Holstein wäre lediglich in ein Überhangmandat verwandelt worden, die Gesamtzahl der Sitze hätte sich dort daher nicht verändert. In Niedersachsen aber hätte die CDU ein weiteres Listenmandat erhalten, womit sich ihre bundesweite Gesamtsitzzahl erhöht hätte, wenn sie insgesamt weniger Zweitstimmen erhalten hätte.

Der Effekt des negativen Stimmgewichts lässt sich durch das Zusammenwirken zweier Einzeleffekte erklären. Der erste Effekt ist ein simpler Verteilungseffekt, wonach bei der proportionalen Sitzzuteilung weniger Stimmen zu weniger Sitzen, auf keinen Fall aber zu mehr Sitzen führen. Weniger Zweitstimmen in Schleswig-Holstein führen also zu weniger Proporzmandaten in diesem Land, was nur folgerichtig ist. Der zweite Effekt besteht in der Unterdeckung der Überhangmandate mit Zweitstimmen. Der Sinn des Verhältnisausgleichs, wie er durch §6 Abs. 2 und Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes beschrieben ist, besteht ja in der Verrechnung der Direktmandate mit den Mandaten, die einer Partei in einem Bundesland aufgrund der Zweitstimmen zustehen würden. Überhangmandate kommen dann zustande, wenn die Zweitstimmen in einem Land nicht genügen, um die Mandatsansprüche, die durch die gewonnenen Direktmandate entstehen, abzugelten. Überhangmandate sind eine Art von ungedeckten Wechseln, bei der die Empfänger des Kredits an Direktmandaten nicht in der Lage sind, diese durch einen entsprechenden Preis in Zweitstimmen zu bezahlen. Wenn nun durch den Wegfall weiterer Zweitstimmen in Schleswig-Holstein ein weiteres Direktmandat ungedeckt und somit zu einem Überhangmandat wird, so ist dies nur die folgerichtige Konsequenz aus dem Umstand, solche ungedeckten Wechsel an sich zu akzeptieren.

Wer also den Effekt des negativen Stimmgewichts als „absurd“ empfindet, müsste diesen Eindruck von Absurdität zwangsläufig auf den Umstand übertragen, dass es Mandate geben kann, die nicht im Verhältnisausgleich aufgehen. Wer umgekehrt keinen Anstoß an den Überhangmandaten nimmt, müsste dann auch den Effekt des negativen Stimmgewichts in der oben beschriebenen Form als unproblematisch akzeptieren. Der oft beschworene, scheinbar so logische Zusammenhang, dass das negative Stimmgewicht zwar notwendig mit Überhangmandaten, aber eben nicht umgekehrt Überhangmandate notwendig mit dem negativen Stimmgewicht verbunden seien, ist daher nur bedingt richtig. Überhangmandate sind innerhalb des jetzigen Designs notwendigerweise mit der Möglichkeit des Auftretens des Effekts des negativen Stimmgewichts verbunden. Ob er dann tatsächlich auftritt oder nicht, hängt lediglich von den Zufälligkeiten der Reihenfolge der Sitzverteilung auf die Landeslisten ab.

Der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2008 hat daher insofern für Verwirrung gesorgt, dass einerseits die Ablehnung des negativen Stimmgewichts logisch auch eine Ablehnung der Überhangmandate nach sich hätte ziehen müssen, aus den obiter dicta, insbesondere den anskizzierten Lösungsvorschlägen, aber keine grundsätzliche Ablehnung der Überhangmandate erkennbar schien. Da die Überhangmandate aber die Ursache im Sinne einer notwendigen Voraussetzung für das Entstehen des negativen Stimmgewichts darstellen, scheint es nur folgerichtig, das Problem des negativen Stimmgewichts an der Wurzel, also den Überhangmandaten, zu packen. Genau dies entspricht den Vorschlägen der Grünen, der Linken und der SPD, die das negative Stimmgewicht beseitigen wollen, indem sie die Überhangmandate beseitigen, z.B. durch Kompensation mit Landeslistensitzen, wie im Vorschlag der Grünen, oder Neutralisieren, wie im Vorschlag der SPD durch Ausgleichsmandate. (Zu einer vergleichenden Darstellung der Verfahren siehe die Stellungnahme von Friedrich Pukelsheim.) Der Vorwurf des CDU-Geschäftsführers, die Oppositionsparteien verweigerten sich einem Konsens, indem sie sich auf das „sachfremde Thema Überhangmandate“ konzentrierten, muss daher wohl eher seinerseits als sachfremd betrachtet werden. Der Lösungsvorschlag von Union und FDP beschränkt sich auf die Abschaffung des negativen Stimmgewichts und möchte aus naheliegenden Gründen die Überhangmandate erhalten. Dazu sollen die Landeslisten getrennt werden. Zuerst erfolgt hier eine Berechnung der Sitzkontingente der Länder nach der Wahlbeteiligung, anschließend werden die Sitze innerhalb des Landes auf die verschiedenen Listen der Parteien verteilt. Dieser Vorschlag beseitigt allerdings nicht einmal den Effekt des negativen Stimmgewichts, sondern eröffnet ihm sogar ganz neue Betätigungsmöglichkeiten. So hätten z.B. 13.000 Wähler der Linken weniger in Bayern dazu geführt, dass die Linke ein zusätzliches Mandat in Nordrhein-Westfalen und damit auch insgesamt ein Mandat mehr gehabt hätte (Zu diesem und anderen absurden Effekten des Gesetzesentwurfs siehe ausführlicher hier). Während der Effekt des negativen Stimmgewichts im derzeitigen Wahlsystem die Abgabe der Stimme für die präferierte Partei entmutigt, kann im Vorschlag der Union und FDP sich der Entschluss eines Wählers, zur Wahl zu gehen, um seine präferierte Partei zu wählen, schon der eigenen Partei schaden.

Hinsichtlich der Überhangmandate besteht außerdem nicht nur parlamentarischer Handlungsbedarf aufgrund des Urteils von 2008. Im Urteil von 1997 erkannten selbst die damals das Urteil tragenden Richter, also diejenigen, die Überhangmandate nicht grundsätzlich als verfassungswidrig anerkennen wollten, dass, wenn Überhangmandate „regelmäßig in größerer Zahl“ anfielen, sich daraus ein „Handlungsauftrag“ an das Parlament ergeben könne, den „Grundcharakter der Verhältniswahl“ wieder herzustellen. Da die 16 Überhangmandate von 1994, die der Auslöser des damaligen Urteils waren, offensichtlich als eine solche „größere Zahl“ angesehen wurden und in vier der fünf letzten Wahlen diese oder eine noch größere Anzahl an Überhangmandaten tatsächlich aufgetreten ist, müssen die Bedingungen für das Vorliegen dieses „Handlungsauftrags“ wohl als gegeben angenommen werden. Und in einem frühen Entscheid vom 3. Juli 1957 erkannte das Bundesverfassungsgericht überdies, dass die „Verfassungsmäßigkeit“ der Überhangmandate „im Fall eines Missbrauchs angezweifelt werden“ müsste. Damit sprach das Gericht bewusste Manipulationen zum Zweck der gezielten Gewinnung von Überhangmandaten an. Aber spätestens seit der Nachwahl in Dresden bei der Bundestagswahl 2005 ist offensichtlich geworden, dass es gezielte Kampagnen zur Unterdeckung der Direktmandate mit den Zweitstimmen gab. Des Weiteren lässt sich durch Umfragedaten belegen, dass 2009 in Baden-Württemberg ein nicht unbedeutender Anteil der CDU-Anhänger mit ihrer Zweitstimme die FDP gewählt haben und somit zur Entstehung weiterer Überhangmandate beigetragen haben. Dies kann durchaus eine Art von Protestwahlverhalten gegenüber der zu „sozialdemokratisierten“ CDU unter Angela Merkel gewesen sein, es muss keine gezielte Kampagne gewesen sein, es hätte aber womöglich eine gezielte Kampagne sein können.

Sowohl sachliche als auch verfassungsrechtliche Gründe sprechen also dafür, auch und vor allem die Überhangmandate in den Fokus einer Wahlreform zu nehmen. Schließlich ist diesen auch die demokratietheoretische Gefahr inhärent, dass es durch sie sogar zu einer Umkehrung von Mehrheitsverhältnissen kommen könnte. Im Lichte der derzeitigen Umfrageergebnisse ist es zwar weniger wahrscheinlich, dass Überhangmandate Union und FDP als zusätzlicher virtueller Koalitionspartner zu einer Mehrheit verhelfen könnten, aber es wäre sehr gut vorstellbar, dass sie eine ansonsten mögliche Mehrheit von Rot-Grün verhindern würden. Eine solche Mehrheitsumkehr aber hätte mit Sicherheit verheerende Folgen für die Legitimation einer sich dann bildenden Regierung, die eine andere sein würde als die, die sich aufgrund der Stimmenmehrheiten ergeben hätte. Ohne Ausgleichsmandate hätte z.B. in Baden-Württemberg eine schwarz-gelbe Koalition trotz klarer Stimmenmehrheit von Grün-Rot weiterregieren können. Es ist nicht sonderlich schwer, sich auszumalen, was dies in der ohnehin angespannten Lage ausgelöst hätte.

Es mag sein, dass das Parlament durch das Urteil vom Juli 2008 nicht eindeutig angehalten ist, sich auch um die Lösung des Problems der Überhangmandate zu kümmern. Aber das heißt ja nun auch nicht umgekehrt, dass es dem Parlament verboten ist, sich mit den Überhangmandaten zu beschäftigen. Ein Parlament, das sich nur bei Auflagen des Verfassungsgerichts genötigt sieht, tätig zu werden, würde sich selbst überflüssig machen. Der allgemeine Handlungsauftrag an das Parlament besteht darin, aus schlechten Gesetzen wenn nicht gerade gute, so doch zumindest bessere Gesetze zu machen. Da die Überhangmandate ohne Zweifel das schwerwiegendste Problem im derzeitigen Wahlgesetz darstellen, ist eine Reform, die sich dieser Aufgabenstellung verweigert, von vorneherein zum Scheitern verurteilt und würde vorhersehbar ein Wahlgesetz auf Abruf produzieren.

Joachim Behnke ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität Friedrichshafen.

 

Die SPD und der Wunsch nach einem allseits beliebten Kandidaten

Seit einigen Wochen schon wird in der SPD die Idee von „Primaries“ nach amerikanischem Vorbild diskutiert. Dies wäre die offene Selektion des Spitzenkandidaten durch die Parteibasis. An dieser Stelle soll einmal dargelegt werden, welche Konsequenzen eine solche Auswahl des Spitzenpersonals haben könnte. Die Qualitäten, die ein erfolgreicher Kandidat bzw. eine erfolgreiche Kandidatin mit sich bringt, hängen nämlich unter anderem von der Art ihrer Selektion und Rekrutierung ab! (vgl. Römmele 2004).

An der Selektion der Kandidaten wird häufig gemessen, wie offen und demokratisch der gesamte Prozess der Kandidatenaufstellung abläuft und inwiefern innerparteiliche Demokratie gesichert ist. Das eine Extrem ist sicherlich die Selektion der Kandidaten unmittelbar durch die Wähler. Eine die Parteien und ihre Mitglieder stärkende Mittelposition ist die Selektion über die Parteimitglieder. Eine sehr geschlossene Form der Selektion wäre die Ernennung durch die Parteispitze.

Interessant ist, dass es auch im internationalen Vergleich sehr häufig keine klaren festgelegten Richtlinien und Regeln gibt, nach denen dieser Vorgang ablaufen soll. Kollegen bezeichneten diesen Vorgang einmal als „secret garden of politics“ (vgl. Gallagher/Marsh 1998) – und das ist es auch!

Bei der Kandidatenselektion über Parteimitglieder finden sich im internationalen Vergleich zahlreiche Variationen: In Belgien finden wir Parteien, in denen Parteimitglieder mit einer bestimmten Parteizugehörigkeitsdauer an dem Prozess der Kandidatenselektion besteiligt sind. In Israel wählen alle Parteimitgleider ihren Kadidaten sowie ihren Parteiführer aus. Auch in der Bundesrepublik gab es bereits Versuche, die Kandidatenselektion offener zu gestalten. So wagte die SPD im Vorfeld der Bundestagswahl 1994 das Experiment, den Parteivorsitzenden durch alle Parteimitglieder wählen zu lassen. Rudolf Scharping setzte sich in einer Urwahl gegen Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul durch und wurde in der Folge auch Kanzlerkandidat der SPD. In jüngster Vergangenheit hat die SPD in Baden-Württemberg ebenfalls mittels einer Urwahl Nils Schmid zum Vorsitzenden gewählt, auch er wurde danach Spitzenkandidat für die Landtagswahl.

Eine geschlossene Selektion liegt vor, wenn der Kandidat von einem Gremium oder der Parteiführung ernannt wird. Auch hier zeigt die Empirie eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Fällen. So finden wir beispielsweise in Großbritannien Parteigremien, welche die Möglichkeit haben, Kandidaten zu ernennen bzw. zu blockieren. Die Parteimitglieder der Liberal Democrats selektieren ihre Kandidaten, die Parteiführung hat allerdings das letzte Wort hierüber. Die Frage nach den Kanzlerkandidaten in der Bundesrepublik lässt sich ebenfalls eher am „geschlossenen“ Ende des Kontinuums festmachen: Zwar werden die Kanzlerkandidaten auf einem Bundesparteitag formal ernannt; allerdings wird die Frage, wer Kandidat werden soll, in informellen Gesprächen in der Parteispitze mit einem festen Blick auf die Umfragewerte geklärt.

Welche Qualitäten haben aber nun Politiker, die auf den unterschiedlichen Wegen in Spitzenämter kommen? Sicherlich ist es so, dass Politiker, die sich schon früh den Wählern (und somit auch den Medien) in Primaries stellen müssen, eine gewisse Kommunikations- und Dialogfähigkeit besitzen müssen. Ihre Sympathie- und Popularitätswerte sind die Währung, die zählt. Sie müssen in einer offenen Wahl letztendlich nicht nur ihre eigenen Parteimitglieder überzeugen sondern auch mögliche Wechselwähler. Dies ist in Zeiten schwindender Parteimitgliederzahlen sowie sinkender Parteiidentifikation sicherlich ein überdenkenswerter Ansatz. Der gewählte Kandidat hat auch über die Parteigrenzen hinweg Zugkraft und Wahlkampf-Potential. Qualitäten von Politikern, die eher geschlossen rekrutiert, d.h. im „strengsten Fall“ von der Parteispitze ernannt werden, sind andere. Sie müssen sich – zumindest in diesem Stadium – nicht den Wählern stellen; sie legen ihr Expertenwissen in die Waagschale, ihre politische Vernetzung, ihr ganzes parlamentarisches und parteipolitisches Know-how.

Blicken wir nun für einen Augenblick auf die deutsche Empirie: Im aktuellen ZDF-Politbarometer liegt der SPD-Vorsitzende Gabriel mit einem Beliebtheitswert von 0,3 deutlich hinter seinen beiden Parteikollegen Steinbrück (1,6) und Steinmeier (1,3). Auf die Frage, mit welchem Kanzlerkandidaten die SPD die besten Chancen habe, nennen 36% der Befragten Steinmeier, 33% Steinbrück und nur 13% Gabriel. Dass dies kein reines SPD-Phänomen ist, zeigt ein Blick auf die vertretenen Unions-Politiker: Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ist mit einem Wert von 0,9 unbeliebter als ihre Parteifreunde Schäuble (1,4) und de Maizière (1,3); CSU-Chef Horst Seehofer erreicht mit 0,3 ebenfalls keinen überzeugenden Wert.

Vielleicht sollte man nicht gleich die Lanze für amerikanische Primaries brechen, Umfragewerte sind schließlich in erster Linie Momentaufnahmen. Allerdings legen die Zahlen zumindest nahe, den automatischen Zugriff des Pateivorsitzenden auf die Kanzlerkandidatur in Frage zu stellen.

Ein weiteres empirisches Argument dafür liegt in den jüngsten Wahlergebnissen: Wenn sich der derzeitige Trend fortsetzt und die „Volksparteien“ zugunsten der kleineren Parteien nachhaltig an Wählerpotenzial einbüßen, werden sich die Fälle häufen, in denen Koalitionen über Lagergrenzen hinweg geschmiedet werden müssen. Spitzenkandidaten müssen dann umso mehr auch integrativ wirken und im besten Fall zum Fixpunkt einer Koalition werden, die von der Parteibasis eher als Kompromiss denn als Wunschehe gesehen wird. Insofern liegt die SPD durchaus richtig mit ihrer Diskussion…

Literatur:

Gallagher, Michael/Marsh, Michael (Hrsg.) (1998). Candidate Selection in Comparative Perspective. The Secret Garden of Politics. London: Sage Publiciations.

Römmele, Andrea (2004). Elitenrekrutierung und die Qualität politischer Führung. Zeitschrift für Politik, Heft 3, S. 259-276.

 

Alle an Bord? Ein Blick auf den Frauenanteil in der deutschen Politik

Am 30. Juni wird die neue Bremer Landesregierung vereidigt. Wie bereits in der Vorgängerregierung wird die Hälfte des achtköpfigen Bremer Senats weiblich besetzt sein. Bis 2010 stellte dieser Umstand noch ein Alleinstellungsmerkmal unter den deutschen Bundesländern dar. Dann jedoch kam mit dem Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen und dem Kabinett von Hannelore Kraft eine weitere Landesregierung mit 50 Prozent weiblicher Beteiligung hinzu. Und seit dem 18. Mai 2011 regiert in Rheinland-Pfalz ein Kabinett, in dem der Frauenanteil trotz männlichem Ministerpräsidenten sogar bei 60 Prozent liegt (jeweils ohne Staatssekretäre). Zudem übernimmt am 10. August 2011 im Saarland die bisherige Arbeits- und Sozialministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Regierungsführung von Peter Müller. Damit steigt die Zahl der Ministerpräsidentinnen in Deutschland auf drei – so viel wie nie zuvor. Zeit, um einen etwas genaueren Blick auf den aktuellen Frauenanteil in der deutschen Politik zu werfen.

Beginnt man mit einer Betrachtung des deutschen Bundestags und seiner Abgeordneten, so lässt sich feststellen, dass der Frauenanteil hier seit der Bundestagswahl 1998 relativ stabil bei etwa einem Drittel der Bundestagsabgeordneten liegt. Allerdings zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Parteien (vgl. Abbildung 1): So liegt der Frauenanteil bei der CSU bei lediglich 13,6 Prozent, bei den Grünen und der Linken hingegen bei über 50 Prozent. Die FDP belegt mit 25,8 Prozent den vierten Platz hinter der SPD (37,7 Prozent) und knapp vor der CDU (20,2 Prozent). Ein sehr ähnlicher Befund ergibt sich bei einer Betrachtung der durchschnittlichen Frauenanteile in den Fraktionen auf Länderebene (vgl. ebenfalls Abbildung 1). Zu deutlichen Abweichungen zwischen Bundes- und Landesebene kommt es lediglich bei zwei Parteien: So liegt der Frauenanteil bei der CSU im bayerischen Landtag um etwa sieben Prozentpunkte höher als im Bundestag, in den Landtagsfraktionen der Linken hingegen liegt der mittlere Frauenanteil etwa acht Prozentpunkte niedriger als im Bundestag.

Abbildung 1: Frauenanteil Abgeordnete

Betrachtet man in einem zweiten Schritt den Frauenanteil bei den politischen Spitzenämtern in Deutschland, so zeigt sich, dass der Anteil bei den Parteivorsitzenden der Bundestagsparteien deutlich über dem Anteil bei den Fraktionsvorsitzenden im Bundestag liegt: Drei der sieben Parteivorsitzenden sind Frauen (43 Prozent), aber nur eine der sechs Fraktionsvorsitzenden (17 Prozent). Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich mit Ausnahme von Angela Merkel, der Parteivorsitzenden der CDU, alle weiblichen Fraktions- und Parteivorsitzenden die Leitungsfunktion mit einem männlichen Co-Vorsitzenden teilen. Unter den insgesamt 15 deutschen Bundesministern finden sich fünf Frauen (33 Prozent). Der Frauenanteil bei den sieben CDU-Ministerien (43 Prozent) liegt hierbei höher als bei den drei CSU-Ministerien (33 Prozent) und den fünf FDP-Ministerien (20 Prozent). Durch Angela Merkel als Bundeskanzlerin ergibt sich im Bundeskabinett insgesamt ein Frauenanteil von 38 Prozent.

Abbildung 2: Frauenanteil Spitzenämter

(Graphik anklicken für größere Darstellung)

Bei einem Blick auf die Besetzung der politischen Spitzenämter auf Länderebene zeigt sich, dass der Frauenanteil eher niedriger ausfällt als im Bundestag (vgl. Abbildung 2). Besonders deutlich zeigt sich dieser Befund bei der SPD: Hier findet sich unter den insgesamt 32 Partei- und Fraktionsvorsitzenden in den Ländern nur eine einzige Frau (Katrin Budde, Partei- und Fraktionsvorsitzende in Sachsen-Anhalt). Ähnlich niedrig fällt der Frauenanteil in den Führungspositionen der FDP aus: 15,4 Prozent bei den Parteivorsitzenden, 7,7 Prozent bei den Fraktionsvorsitzenden und nur 5,6 Prozent bei den Ministerposten. Im Gegensatz dazu stellen Frauen bei den Parteivorsitzenden der Grünen in den Ländern sogar die Mehrheit (60 Prozent), ebenso wie bei den Ministerposten (61,3 Prozent). Auch bei der Linken sind Frauen bei den Ministerposten (45,8 Prozent) und den Fraktionsvorsitzenden (38,5 Prozent) vergleichsweise stark vertreten. Betrachtet man dieselben Daten nach Ländern (vgl. Abbildung 3), so fällt insbesondere auf, dass in zwei Ländern (Mecklenburg-Vorpommern, Saarland) kein einziger Fraktionsvorsitz weiblich besetzt ist.

Abbildung 3: Frauenanteil Parlamente

(Graphik anklicken für größere Darstellung)

Fazit: Eine „gläserne Decke“ zeigt sich bei den politischen Spitzenämtern in Deutschland insbesondere bei der Besetzung von Fraktions- und Parteivorsitz. Besonders deutlich kommt dies – auf Parteienebene – bei SPD und FDP bzw. – auf Länderebene – in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen zum Vorschein. Beim Anteil der weiblichen Abgeordneten hingegen schneiden CDU, CSU und FDP bzw. Baden-Württemberg (18,1 Prozent), Hessen (23,7 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (22,5 Prozent) besonders schlecht ab. Selbst wenn man den Frauenanteil innerhalb der jeweiligen Parteien als Maßstab heranzieht (und nicht den Frauenanteil an der bundesdeutschen Wählerschaft, fällt das Urteil deshalb eindeutig aus: Von einer angemessenen Repräsentation der Frauen in der deutschen Politik kann nach wie vor nicht gesprochen werden – trotz einer Bundeskanzlerin und dreier Ministerpräsidentinnen.

Quellen:

Gender-Report des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Parlaments- und Wahlstatistik des deutschen Bundestages

Der Bundeswahlleiter

 

Demokratieverständnis in der Grundschule – ein Erfahrungsbericht

Das Anliegen unseres Blogs ist es, Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Heute möchte ich mich davon ein wenig entfernen und die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung zum Thema „Politik und Kinder“ mit eigenen Erfahrungen illustrieren.

Das Forschungsteam um den Mannheimer Politikwissenschaftler Jan van Deth hat in eindrucksvollen Studien gezeigt, wie sich Kinder schon im Grundschulalter für Politik interessieren. Dabei wurde mit der Mär aufgeräumt, dass die politische Sozialisation erst im Jugendalter stattfinde. Die ZEIT hat über dieses innovative und begeisternde Projekt bereits berichtet.

Ich selbst habe in der vierten Klasse meiner Tochter vor kurzem einen Vormittag zum Thema „Politik und Demokratie“ gestaltet und selten hat mir eine Diskussion so viel Freude bereitet. Am Beginn standen einige „Sammelantworten“ auf die Frage: „Was versteht ihr eigentlich unter Demokratie“? Zwanzig Hände gingen in die Luft. „Man darf dagegen sein und dagegen stimmen“; „man darf protestieren“ (natürlich wurde gleich darauf hingewiesen, dass „dagegen stimmen“ und „protestieren“ nicht das selbe ist); „man muss Kompromisse finden“… Die eigenen Erfahrungsberichte mit dem Protestieren folgten postwendend. Da hatte die Klasse beispielsweise gegen die Übernahme der Patenschaft der Klasse 1a protestiert (man war auf die Übernahme der Patenschaft für die Klasse 1b vorbereitet gewesen, aber nicht auf die 1a), oder auch dagegen, dass die Klasse bei der Auswahl des Schullandheimortes nicht befragt wurde.

Viele der Schülerinnen und Schüler sahen zudem die Hochzeit von Prinz William und Kate im Fernsehen bzw. saßen neben Eltern und Großeltern, die diese Hochzeit verfolgten. Im Unterricht kam so natürlich die Frage auf, warum wir keine Könige hätten und vor allem keine Prinzessinnen in so hübschen Hochzeitskleidern? Der Hinweis auf den Bundespräsidenten befriedigte nicht ganz. Nachdem ich die Aufgaben unseres Präsidenten aufgezählt hatte, fragte ein Schüler: „Eigentlich macht er doch gar nichts, oder? Ist er der Talisman für uns?“

Besonders lebensnah war die Frage, wer denn uns alle bestimmt, wenn Angela Merkel mal Scharlach hat. Gibt es da eine Vertretung, wie etwa in der Schule? Dort ist das klar geregelt: Wenn die Klassenlehrerin krank ist, springt der Kollege ein. Als ich die Vertretungsfrage im Krankheitsfall der Kanzlerin dargelegt hatte, waren alle beruhigt. Beendet haben wir die zwei Stunden, die voll lebhafter Diskussionen, Fragen und Äußerungen waren, mit einem Stoßseufzer einer Schülerin: „Irgendwie ist es doch voll unfair: Ich interessiere mich total für Politik und darf nicht wählen. Mein Papa aber, dem ist Politik ganz egal. Und der darf“.

Die spannende Frage für die Wissenschaft wie für die Politik ist, warum dieses politische Interesse im Kindesalter eigentlich verloren geht. Nicht bei allen natürlich, aber doch bei einigen. Was passiert in der Zeit zwischen 10 und 18? Aber das fragen sich Eltern auch im Hinblick auf viele andere Bereiche…

 

Attraktive Kandidaten haben es leichter – bei Wählern und Journalisten

Vor kurzem berichtete das Handelsblatt darüber, dass gutaussehende Kandidaten bei Wahlen systematisch besser abschnitten als weniger attraktive Mitbewerber. Hübsche Menschen haben es also nicht nur auf dem Heiratsmarkt, vor Gericht und auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in der Politik vergleichsweise leicht. Zur Erklärung wird auf gut belegte Ergebnisse der Attraktivitätsforschung hingewiesen. Demnach schenken Wahlberechtigte hübschen Kandidaten mehr Aufmerksamkeit, schreiben diesen vorteilhafte Eigenschaften zu und sehen ihnen Fehltritte leichter nach als weniger ansehnlichen Bewerbern.

Es erscheint schlüssig, dass Menschen bei der Beurteilung von Politikern denselben Stereotypen unterliegen wie in anderen Situationen. Allerdings kann man nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass Bürgern bei der Wahlentscheidung die äußere Erscheinung von Kandidaten so präsent ist wie etwa bei der Partnerwahl oder der Personalauswahl. Bei Hinterbänklern im Deutschen Bundestag ist das nicht selbstverständlich, erst recht nicht bei manchem Kandidaten kleiner Parteien. Man kann nicht einmal sicher sein, dass alle Bürger im Wahlkampf die Gesichter von Kandidaten auf Wahlplakaten so aufmerksam wahrnehmen, dass sie mit Bewerbernamen einen bestimmten Attraktivitätseindruck verbinden. Wenn sich aber nicht alle Bürger ein Bild vom Äußeren der Bewerber machen, wie kann man sich dann erklären, dass hübsche Kandidaten überdurchschnittlich gut abschneiden?

Eine Antwort kann in den Medien liegen. Medienberichte beeinflussen unsere Vorstellungen von der Realität, auch unsere Urteile über Kandidaten. Wenn attraktive Bewerber in der Berichterstattung besonders wegkommen und Bürger sich auf dieser Grundlage ihre Meinung bilden, könnte sich physische Attraktivität für Kandidaten selbst dann als Vorteil erweisen, wenn kein einziger Wahlberechtigter einen Bewerber zu Gesicht bekäme. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Journalisten eine angenehme äußere Erscheinung in ihrer Berichterstattung belohnen.

Dieser Frage sind wir in einer Untersuchung am Beispiel von sechs Tageszeitungen vor der Bundestagswahl 2005 nachgegangen. Dabei stellte sich zweierlei heraus. Zum einen gewähren Journalisten hübschen Kandidaten einen Aufmerksamkeitsbonus. Allein wegen der äußeren Erscheinung wurden über den schönsten Kandidaten in unserer Untersuchung während der letzten sechs Wochen vor der Wahl 35 Berichte mehr veröffentlicht als über den am wenigsten ansehnlichen Bewerber. Zum anderen wurde über hübsche Kandidaten deutlich wohlwollender berichtet als über weniger gutaussehende Bewerber. Physische Attraktivität beschert Kandidaten also einen doppelten Bonus. Dieser Bonus kann dazu beitragen, das überdurchschnittlich gute Abschneiden gutaussehender Kandidaten zu erklären.
Journalisten scheinen also denselben Wahrnehmungsmustern zu folgen wie andere Menschen. Warum sollte es auch anders sein? Schließlich sind auch Journalisten Menschen. Es gibt freilich einen kleinen, aber feinen Unterschied: Journalisten beeinflussen mit ihrer Berichterstattung die Vorstellungen vieler Menschen. Und so mag man den medialen Attraktivitätsbonus für wenig erstaunlich halten, ohne ihn deshalb als beruhigend zu empfinden.

Literatur
Marcus Maurer und Harald Schoen, 2010: Der mediale Attraktivitätsbonus. Wie die physische Attraktivität von Wahlkreiskandidaten die Medienberichterstattung in Wahlkämpfen beeinflusst, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 62, 277-295.

 

Die Probleme des neuen Bremer Wahlrechts

Schon wieder eine historische Wahl in diesem Superwahljahr, dieses Mal in Bremen: Die SPD regiert seit mehr als einem halben Jahrhundert das Land – und wird den Stadtstaat auch weiter regieren. Die Grünen sind schon wieder Zweiter geworden. Historisch war auch die Wahlbeteiligung, leider wieder einmal historisch niedrig. Die Forschungsgruppe Wahlen sieht die Wahlbeteiligung vom Sonntag bei gerade einmal 56,6 Prozent.

Man hat sich an diese immer neuen Tiefststände fast gewöhnt. Man hat sich auch schon daran gewöhnt, dass an Wahlabenden eine pflichtschuldige Enttäuschung über die geringe Beteiligung öffentlich zur Schau getragen wird, um sich danach genüsslich den wichtigen Fragen des Wahlabends widmen zu können: Welche bundespolitischen Auswirkungen gehen nun von Bremen aus? Wäre nicht doch vielleicht Schwarz-Grün eine Machtoption für Bremen? Ist Philipp Rösler nun nach nur einer Woche schon „geschwächt“?

Und doch gibt es zwei Facetten rund um Wahlsystem und Wahlbeteiligung, auf die man in Bremen genauer schauen sollte. Zunächst zum Wahlsystem: Wie schon in Hamburg, so durften auch jetzt in Bremen die Menschen mehr Kreuzchen auf ihrem Stimmzettel machen, nämlich fünf an der Zahl. Sie durften das sogar über mehrere Parteilisten hinweg tun. Das erfolgreiche Volksbegehren „Mehr Demokratie beim Wählen“ hatte diese Änderungen auf den Weg gebracht. Und diejenigen, die zur Wahl gegangen sind, haben von ihren erweiterten Möglichkeiten eifrig Gebrauch gemacht, sagen die ersten Zahlen.

Aber: Was, wenn das neue Wahlsystem (manche) Menschen abgeschreckt hat? Wäre das nicht „weniger Demokratie beim Wählen“? Immerhin wissen wir aus vielen, vielen Studien, dass selbst das Wahlsystem bei Bundestagswahlen von vielen Menschen im Land nicht richtig verstanden wird, dass viele Menschen etwa glauben, die Erst- sei wichtiger als die Zweitstimme oder beide seien doch zumindest gleich wichtig. Man darf vermuten – auch wenn man bislang nicht allzu viel darüber weiß –, dass allen Informationskampagnen zum Trotz auch das neue Wahlsystem in Bremen mit ähnlichen Problemen behaftet ist.

Den Wahlsystemen inhärenten Zielkonflikt zwischen möglichst großem Einfluss der Wähler auf die Zusammensetzung der Parlamente einerseits, einer einfachen Handhabung und einer hohen Verständlichkeit andererseits sollte man jedenfalls mit einigem Abstand zu den Wahlen in Hamburg und Bremen noch einmal genau überprüfen. Die Gleichheit der Wahl ist ein hohes Gut, das ein abschreckendes Wahlsystem potenziell gefährdet. Es heißt ja „One (wo)man, one vote“ und nicht „one (wo)man, one potential vote„.

Auch das zweite Novum der Wahl birgt Probleme: Wählen durften dieses Mal nämlich auch die 16- und 17-Jährigen. Ob sie schon reif dafür sind, mögen andere diskutieren. Bemerkenswert ist vielmehr ein gängiges Missverständnis, von dem gestern auch in der FAZ zu lesen war: Die jungen Menschen durften erstmals; „die Wahlbeteiligung lag dennoch … so niedrig wie noch nie“.

Da kann man nur mit dem Kopf schütteln – allerdings weniger über die Bremer, sondern eher über die Kommentatoren. Wie soll die Wahlbeteiligung steigen, wenn einer Gruppe das Wahlrecht gegeben wird, von der klar ist, dass ihre Wahlfreude unterdurchschnittlich sein wird? Es gehört nun einmal zu den ehernen Gesetzen der Wahlforschung, dass die Wahlbeteiligung bis zur Altersgruppe der 60-Jährigen kontinuierlich ansteigt – und zwar kräftig. Zwar ist die Wahlbeteiligung bei Erstwählern immer etwas höher als in der nächst älteren Kohorte, aber sie ist und bleibt eben doch niedriger, gerade im Vergleich zu den silver voters. Insofern musste die Wahlbeteiligung zwangsläufig sinken – gerade weil die 16- und 17-Jährigen erstmals wählen durften, aber erwartungsgemäß eher wahlmüde waren (die Wahlbeteiligung wird aktuell auf knapp über 40 Prozent geschätzt).

Was lernen wir daraus? An ein, zwei Schräubchen des Wahlrechts zu drehen, reicht eben nicht aus, um das dauerhafte Problem der niedrigen und sinkenden Wahlbeteiligung zu lösen. Da helfen weder 5 noch 10 noch 20 Stimmen. Es hilft auch nicht, das Wahlalter auf 0 zu senken. Das Problem scheint tiefer zu sitzen. Selbst die Wahl in Baden-Württemberg, bei der alle gerade beglückt auf die gestiegene Wahlbeteiligung geschaut haben, ist ein Beleg dafür. Wenn trotz (vermeintlich) extremer Mobilisierung, trotz hoher Emotionalisierung, trotz knappen Wahlausgangs, trotz eines möglichen historischen Regierungswechsels nur zwei von drei Wahlberechtigen zur Wahl gehen (und einer von dreien eben nicht!), dann ist das ein schlechtes Zeichen.

Vielleicht gibt es doch eine Änderung, über die man einmal nachdenken sollte. Das Wahlsystem der Weimarer Republik ist viel gescholten worden, an vielen Stellen auch zu Recht. Aber eine interessante Facette hatte es ohne Zweifel: Für 60.000 Stimmen gab es einen Sitz. Was das mit Wahlbeteiligung zu tun hat? Die Anzahl der Sitze im Reichstag hing direkt von der Wahlbeteiligung ab. Je mehr Stimmen abgegeben wurden, desto größer war der Reichstag – und umgekehrt!

Eine Änderung des Wahlsystems auf Bundesebene steht in diesen Tagen ohnehin bevor. Das Verfassungsgericht hält das gegenwärtige Wahlsystem bei Bundestagswahlen nicht für verfassungskonform und hat eine Frist bis Mitte diesen Jahres gesetzt. Da aber noch keine Vorlagen wirklich auf dem Tisch liegen, könnte man eine solche Idee durchaus noch mitaufnehmen. Das würde einen schönen Anreiz in das Wahlsystem einbauen, damit sich alle nicht mehr bloß pflichtschuldig, sondern ganz ernsthaft mit der Wahlbeteiligung auseinandersetzen würden.

 

Wahlrecht ab 16 – Chance oder Risiko?

„Wir wollen das Wahlalter bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre absenken.“ So steht es im vor wenigen Tagen veröffentlichten Koalitionsvertrag von Bündnis-Grünen und SPD in Baden-Württemberg. Die Grünen setzen damit eines ihrer Wahlziele um, wie zuvor schon in sechs anderen Bundesländern.

In Bremen konnte die Ökopartei vor zwei Jahren eine entsprechende Wahlrechtsreform sogar für die Wahl zur Bürgerschaft durchsetzen. Am 22. Mai 2011 dürfen deshalb in Bremen zum ersten Mal auch 16- und 17-Jährige an einer Wahl auf Landesebene teilnehmen. Eine Senkung des Wahlalters auf Bundesebene, die ebenfalls von den Grünen beantragt worden war, scheiterte dageben schon zweimal an der Mehrheit des Bundestages, zuletzt am 2. Juli 2009.

Wie lässt sich dieses Scheitern erklären? Ein wichtiges Argument der Skeptiker lautet: Die Senkung des Wahlalters könne leicht zu einer Stärkung extremer Parteien führen, da Jugendliche möglicherweise anfälliger für links- und rechtsextremes Gedankengut seien. Insbesondere auf Bundesebene könne eine entsprechende Wahlrechtsänderung also fatale Konsequenzen haben.

Dem gegenüber stehen die Vorzüge eines niedrigeren Wahlalters, die auch im baden-württembergischen Koalitionsvertrag angeführt werden: „Kinder- und Jugendpolitik darf nicht nur Politik für junge Menschen sein, sie muss stets Politik mit jungen Menschen sein. […] Kinder und Jugendliche sollen grundsätzlich bei allen sie betreffenden Fragen politisch beteiligt werden.“

Betrachtet man die Datenlage auf kommunaler Ebene, wird deutlich, dass gesicherte Aussagen über das Wahlverhalten der 16- und 17-Jährigen nur schwer möglich sind . Das liegt daran, dass ihr Anteil an der Gesamtwählerschaft relativ gering ist. In vielen Wahlgebieten ist deshalb die Datenbasis für verlässliche Aussagen zu klein für , auch weil statistische Erfassungen des Wählerverhaltens aus datenschutzrechtlichen Gründen in der Vergangenheit immer stärker eingeschränkt wurden.

Die vorhandenen Daten sprechen jedoch eher gegen die Befürchtung, dass Jungwähler bei Kommunalwahlen überproportional häufig zur Wahl extremer Parteien neigen oder dass nur eine kleine Anzahl Jugendlicher mit extremen politischen Ansichten zur Wahl gehen würde. Im Gegenteil: Die Wahlbeteiligung der 16- und 17-Jährigen lag zwar meistens etwas unterhalb der Wahlbeteiligung in der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung, aber teilweise höher als die Wahlbeteiligung bei den volljährigen Erstwählern.

Ein aufschlussreiches Beispiel für ein Wahlrecht ab 16 auf Bundesebene bietet Österreich. Hier durften bei den Nationalratswahlen 2008 zum ersten Mal auch Wähler ab 16 Jahren an der Wahl teilnehmen. Betrachtet man deren Wahlverhalten, so lässt sich laut einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Sora feststellen: Je jünger die WählerInnen waren, desto eher wählten sie eine der beiden rechtspopulistischen Parteien FPÖ und BZÖ. Demnach gaben insgesamt 31 Prozent der 16-Jährigen an, BZÖ oder FPÖ gewählt zu haben, jedoch nur 18 Prozent der 18-Jährigen. Der tatsächliche Anteil von jugendlichen Rechtswählern lag zudem möglicherweise noch deutlich höher, da etwa ein Viertel der Jungwähler die Antwort verweigerte. Gleichzeitig rangierten aber die von den Rechtsparteien stark propagierten Themen wie strengere Einwanderungsbestimmungen oder die Integration von Ausländern auf der Prioritätenliste der Jugendlichen ganz unten.

Abbildung 1: Wahlverhalten von Jungwählern bei der Nationalratswahl in Österreich 2008 (Quelle: SORA – Institute for Social Research and Analysis)

Eine mögliche Erklärung für dieses Wahlverhalten findet sich in einer Studie der Universität Hohenheim zum Wahlrecht ab 16: Wie deren Befunde zeigen, bestanden zwischen den Probanden im Alter von 16 bis 17 Jahren und den Teilnehmern im Alter von 18 bis 20 Jahren systematische Unterschiede beim Wissen über und dem Verständnis von Politik. Bei der subjektiven Einschätzung des Verständnisses hingegen ergaben sich keine signifikanten Unterschiede. Die minderjährigen Jugendlichen waren sich ihrer Wissens- und Verständnisdefizite also nicht bewusst. Dass deshalb ähnliche Folgen einer Wahlrechtsreform wie in Österreich durchaus auch in Deutschland möglich wären, zeigt z.B. das Ergebnis der sog. U18-Jugendwahl in Baden-Württemberg, die kurz vor der Landtagswahl am 27. März 2011 durchgeführt wurde und an der sich über 30.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren beteiligten. Hier erhielt die NPD eine Zustimmung von 3,9 Prozent und damit einen etwa vier Mal so hohen Stimmenanteil wie bei der eigentlichen Landtagswahl (1,0 Prozent).

Abbildung 2: Wahlergebnis der U18-Jugendwahl und der Landtagswahl in Baden-Württemberg 2011 (Quellen: Statistisches Landesamt, www.jugendwahl-bw.de)

Fazit: Um Risiken und Chancen eines Wahlrechts ab 16 Jahren gesichert einschätzen zu können, sind weitere und umfangreichere Datenerhebungen dringend nötig. Die bislang vorhandenen Daten weisen jedoch darauf hin, dass für Gemeinde-, Landes- und Bundesebene durchaus unterschiedliche Beurteilungen und Maßnahmen sinnvoll sein könnten. Demnach wurde in Österreich möglicherweise der zweite vor dem ersten Schritt getan, wie nach der Wahl auch der Vorsitzende der SPÖ-Fraktion im Nationalrat, Walter Steidl, feststellte: „Normalerweise wäre der erste Schritt nämlich die Vorbereitung der jungen Menschen auf diese Situation. Und das hat man etwas verschlafen.“

Weitere Quellen zum Thema:
Mößner, Alexandra (2006): Jung und ungebunden? Parteiidentifikation von jungen Erwachsenen. In: Roller, Edeltraud / Brettschneider, Frank / van Deth, Jan W. (Hrsg.): Jugend und Politik: „Voll normal!“. Wiesbaden: VS Verlag, S. 337-359.
Schoen, Harald (2006): Junge Wilde und alte Milde? Jugend und Wahlentscheidung in Deutschland. In: Roller, Edeltraud / Brettschneider, Frank / van Deth, Jan W. (Hrsg.): Jugend und Politik: „Voll normal!“. Wiesbaden: VS Verlag, S. 379-406.

 

Politikwechsel in Baden-Württemberg?

Das 1952 gegründete Land Baden-Württemberg bekommt in Folge der Landtagswahlen vom März 2011 zum ersten Mal eine Regierung, an der die Christdemokraten nicht beteiligt sind. Die grün-rote Koalition plant Reformvorhaben insbesondere in den Bereichen Bildung und Wissenschaft sowie Umwelt, Verkehr und Infrastruktur. Inwiefern spiegelt sich diese neue Politik auch im neuen Koalitionsabkommen wieder? Zeigen sich Unterschiede zwischen der alten und der neuen Regierung, wenn das grün-rote Programm von 2011 mit demjenigen der schwarz-gelben Koalitionsregierung von 2006 verglichen wird?

Eine Antwort auf diese Frage kann eine Inhaltsanalyse der Wahlprogramme und Koalitionsabkommen der baden-württembergischen Parteien von 2006 und 2011 liefern. Das Ergebnis dieser computergestützten und auf den Volltexten der jeweiligen Dokumente beruhenden Inhaltsanalyse macht mit Hinblick auf die Positionen der Parteien in den beiden, den deutschen Parteienwettbewerb maßgeblich strukturierenden Politikfeldern Wirtschaft und Gesellschaft und unter Berücksichtigung des statistischen Fehlerbereichs deutlich, dass die bislang regierenden Parteien CDU und FDP nur unwesentlich ihre programmatische Position zwischen 2006 und 2011 geändert haben. Die Union nimmt nach wie vor gesellschaftspolitisch konservative und wirtschaftspolitisch moderat-liberale Positionen ein, während die Freien Demokraten in Fragen der Innen-, Rechts- und Gesellschaftspolitik eindeutig progressiv und wirtschaftspolitisch explizit liberal ausgerichtet sind. Leichte Verschiebungen zeigen sich hingegen bei der SPD, die zur Wahl 2011 im Vergleich zu ihrem Wahlprogramm 2006 deutlich progressivere Positionen in gesellschaftspolitischen Aspekten vertritt. Bündnis 90/Die Grünen nehmen in ökonomischen Fragen eine den Sozialdemokraten nahezu identische Haltung ein, sind jedoch gesellschaftspolitisch noch progressiver als ihr künftiger Koalitionspartner ausgerichtet.

Wo befinden sich die Koalitionsabkommen in diesem aus den Politikfeldern Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik aufgespannten Politikraum? Zu erwarten wäre, dass die inhaltlichen Positionen des schwarz-gelben bzw. grün-roten Regierungsprogramms zwischen denjenigen der jeweiligen Koalitionsparteien und zudem näher an dem Standpunkt der jeweils stärkeren Regierungspartei liegen. Die inhaltlichen Positionen der beiden Koalitionsabkommen zeigen, dass das schwarz-gelbe Regierungsprogramm von 2006 ziemlich genau den Mittelwert aus den Positionen von CDU und FDP widerspiegelt. Offenbar konnten sich die Liberalen überdurchschnittlich stark in den damaligen Verhandlungen mit der Union durchsetzen. Auch der grün-rote Koalitionsvertrag lässt sich zwischen den Positionen von Sozialdemokraten und Grünen verorten, jedoch mit einem leichten Vorteil für die SPD: das im April 2011 formulierte Koalitionsabkommen liegt näher an der Position des kleineren Koalitionspartners als an der Position der Bündnisgrünen. Zieht man die Koalitionsabkommen als Indikator für die künftige Politik der baden-württembergischen Landesregierung heran, so lässt sich eindeutig mit Veränderungen in den Politikinhalten rechnen: einigten sich CDU und FDP noch auf einen wirtschaftsliberale und gesellschaftspolitisch moderat-konservative Positionen beinhaltenden Koalitionsvertrag, so spiegelt das Abkommen von Grünen und SPD moderat-linke Positionen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wider und formuliert wesentlich progressivere gesellschaftspolitische Politikziele als das christlich-liberale Regierungsprogramm von 2006. Baden-Württemberg darf sich diesen Ergebnissen zu Folge in der Tat auf zahlreiche Reformen und Neuerungen in den kommen Jahren einstellen.

 

Gegen jede Regel

Der Koalitionsvertrag der ersten grün-roten Landesregierung steht. Er spricht sensible Themen an und formuliert Vorschläge, die so nicht zu erwarten waren. Das ist mutig, wenn man bedenkt, dass Grün-Rot schon für sich genommen ein Experiment ist – gerade in Baden-Württemberg. Die neue Regierung wird von allen Seiten besonders aufmerksam beobachtet und ihre Kritiker werden jede sich bietende Angriffsfläche nutzen. Genau genommen haben sie bereits damit begonnen.

Man hätte demnach vermuten können, dass sich die Koalitionäre in besonderer Weise darum bemühen würden, den Eindruck eines Übergangs zu vermitteln und den eines Umbruchs zu vermeiden. Dafür könnte man sich an den Lektionen orientieren, die sich aus den vergangenen Regierungswechseln im Bund und in den Ländern ableiten lassen. Schließlich bieten diese einen großen Fundus an Beispielen für gelungene und missglückte Starts von neuen Koalitionen. Auch wenn die inhaltlichen Fragen dabei sehr unterschiedlich gewesen sein mögen, scheinen sich doch ein paar Grundregeln für neue Regierungen abzuzeichnen.

Ein Katalog an Geboten für das „Regieren nach dem Wechsel“ könnte ungefähr so aussehen:

1. Macht Euch die Erfolge der Vorgängerregierung zu Eigen

Politische Maßnahmen wirken nur in den seltensten Fällen umgehend, oft liegen Monate oder Jahre zwischen dem Beschluss und messbaren Effekten. Das sogenannte „decision lag“ ist von Politikfeld zu Politikfeld unterschiedlich groß, beispielsweise wirken finanzpolitische Maßnahmen oft schneller als sozialpolitische. Die Vereinnahmung positiver Leitungen der Vorgängerregierung ist somit in vielen Fällen möglich und erfreut sich dementsprechend großer Beliebtheit.

2. Setzt Euch für die Startphase ein klares Programm und zieht es durch

Handlungsfähigkeit zu beweisen ist gerade für Parteien, die bisher nicht an der Regierung beteiligt waren, immens wichtig. Die Frage „Können die auch regieren?“ scheint allgegenwärtig. Entscheidend ist also nicht (nur), ob die zentralen Wahlkampfversprechen im Koalitionsvertrag auftauchen, sondern auch, ob sie umgesetzt werden.

3. Macht Euch bewusst, dass Euer Handlungsspielraum begrenzt ist

Die These vom Politik-Erbe wurde in diesem Blog bereits angesprochen. Über ihr tatsächliches Ausmaß besteht keine Einigkeit, Schätzungen besagen aber, dass Regierungen nur über einen sehr kleinen Anteil des Gesamthaushaltes frei verfügen können (einige nennen einen Wert von ca. fünf Prozent). Alle anderen Ausgaben sind durch verschiedenste Verpflichtungen (Sozialleistungen, Schuldendienst, politische Langzeitprojekte etc.) bereits vorgegeben.

4. Widmet Euch zunächst populären Themen

In jedem Wahlkampf gibt es eine Art „Gewinnerthema“, das zumeist durch Nachwahlbefragungen deutlich ausgewiesen wird. Wer dieses politische Vorhaben umsetzt, kann sich Kredit in der Bevölkerung erarbeiten. Dies gilt umso mehr, da es sich oft um Themen handelt, welche den Bürgerinnen und Bürger auch auf einer emotionalen Ebene wichtig sind. Dies bietet den Parteien die Chance, die eher kurzfristige themenspezifische Unterstützung in „diffuse“, langfristige Unterstützung zu transformieren.

5. Erhöht nicht die Steuern

Steuererhöhungen mögen in Einzelfällen in der Bevölkerung auf Verständnis stoßen, etwa wenn es um die Gegenfinanzierung erwünschter Reformprojekte geht. Hierfür ist jedoch große Überzeugungsarbeit zu leisten, da es immer Bevölkerungsgruppen geben wird, die durch derartige Maßnahmen schlechter gestellt werden und dies auch artikulieren. Umfragen deuten darauf hin, dass in Zeiten leerer Kassen generell eher Sparmaßnahmen als Steuererhöhungen akzeptiert werden.

Diese Liste beansprucht weder Vollständigkeit noch Allgemeingültigkeit, insbesondere bezieht sie sich auf das strategisch-taktische Verhalten einer neuen Regierung („Wie regieren?“) und nicht auf konkrete Sachentscheidungen („Was tun?“). Dennoch vermittelt der Blick auf die Vorhaben der künftigen Landesregierung in Baden-Württemberg unter diesen Gesichtspunkten den Eindruck, Grün-Rot breche mit den Regeln.

Erfolge der Vorgängerregierung: Mit umfangreichen Reformen in der Bildungspolitik und der Ankündigung einer ökologischen Trendwende in der Automobilbranche wagt sich die neue Regierung gleich an zwei Langzeit-Erfolgsthemen heran und stellt die auch im internationalen Maßstab erfolgreichen Konzepte in Frage.

Handlungsfähigkeit: Anstelle eines zünftigen „Durchregierens“ setzt die Regierung gleich zu Beginn beim Thema Stuttgart 21 auf einen Volksentscheid, gibt also ihre Entscheidungshoheit an die Bevölkerung ab.

Grenzen: Mit der Entscheidung, die Studiengebühren wieder abzuschaffen, und dem gleichzeitigen Versprechen, die fehlender Gelder durch Landesmittel aufzubringen, wird ein Handlungsspielraum suggeriert, der noch nicht gegenfinanziert ist.

Populäre Themen: Das „Gewinnerthema“ der Wahl war die Energiepolitik. Neben eher zurückhaltenden Äußerungen zum Zeitpunkt des Atomausstiegs kündigt die Regierung nun an, die Suche nach einem Endlager für Atommüll aufnehmen zu wollen, und nimmt dafür Skepsis in der Bevölkerung in Kauf.

Steuern: Der erste konkrete Vorschlag zur Finanzierung der Reformprojekte ist eine Steuererhöhung: Der Steuersatz für Grunderwerb soll steigen.

Warum also tut Grün-Rot das? Möglicherweise liegen ihrer Vorgehensweise nicht primär strategische und taktische Erwägungen zugrunde, sondern Überzeugungen. Das ist einerseits nicht ungefährlich, da auf diese Weise schnell Grundsatzfragen ins Zentrum der Debatte rücken können, bei denen die Kompromissfindung schwerfällt. Dadurch könnte schon der Start der neuen Legislaturperiode auch für die Regierung zum „Stresstest“ werden.

Andererseits entspricht das Vorgehen von Grünen und SPD dem Versprechen des designierten Ministerpräsidenten, einen neuen Politikstil etablieren zu wollen. Man darf in diesem Sinne gespannt sein, ob diese Koalition tatsächlich stilprägend sein wird.

 

Stuttgart 21 und die Geschichte vom Politik-Erbe

Wenn eine neue Regierung ins Amt kommt, hat sie typischerweise zunächst einmal primär mit den Maßnahmen der Vorgängerregierung zu kämpfen: Deren politisches Erbe tritt sie an. Die künftige Landesregierung von Baden-Württemberg hat sich insbesondere die Entscheidung zu Stuttgart 21 nicht leicht gemacht. Das Projekt war eines der zentralen Themen im Wahlkampf und dementsprechend konkret und ausdifferenziert waren die Positionen aller Parteien. Also wurde in den Koalitionsverhandlungen nun auch ein detaillierter Kompromiss gesucht, der die Wahlkampfankündigungen von Grünen und SPD reflektiert und somit keinen der beiden Koalitionspartner vor das Problem stellt, Wahlversprechen brechen zu müssen.

Dieser Drahtseilakt scheint gelungen zu sein: Der SPD-Forderung nach einer Volksabstimmung wurde entsprochen, zugleich haben die Grünen eine weitere Hürde eingezogen, die das Projekt nehmen muss: Wenn die Gesamtkosten 4,5 Mrd. Euro übersteigen, wird sich das Land an diesen Mehrkosten nicht beteiligen, wodurch das Projekt für die Bahn schnell deutlich an Rentabilität verliert. Hinzu kommt die Vereinbarung, dass das Quorum für Volksentscheide gesenkt werden soll.

Die Klausel, dass ein Drittel der Wahlberechtigten gegen das Projekt stimmen müsste, um es zu kippen, war ein Hauptgrund dafür, dass die Grünen zuletzt von der Idee einer Volksabstimmung Abstand genommen hatten. In der Tat scheint dies eine extrem hohe Hürde zu sein: Ein Drittel der Wahlberechtigten müsste beim Volksentscheid gegen das Projekt stimmen, um es zu stoppen, das wären ca. 2,54 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Die Grünen haben bei der Landtagswahl 1,21 Mio. Stimmen bekommen, die SPD 1,15 Mio. Das macht zusammen 2,36 Millionen – die Gegner von S21 müssten also mehr Stimmen bekommen, als Grüne und SPD bei der Landtagswahl zusammen (und diese 2,36 Mio. Stimmen haben immerhin für die Regierungsmehrheit gereicht).

Eine Absenkung des Quorums scheint also geboten. In Berlin liegt es beispielsweise bei 25 Prozent, was bereits als hoch empfunden wird; in Hamburg wurde die Schwarz-Grüne Schulreform erfolgreich verhindert, dafür war ein Quorum von 20 Prozent nötig. Ob sich die Opposition in Baden-Württemberg davon aber beeindrucken lassen wird, ist fraglich. Schließlich hatte Schwarz-Gelb noch vor Kurzem ebenfalls eine Absenkung des Quorums vorgeschlagen, war damit aber an der damaligen Opposition von SPD und Grünen gescheitert, die eine Abschaffung forderten.

Positiv aus Sicht der neuen Regierung ist bei alledem jedoch zumindest dies: Man hat einen Weg gefunden, die Entscheidung der Vorgängerregierung auf den Prüfstand zu stellen und die Bürger in diesen Prozess einzubeziehen. Damit befreit man sich von der Klammer des Politik-Erbes: Meistens sind Regierungen durch Entscheidungen ihrer Vorgänger so stark in ihren Handlungsspielräumen eingeschränkt, dass sie gar nicht die Möglichkeiten haben, substanzielle Änderungen vorzunehmen. Und wenn sie es doch tun, wie etwa die Bundesregierung mit dem Beschluss zur Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke, sind massive Widerstände und Einsprüche von allen Seiten vorprogrammiert.

Apropos Atomkraft: Umfragen zufolge war nicht S21, sondern der Atomausstieg das entscheidende Thema der Landtagswahl. Hier sieht sich die künftige Regierung vor der Herausforderung, Kraftwerke abschalten zu wollen und zugleich Anteilseignerin beim Kraftwerksbetreiber EnBW zu sein. Diese Situation beinhaltet Konfliktpotenzial. Über den Einstieg bei EnBW hat übrigens kurz vor der Wahl die alte Landesregierung entschieden: Also doch wieder die alte Geschichte vom Politik-Erbe …