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Zeit für Kampagnen!

AndreaDie Zahlen der Umfrageinstitute sehen Hannelore Kraft auf den letzten Metern im Wahlkampf knapp vorne: Im direkten Vergleich mit Rüttgers schneidet sie laut aktuellem Politbarometer mit 43% zu 41% besser ab als der Ministerpräsident, der somit seinen Amtsbonus vollständig eingebüßt zu haben scheint. Dies ist beachtlich, im Nachgang des Fernsehduells aber nicht wirklich verwunderlich. Wie wir aus empirischen Arbeiten wissen (siehe auch den Beitrag von Thorsten Faas in diesem Blog), dienen Fernsehduelle gerade in Landtagswahlkämpfen dazu, den Bekanntheitsgrad des Herausforderers zu steigern. Seit Mitte März konnte Hannelore Kraft folgerichtig 12 Prozentpunkte zulegen.

Aber es geht um mehr als die reine Sichtbarkeit der Kandidaten oder die Frage nach dem direkten Vergleich: Entscheidend ist die wahrgenommene Problemlösungskompetenz zu den drängenden Problemen des Landes. Und hier zeigt sich das eigentlich Erstaunliche in den Umfragedaten: In den drei relevanten Themenbereichen Bildung, Arbeitslosigkeit und Wirtschaft ist das Bild uneinheitlich und die Kandidaten liegen sehr eng beieinander. Im Bereich der Bildung wird der SPD mit Hannelore Kraft eine größere Kompetenz zugesprochen, Rüttgers‘ CDU punktet hingegen beim Thema Wirtschaft. Dies alles deutet darauf hin, dass der Wahlausgang absolut offen ist, zumal auch keine der präferierten Koalitionen – Schwarz-Gelb oder Rot-Grün – derzeit eine Mehrheit hätte.

Mit anderen Worten: Hinten werden die Enten fett, der Wahlausgang entscheidet sich auf der Zielgeraden. Nach aktuellen Umfragen sind 37 % der Wählerinnen und Wähler in NRW unentschlossen – was für ein Potential für Wahlkämpfe!

Alle Parteien brauchen nun eine passende Wahlkampfstrategie: Die SPD muss ihre steigenden Umfragewerte und die neue Popularität von Hannelore Kraft nutzen, um die enttäuschte SPD-Basis zu mobilisieren und in einer Woche an die Urnen zu bringen. Möglicherweise trägt dazu auch die skandalangehauchte CDU bei, welche die SPD-Anhänger „fremdmobilisieren“ könnte. Die Union scheint auf den ersten Blick in einer schwierigeren Lage zu sein, da sie und ihr Spitzenkandidat zugleich mobilisieren und deeskalieren müssen. Viel wird hier darauf ankommen, den richtigen Ton zu treffen.

Andererseits sollte man aber auch nicht vergessen, dass Jürgen Rüttgers als Ministerpräsident auch auf den letzten Metern noch seinen Amtsbonus ausspielen könnte, falls es ihm gelingt, das passende Thema zu platzieren. Das Rennen scheint offener denn je, eine Woche vor der Wahl kommt es auf die richtige Kampagne an…

 

Wer mit wem in NRW? Was der Wahl-o-mat sagt

Keine Wahl ohne Wahl-o-mat: Nun ist auch zur Landtagswahl in NRW das „Informationsangebot über Wahlen und Politik“ online gegangen. Er soll die Wahlberechtigten dabei unterstützen, eine sinnvolle Wahlentscheidung zu treffen. Aber er kann auch den Parteien helfen zu erkennen, mit welchen anderen Parteien sie die größte (inhaltliche) Übereinstimmung haben.

Wie funktioniert der Wahl-O-Mat? 38 Thesen wurden den Parteien in NRW für die neueste Version des Informationsangebots vorgelegt. Als Antwortoptionen standen zur Verfügung: “dafür”, “dagegen” oder “neutral”. Mit Hilfe der Antworten lässt sich nun leicht feststellen, wer mit wem in welchem Maße übereinstimmt. Die folgende Grafik zeigt dies anhand eines einfachen “Übereinstimmungsindex” für Parteipaare (*):

Bei der Bundestagswahl sah das Bild noch so aus:

wahlomat

Was also schon bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr galt, wird jetzt in NRW noch deutlicher sichtbar, zumindest auf Basis der 38 Thesen: Es gibt weiterhin zwei Lager – und Brücken zwischen diesen gibt es kaum: Ob zwischen Grünen und FDP, zwischen SPD und FDP, CDU und Grünen oder auch CDU und SPD: Inhaltliche Übereinstimmungen sind jeweils in der Mehrheit Minderheit. Und dies ganz im Gegensatz zu den Übereinstimmungen zwischen CDU und FDP auf der einen, SPD, Grünen und Linken auf der anderen Seite.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

 

Bestenfalls egal: Skandale eignen sich einfach nicht für Wahlkämpfe

AndreaFast möchte man es mit einem Stoßseufzer untermalen: Es ist wieder Wahlkampf, diesmal in Nordrhein-Westfalen. Und eigentlich kommt er für alle Parteien zu früh. Union und FDP befinden sich noch immer in der Findungsphase und können keine Erfolge vorweisen. Die SPD musste vor kurzem den empfindlichsten Rückschlag ihrer Geschichte wegstecken und ist von ihrem alten Kampfgewicht meilenweit entfernt. Die Linke muss möglicherweise sogar um den Einzug ins Parlament bangen. Und die Grünen sollten ausdiskutieren, wo sie wirklich stehen, bevor sie mit wackeligen Koalitions(nicht)aussagen in alle Richtungen werben. Sprich: Eigentlich wollen die Beteiligten diesen Wahlkampf gar nicht führen, aber genau deswegen müssen sie es umso mehr. Denn auch wenn es wenig zu gewinnen gibt, steht viel auf dem Spiel: die Mehrheit der schwarz-gelben Koalition im Bundesrat und damit um Wohl und Wehe der zentralen Reformprojekte der Regierung Merkel II.

Dies ist ein Dilemma, für das es in politischen Kreisen einen beliebten (Schein-)Ausweg gibt: Man attackiert den Gegner umso schärfer, auch auf einer persönlichen Ebene, und skandalisiert sein Tun, um so seine generelle Wählbarkeit in Frage zu stellen. Dankbare Ziele für diese Strategie gaben jüngst etwa FDP-Chef Guido Westerwelle und NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ab. So könnte man meinen, dass solche vermeintlichen Skandale der Opposition sehr gelegen kommen. Natürlich: Sie kann die Wähler auf einer emotionalen Ebene ansprechen und öffentlichkeitswirksam den Rücktrittsforderungen aussprechen. Ist dies aber ein echter Vorteil, möglicherweise gar ein veritables Gegengewicht zum Amtsbonus der Regierung? Sehr wahrscheinlich nicht!

Erstens können Wahlkämpfe nicht nur auf den Gegner ausgerichtet werden. Moderne Kampagnen sind minutiös durchorganisierte Projekte, an denen Werbeagenturen, politische Berater und Medienexperten engmaschig rund um die Uhr arbeiten. Spontane Verschiebungen, etwa in Reaktion auf Fehler des politischen Gegners, sind da zwar möglich. Sie können aber nicht das Wesen der gesamten Kampagne verändern, da Partei und Kandidat ansonsten unglaubwürdig werden. Zweitens produzieren Skandale nur Verlierer, keine Sieger. Sie tragen zum allgemeinen Phänomen der Politikverdrossenheit bei, weil sich in der Bevölkerung (oft zurecht!) die Meinung durchsetzt, dass es wohl nicht um einen Einzelfall, sondern eher um die Spitze eines Eisbergs handelt. Es ist nicht wichtig, wer einen Skandal verursacht hat, und keine Partei profitiert davon – Leidtragende ist die Politik als solche, der die Bürger nicht mehr vertrauen. Drittens lassen sich die Wählerinnen und Wähler nicht blenden. Natürlich orientieren sie sich an den handelnden Personen und dabei spielt sicherlich auch deren moralisches Verhalten eine große Rolle. Die Wahlentscheidung ist aber immer von den Themen abhängig, die den Wahlkampf bestimmen.

Natürlich treffen Skandale einen empfindlichen Nerv und können die Einstellungen der Menschen über einen gewissen Zeitraum hinweg prägen. Ein wirklich wahlentscheidender, „perfekter“ Skandal müsste eine Vielzahl von Kriterien erfüllen: kurz vor der Wahl aufgedeckt werden, eindeutig nur dem politischen Gegner zuzuschreiben sein, in die eigene Wahlkampfstrategie passen und nicht durch andere Großereignisse überdeckt werden. Die Barschel-Affäre 1987 in Schleswig-Holstein mag dieser Idealsituation nahe gekommen sein, der damalige Ministerpräsident hatte ganz eindeutig rechtliche und moralische Grenzen überschritten. Die aktuelle Diskussion in NRW um gekaufte Gesprächstermine mit dem Ministerpräsidenten hat jedoch nicht annähernd diese Dimension und wird am Wahltag verpufft sein.

Das soll nicht bedeuten, dass diese Vorgänge nicht wichtig wären. Es besteht eindeutiger und umfassender Klärungsbedarf. Die Opposition sollte aber dringend davon Abstand nehmen, die Skandalisierung zu betreiben. Das wird ihr nicht helfen. Wenn überhaupt, wird es das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die Politik weiter schwächen. Und das kann kein legitimes Ziel von Wahlkämpfen sein.

 

Koalitionspoker in Nordrhein-Westfalen: was passiert, wenn Schwarz-Gelb die Mehrheit in Düsseldorf verliert?

Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Anfang Mai diesen Jahres steht im Zentrum der Aufmerksamkeit der Parteien wie auch der politischen Beobachter. Dies hat mit einer Vielzahl von Gründen zu tun. Erstens ist bei einer Niederlage für CDU und FDP in Düsseldorf die Mehrheit der Bundesregierung in der Länderkammer dahin, was das „Durchregieren“ des Kabinetts Merkel/Westerwelle deutlich erschweren würde. Zweitens bleibt abzuwarten, in welchem Ausmaß sich die Sponsorenaffäre um Ministerpräsident Jürgen Rüttgers und die NRW-CDU auf den weiteren Verlauf des Wahlkampfs und schließlich auf das Wahlergebnis auswirken wird. Drittens ist die Landtagswahl an Rhein und Ruhr ein erster Test für die nicht allzu glücklich agierende Bundesregierung. Zudem ist Nordrhein-Westfalen aufgrund seiner Stellung als einwohnerstärkstes Bundesland von großer Bedeutung im föderalen System Deutschlands sowie für den bundesdeutschen Parteienwettbewerb. So wurden bereits verschiedene Koalitionsoptionen in Nordrhein-Westfalen auf ihre „Tauglichkeit“ hin getestet, bevor sie von den Parteien in Bonn oder Berlin als Regierungskoalition installiert wurden. Beispiele hierfür sind etwa die von 1956 bis 1958 bestehende sozialliberale Koalition in Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Steinhoff (SPD) sowie das rot-grüne Bündnis, das Johannes Rau nach dem Verlust der absoluten Mandatsmehrheit im Landtag 1995 eingehen musste.

Jüngste Umfragen wie die des ZDF-Politbarometers vom 19. März machen in der Tat deutlich, dass es für schwarz-gelb knapp werden wird. Momentan würden Union und FDP im Landtag von Nordrhein-Westfalen keine Mehrheit erreichen. Damit gewinnt die schon seit Wochen virulente Koalitionsdebatte noch mehr an Fahrt. Auf der Grundlage der bislang vorliegenden Statements der Parteien können nur solche Koalitionen ausgeschlossen werden, die CDU, FDP und die „Linke“ umfassen würde. Zwar präferieren Union und Liberale eine Neuauflage der amtierenden schwarz-gelben Koalition, allerdings haben Bündnisgrüne wie auch die Christdemokraten in NRW ein gemeinsames Regierungsbündnis nicht ausgeschlossen. Auch die FDP hat – überraschenderweise – bislang die Bildung einer Ampelkoalition mit Sozialdemokraten und Grünen nicht a priori abgelehnt. Dies gilt auch für eine Koalition aus SPD, Grünen und der „Linken“. Zwar werden letztere nicht als besonders regierungsfähig von Sozialdemokraten wie Grünen wahrgenommen, aber ein solches Bündnis ausschließen will die SPD-Spitzenkandidaten Hannelore Kraft wie auch die Führung der Grünen nicht.

Wie wahrscheinlich sind aber nun all diese Koalitionsmöglichkeiten? Auf der Grundlage aller Regierungsbildungen in Bund und Ländern seit 1990 lassen sich mit Hilfe multivariater statistischer Analysen die Determinanten der Koalitionsbildung in Deutschland ermitteln und auf dieser Basis auch die Wahrscheinlichkeiten für alle potentiell möglichen Koalitionen berechnen. In die Berechnung fließen die Stärke der Parteien im Parlament, ihre programmatischen Positionen, die anhand einer Analyse der Landtagswahlprogramme gewonnen werden, die Koalitionsaussagen der Parteien sowie die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ein. Für Nordrhein-Westfalen wird die Sitzverteilung im neuen Landtag anhand der Ergebnisse des ZDF-Politbarometers vom 19. März berechnet. Die Landtagswahlprogramme der Parteien liegen bei CDU, SPD, FDP, den Grünen und der Linken entweder als Entwurf oder bereits in endgültiger Form vor.

Im Rahmen dieses Blogs wurde dieses Verfahren bereits für die Landtagswahlen in Brandenburg, dem Saarland und in Thüringen im letzten Herbst mit Erfolg durchgeführt: die schließlich gebildeten Koalitionen wiesen in zwei der drei Bundesländer – in Thüringen und dem Saarland – die höchste Wahrscheinlichkeit auf (vgl. Bräuninger/Debus 2009). Für Nordrhein-Westfalen ergibt sich das in der folgenden Tabelle abgetragene Bild.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionsoptionen in Nordrhein-Westfalen

Koalitionsoption Wahrscheinlichkeit
CDU und Bündnis 90/Die Grünen 64,3%
CDU und SPD 29,5%
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linke 2,8%
SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen 1,2%

 

Den Ergebnissen zufolge wäre – für den Fall, dass Union und FDP eine Mehrheit im Landtag verfehlen würden – eine schwarz-grüne Koalition die mit Abstand wahrscheinlichste Koalitionsoption nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Ein Bündnis der beiden großen Parteien CDU und SPD würde auf Platz 2 mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 30% landen, während ein Linksbündnis wie auch eine „Ampelkoalition“ mit 2,8% bzw. 1,2% äußerst unwahrscheinlich sind. Ein Grund für die Unwahrscheinlichkeit der „Ampel“ ist der große Gegensatz zwischen SPD und Grünen in wirtschaftspolitischen Fragen auf der einen und den Freidemokraten auf der anderen Seite. Die NRW-CDU ist hingegen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sehr moderat ausgerichtet, so dass die Übereinstimmung mit mit Grünen oder SPD größer ist. Sollte also schwarz-gelb in Düsseldorf keine Mehrheit erreichen, dann könnte NRW nach Hamburg das zweite Bundesland werden, in dem CDU und Grüne gemeinsam die Regierung stellen. Ob das dann ein Zeichen für den Bund ist, bliebe dann abzuwarten.

Literatur
Bräuninger, Thomas & Marc Debus (2009): Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Jamaika oder die Ampel? Koalitionsbildungen in Bund und Ländern im Superwahljahr 2009. Zeitschrift für Politikberatung 2: 3, 563-567. [http://dx.doi.org/10.1007/s12392-009-0215-2]

 

Money makes the world go round, oder: Rüttgers und der gekaufte Zugang zur Macht

Andrea„Unternehmermillionen kaufen politische Macht“ – so lautet der Titel einer 1953 vom SPD-Parteivorstand herausgegebenen Denkschrift. Schon immer hat das Thema des gekauften Zuganges die Parteienfinanzierung umgetrieben. In den 60er Jahren finanzierte sich die CDU/CSU noch zu etwa 30% aus Unternehmensspenden, ähnlich auch die FDP. Dieser Anteil ist aufgrund der umfassenden staatlichen Finanzierung, die mit dem Parteien(finanzierungs)gesetz seit 1967 gewährleistet wird, deutlich zurückgegangen – allerdings eben nicht vollständig. Somit ist auch das Gebaren der NRW-CDU nicht per se zu verurteilen, schließlich stützen sich alle im Bundestag vertretenen Parteien auf Zuwendungen von Unternehmen. Umgekehrt spenden einige Unternehmen auch an mehrere Parteien, beispielsweise kann in einer Bundestagsdrucksache nachgelesen werden, dass die Daimler AG im Jahr 2009 sowohl CDU als auch SPD 150.000 Euro zukommen ließ. Das Netz von Spendern und Empfängern ist also komplex und bildet damit einen Teil der politischen Praxis in Deutschland ab.

Halten wir also fest: Verwerflich ist nicht die Spende. Verwerflich ist die Gegenleistung, die von der CDU in NRW angeboten wurde, nämlich der Gesprächstermin in kleiner Runde. Diese Praxis hebelt demokratische Gleichheitsgrundsätze aus – auch in diesem Blog wurde bereits darauf hingewiesen, dass Spenden von juristischen Personen einen Beigeschmack haben. Gepaart mit der Möglichkeit, in einem Gespräch direkten oder indirekten Einfluss auf Regierungshandeln nehmen zu können, ist dieses System hochgradig bedenklich. Denn dass es ein Bedürfnis von Wirtschaftsvertretern gibt, mit Politikern in vertrauter Runde Gedanken auszutauschen, zeigt nicht zuletzt der boomende Zweig der Politikberatung, der sich „Public Affairs“ nennt und auf diese Art der Vermittlung, Übersetzung und Zusammenführung von wirtschaftlichen und politischen Akteuren spezialisiert ist. Die Branche selbst ist sich darüber im Klaren, welche Assoziationen Begriffe wie „Lobbying“ hervorrufen, und diskutiert immer wieder lebhaft Selbstverpflichtungen, um „aus dem Schatten“ zu treten. Wenn der Wirtschaft nun aber seitens der Politik direkte Einflussmöglichkeiten angeboten werden, die alles übertreffen, was Agenturen arrangieren könnten, führt dies die dringend nötigen Transparenzdiskussionen ad absurdum.

Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Unternehmermillionen kaufen politische Macht. Denkschrift, Frankfurt, 10. Mai 1953.

Lars Großkurth: Aus dem Schatten: Lobbyingregulierung als Wettbewerbstool. Zeitschrift für Politikberatung 1(1), 2008.

 

Die NRW-Landtagswahl im deutschen Föderalismus

Nils Bandelow

Am 9. Mai wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Die Wahl ist die Grundlage für die spätere Bildung der Regionalregierung in dem bevölkerungsstärksten Bundesland Deutschlands. Aber gibt es in Deutschland überhaupt so etwas wie „Regionalwahlen“? Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ist wichtig. Vielleicht ist sie wichtig für die Bildungspolitik in NRW. Studiengebühren, das Schulsystem – und (nicht ganz unabhängig von Bildung) – auch die unbelehrbaren Raucher in den Kneipen zwischen Bielefeld und Bonn könnten vom Ergebnis betroffen sein.

Trotz aller Föderalismusreformen bleibt die Landtagswahl in NRW aber in erster Linie eine Wahl zur Bundespolitik. Sie ist es schon unabhängig vom Ergebnis: Nie war es so deutlich wie jetzt (obwohl auch frühere Regierungen derselben Logik gefolgt sind): Reformen auf Bundesebene, die vielen schaden und wenigen nützen, macht man nach  Landtagswahlen – und nicht davor. Aber wie wird sich die Wahl inhaltlich auswirken? Nun, es könnte sein, dass sich nichts verändert. Wenn die „christlich-liberale“ Regierung auch in NRW bestätigt würde, dann wären Jürgen Rüttgers und Andreas Pinkwart gestärkt. Die Bundeskanzlerin und ihr Außenminister hätten dann für die Zukunft jeweils einen wichtigen internen Rivalen behalten.

Die Alternative ist jede andere Koalitionsregierung in NRW. Sollte eine der Oppositionsparteien – egal  welche – an der Landesregierung beteiligt werden, dann sind die Gewinner: Bündnis 90/Die Grünen. Das gilt selbst für den (unwahrscheinlichen) Fall einer rot-roten Landesregierung, selbst dann, wenn die Grünen den Einzug in den Landtag verpassen würden. Wieso das? Bisher verfügen schwarz-gelbe Landesregierungen insgesamt über eine theoretische knappe Mehrheit im Bundesrat. Die Mehrheit ist theoretisch, weil die Kammer der Landesregierungen selten ausschließlich nach parteipolitischen Vorgaben entscheidet. Aber bisher reicht es eben, wenn Merkel und Westerwelle ihre Leute hinter sich bringen. Dann – und nur dann – können sie jedes Gesetz und jede Verordnung verabschieden, solange das Grundgesetz unberührt bleibt.

Dies kann sich nach der „Landtagswahl“ in NRW ändern. Die Anführungsstriche sollen verdeutlichen: Hier handelt es sich um eine Wahl, deren Bedeutung für den Bund wichtig ist. Nicht nur, weil sie ein Signal sendet, und eine Rückmeldung gibt, für die bisherige Arbeit der Regierung.

Die wichtigste Bedeutung der Landtagswahl in NRW liegt darin, dass sie die schwarz-gelben Landesregierungen um ihre Mehrheit im Bundesrat bringen kann. Um eines klar zu stellen: Das heißt nicht, dass „die Opposition“ dann eine Mehrheit im Bundesrat hätte, auch nach der NRW-Wahl werden unionsgeführte Regierungen eine Mehrheit im Bundesrat stellen. Diese Mehrheit braucht die Opposition aber auch nicht. Koalitionen auf Landesebene pflegen zu vereinbaren, dass sie sich bei Unstimmigkeiten im Bundesrat der Stimme enthalten. Da Enthaltungen (auch nach dem gescheiterten Vorstoß von Wolfgang Schäuble, dies zu ändern) bei der Gesetzgebung des Bundes weiterhin wie Nein-Stimmen zählen, fehlt jedem Regierungsentwurf für ein zustimmungspflichtiges Gesetz die Mehrheit im Bundesrat. Konkret heißt das: Nicht nur knapp die Hälfte aller Gesetzesvorhaben der Bundesregierung drohen zu scheitern, sondern es sind vor allem die zentralen Reformen, die eine Zustimmung durch die Länderkammer benötigen.

Was würde das politisch bedeuten? Die Bundesregierung bräuchte die Zustimmung von Landesregierungen, an denen mindestens eine Oppositionspartei beteiligt ist. Und dabei würde die Zustimmung der Länder Hamburg und Saarland reichen – in beiden Ländern sind die Grünen an den Landesregierungen beteiligt. Inhaltlich heißt das: Die schwarz-gelbe Bundesregierung würde in wichtigen Fragen zu „Jamaika“ mutieren. Die Alternative wäre es, mit der SPD zu verhandeln – hier wäre der Preis gegenwärtig wohl noch höher.

Die Grünen werden also plötzlich in der Lage sein, einen Preis zu verlangen, um schwarz-gelb entscheidungsfähig zu halten. Wie wird dieser Preis aussehen? Er könnte generelle Forderungen enthalten, etwa das Festhalten am Zeitplan für den Atomausstieg. Die Grünen könnten auch „billige“ Forderungen stellen, etwa in der Gleichstellungspolitik. Dies wäre „billig“, weil wesentliche grüne Positionen längst von führenden Vertreterinnen der Bundesregierung geteilt werden.

Wahrscheinlicher sind aber Tauschvereinbarungen, die jedes einzelne Politikfeld betreffen. Denn auch wenn im Bundesrat Parteienvertreter sitzen und man dann die Grünen braucht: Einen neuen förmlichen Koalitionsvertrag wird es nicht geben. Jedes einzelne Gesetz muss so gestrickt sein, dass die Grünen in Hamburg und im Saarland zustimmen können. Das heißt etwa in der Gesundheitspolitik: Es wird Forderungen nach einer Stärkung von Qualitätssicherung und (nichtmedizinischer) Prävention geben – und diese werden auch erfüllt werden. In der Verkehrspolitik werden sich die Grünen für ein Nachhaltigkeitskonzept einsetzen, das nicht allein technische Lösungen sondern auch Verhaltenssteuerungen beinhaltet.

Insgesamt wird sich nicht nur der Inhalt der Bundespolitik ändern. Die neuen Machtverhältnisse werden alle Beteiligten auf die Probe stellen: Sind die Grünen bereit für Jamaika? Wird sich ein Bündnis mit den Grünen in der CDU durchsetzen lassen? Wie wird die Kanzlerin mit den zu erwartenden Widerständen aus FDP und CSU umgehen? Die Landtagswahl in NRW ist somit spannend. Sie wird nicht nur die Machtverhältnisse auf Bundesebene nachhaltig mitbestimmen, sondern auch die Weichen für die zukünftige Entwicklung unseres Parteiensystems stellen.

 

Krise oder Niedergang der Sozialdemokratie? Ein Blick über den nationalen Tellerrand

Nils Bandelow

Die jüngsten Umfragen scheinen der SPD nach den Wahldesastern von 2009 wieder ein wenig Hoffnung zu machen. Zwar liegen die Werte bei den meisten Meinungsforschungsinstituten nur knapp über dem historischen Tiefstwert der letzten Bundestagswahl (23 Prozent), aber Regierungsbeteiligungen scheinen immerhin wieder möglich (und ein Wahlsieg im Mai in NRW für die SPD greifbar). Dies liegt vor allem am Umfragetief der FDP und dem Hoch von Bündnis 90/Die Grünen. Jenseits dieser kurzfristigen Umfragetrends stellt sich die Frage, ob der seit 1998 anhaltende kontinuierliche Niedergang der ehemaligen Großpartei SPD noch aufzuhalten ist. Waren die Wähler- und Mitgliederverluste der deutschen Sozialdemokratie die Folge langfristig anhaltender Entwicklungen, oder drücken sie kurzfristige situative Bedingungen, Stimmungen oder auch strategische Fehler der Partei aus?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick in das westeuropäische Ausland. Dort finden sich Schwesterparteien der SPD, die mit ähnlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Trends konfrontiert sind – und mit unterschiedlichen inhaltlichen Strategien, Wahlkampfkonzepten und Spitzenkandidaten reagiert haben. Gerade im Hinblick auf die innerparteilichen Flügelkämpfe in der SPD ist es spannend, ob sich in den Nachbarländern Hinweise für eine sozialdemokratische Erfolgsstrategie finden lassen.
Der Niedergang der Sozialdemokratie ist ein EU-weiter Trend. In den 1990er Jahren gelangten in vielen westeuropäischen Demokratien sozialdemokratisch geführte Regierungen an die Macht. Fast überall folgte ein bis heute anhaltender Wähler- und Mitgliederschwund. Gemessen an manchen Erklärungen liegen Erfolg und Misserfolg zeitlich zu eng beieinander. Daher können langfristige Entwicklungen wie die vielbeschworene Erosion des gewerkschaftlichen Arbeitermilieus den rasanten Stimmenverlust ebenso wenig allein erklären wie wirtschaftliche Globalisierung oder demographische Veränderungen.
Überraschend ist, wie stark die sozialdemokratischen Erfolge und Misserfolge der westlichen EU-Länder zeitlich korrelieren – obwohl sich die Ausgangslagen und Strategien deutlich unterscheiden. Die Entwicklung betrifft kontinentaleuropäische Länder wie Deutschland und Frankreich auf den ersten Blick gleichermaßen – obwohl die französischen Sozialisten in dem Ruf stehen, als „Traditionalisten“ eine weitaus größere Nähe zu ihrer Stammklientel bewahrt zu haben als die SPD. Auf der anderen Seite waren Vorzeigestaaten der „Modernisierer“ wie die Niederlande (trotz der jüngsten Rückkehr der Sozialdemokratie als Juniorpartner auf die Regierungsbank) von einem dramatischen Stimmenverlust betroffen. Ähnliches steht der Labour Party in wenigen Monaten wahrscheinlich bevor. Selbst sozialdemokratisch geführte Regierungen in Ländern mit (ehemals) ausgeprägtem Wohlfahrtsstaat, starken Gewerkschaften und wirtschaftlichen Erfolgen wie Dänemark und Schweden haben erdrutschartige Niederlagen verkraften müssen.
Ein qualitativer Vergleich führt uns bei der Suche nach Erklärungen zu folgenden Thesen:
• Für den Wahlerfolg sozialdemokratischer Parteien ist der Zusammenhang zwischen dem nationalen Wahlrecht und der inhaltlichen Strategie wichtig: Zumindest kurzfristig begünstigt ein Mehrheitswahlrecht (wie in Großbritannien) Parteien, deren Strategie auf potentielle Wähler des wichtigsten Konkurrenten ausgerichtet ist. In Ländern mit proportionalem Wahlrecht und daraus resultierenden Koalitionszwängen begünstigt diese Strategie (die Kern des „Dritten Wegs“ der sozialdemokratischen Modernisierer ist) dagegen Wahlerfolge kleiner Parteien.
• Moderne (nicht nur) sozialdemokratische Parteien setzen stark auf die Medienwirkung ihrer jeweiligen Spitzenkandidaten. Die Abhängigkeit von der Ausstrahlung eines Tony Blair, Gerhard Schröder, Lionel Jospin, Wim Kok oder Poul Nyrup Rasmussen erschwert die Profilbildung möglicher Nachfolger. Es ist kein Zufall, dass den Medienhelden oft blasse Technokraten wie Frank-Walter Steinmeier oder Gordon Brown gefolgt sind. Ebenso wenig zufällig ist es, dass diesen Vertretern der zweiten Garde durchgängig eine Fortsetzung der Wahlerfolge verwehrt bleibt. Die Wiederkehr sozialdemokratischer Regierungen setzt daher mittelfristig eine personelle Erneuerung voraus.
• In allen Ländern hat die Sozialdemokratie ihre bisherige Problemdefinition verändert. Im Keynesianismus der 1970er Jahre sollten der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die Besserstellung unterer Vermögens-, Einkommens- und Bildungsschichten Vorrang haben vor Inflationsbekämpfung und Leistungsanreizen. Heute werden nicht mehr Arbeitslosigkeit und Inflation als Alternativen diskutiert. Politik vollzieht sich vielmehr als Suche nach Lösungen im magischen Dreieck von kurzfristiger Wachstumspolitik, langfristiger Infrastrukturpolitik (zu der vor allem Investitionen in die Bildungs- und Forschungsinfrastruktur zu zählen sind) und Begrenzung der Staatsverschuldung. Hauptproblem der Sozialdemokratie ist, dass ihr überall inhaltliche Alleinstellungsmerkmale fehlen. Langfristig wird auch die Sozialdemokratie definieren müssen, für welche eigenen Kernüberzeugungen sie stehen will. Dies ist kein einfacher Prozess, da überall Konkurrenten lauern: Bei „Gerechtigkeit“ (Linke), „Umwelt“ (Grüne), „Wettbewerb“ (Liberale) und selbst „Pragmatismus“ (Christdemokraten/Konservative/Gaullisten etc.) kann man jeweils nur als Kopie auftreten.
• Anders als fast alle anderen sozialdemokratischen Parteien verzeichnen ausgerechnet die vergleichsweise traditionalistischen französischen Sozialisten keinen Stimmenverlust. Im Gegenteil: Bei Wahlen zur Nationalversammlung konnte die PS seit 1993 ihren Stimmenanteil sogar kontinuierlich geringfügig steigern. Es bleibt Spekulation, wie die Lage der Partei aussehen würde, wenn 2002 der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen nicht zum überraschenden Ausscheiden von Jospin geführt hätte. Bei der Interpretation der französischer Wahlen bleibt auch wegen des speziellen Regierungs-, Wahl- und Parteiensystems Raum für unterschiedliche Interpretationen. Es drängt sich aber die These auf, dass die PS davon profitiert hat, weniger eindringlich vorgebliche Sachzwänge für einen Umbau des Sozialstaats argumentiert zu haben. Alle Parteien können daraus lernen, dass nicht nur ein eigener inhaltlicher Markenkern langfristig unverzichtbar ist. Notwendig ist auch eine Wahlkampfkommunikation, die aktiv um die Deutungshoheit in Übereinstimmung mit dem eigenen Programmkern bemüht ist. Der kurzfristige Kampf um Stimmen von Wählern mit anderen Überzeugungen führt langfristig zur Verwässerung der eigenen Identität.
• Wahlsieger waren in fast allen Ländern rechtsliberale Parteien, linke Konkurrenten der Sozialdemokratie und Rechtspopulisten. Die Besonderheit Deutschlands liegt daher bisher nicht in den sozialdemokratischen Wahlergebnissen, sondern im Ausbleiben größerer Erfolge rechtsradikaler Parteien. Eine mögliche Erklärung liegt in den Wahlkampfthemen: Moderne sozialdemokratische Parteien haben in vielen EU-Ländern nicht nur Konflikte in der Sozial-, Wirtschafts- und Militärpolitik zu bewältigen. Auch die Europapolitik und die Einwanderungspolitik sind zentrale Konfliktfelder. Diese Themen sind im deutschen Parteienwettbewerb (noch) vergleichsweise tabuisiert. Sollte sich das ändern, könnte auch hierzulande das Risiko rechtspopulistischer Wahlerfolge wachsen.
Fazit: Mit personeller Erneuerung und attraktiven neuen Spitzenkandidaten werden mittelfristig sozialdemokratische Wahlerfolge wieder wahrscheinlicher. Für eine langfristige Etablierung sozialdemokratischer Parteien ist aber mehr notwendig als mediengerechte Wahlkämpfer oder die Kopie inhaltlicher Strategien anderer Parteien. Die Herausforderung besteht in der Entwicklung eines eigenen inhaltlichen Kerns und der widerspruchsfreien Orientierung von Mitgliederschaft, Parteistruktur und Wahlkampf auf diesen Kern. Bisher ist allerdings nicht absehbar, worin dieser neue Markenkern bestehen könnte.

 

Menschenwürde lässt sich nicht pauschalieren: Was das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV für die Sozialpolitik bedeutet

StruenckWieder einmal kommt Wegweisendes aus Karlsruhe. Mit ihrem Urteil zur Berechnung der Regelsätze des Arbeitslosengeldes II („Hartz IV“) haben die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts neben vielen Details eine zentrale Richtlinie vorgegeben: Pauschale Sozialleistungen, die das Existenzminimum sichern sollen, können nur „den durchschnittlichen Bedarf“ decken. Es gebe jedoch in Einzelfällen auch einen besonderen Bedarf, der „unabweisbar“ und „laufend“ sei, heißt es in der Urteilsbegründung.
Diese Richtlinie hilft zum Beispiel chronisch Kranken, die in Zukunft zusätzliche Leistungen bekommen werden, genau wie auch schulpflichtige Kinder. Diese Richtlinie relativiert aber auch ein zentrales Ziel der früheren Gesetzgebung, als Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen gelegt wurden. Denn unter anderem sollte die Auszahlung der Sozialleistungen massiv vereinfacht werden. Zuvor berechnete sich die alte Arbeitslosenhilfe nach dem früheren Einkommen. Also mussten jeweils individuelle Ansprüche ermittelt werden. Das kostete Geld und Personal.
Als das Arbeitslosengeld II eingeführt wurde, gab es nur noch pauschale Regelsätze plus zusätzliche Leistungen wie Wohngeld und einige Sonderbedarfe. Die früheren Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosenhilfe waren im Grunde die Verlierer der Reform.
Doch dem Bundesverfassungsgericht ging es weniger um bestimmte soziale Gruppen, sondern um den Einzelnen und seine Menschenwürde. Sie zu bewahren, hängt vom konkreten Bedarf im Einzelfall ab. Pauschale Sozialleistungen passen nicht zu einer Grundsicherung, die ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren soll.
So weit, so klar. Wegweisend sind in Karlsruhe allerdings nicht nur einige Urteile, sondern auch deren Widersprüche. Sie sorgen meist dafür, dass so gut wie alle mit dem Urteil leben können, zum Beispiel auch die Bundesregierung. Denn an anderen Stellen haben die Richterinnen und Richter festgestellt, dass die derzeitigen Regelsätze nicht zu gering seien, um das physische Existenzminimum zu sichern. Ist das wirklich ein Widerspruch?
Wichtig ist die Betonung des „physischen“ Existenzminimums. Im Sozialrecht ist allerdings vielfach davon die Rede, dass das „sozio-kulturelle Existenzminimum“ gesichert werden solle. Die Richterinnen und Richter verwenden den Begriff des „menschenwürdigen Existenzminimums“. Dazu gehört nach ihrer Meinung nicht nur die physische Existenz, sondern auch ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Wenn aber die Regelsätze an sich ausreichen, um die physische Existenz zu sichern, und nur in Einzelfällen besondere Bedarfe hinzukommen, was ist dann mit denjenigen, bei denen keine besonderen Bedarfe feststellbar sind? Müssen die mit der Sicherung des physischen Existenzminimums zufrieden sein, entgegen der eigentlichen Leitlinie des Gerichts? Oder ist die Konsequenz dann nicht, dass alle Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II automatisch Anrecht auf zusätzliche Leistungen gemäß ihrem Bedarf haben? Bleibt dadurch auch das Lohnabstandsgebot zu den untersten Lohngruppen auf dem Arbeitsmarkt gewahrt?
Die Antwort auf diese offenen Fragen ist ebenfalls offen. Denn der Gesetzgeber habe „einen Gestaltungsspielraum“ bei der Bemessung des Existenzminimums. Das betrifft im Übrigen auch die Methode, die allerdings nachvollziehbar und offen sein müssen. Nur „Schätzungen ins Blaue hinein“ sind nicht vertretbar. Die bisherigen Methoden des Gesetzgebers waren aber häufig genau solche Schätzungen. Das heftig umstrittene Statistik-Modell, in dem die untersten 20 Prozent der Beschäftigten zum Maßstab genommen werden, ist hingegen durchaus akzeptabel.
Wie so oft hat der Gesetzgeber also auch einen Gestaltungsspielraum, wenn es darum geht, die Vorgaben des Verfassungsgerichts umzusetzen. Auch wenn dies durch politische Machtverhältnisse entschieden wird, hat das Gericht einen unumstößlichen Pflock eingeschlagen: Eine soziale Grundsicherung sollte zwar Gleichheit zum Ziel haben. Aber ihre Instrumente können und dürfen deshalb nicht gleich sein. Das gebietet die Menschenwürde.

 

"Honeymoon" is over

Für die Medien ist es ein gefundenes Fressen: Gesundheitspolitik in der Krise, Umfragetief für die FDP, Einbußen für die wichtigsten Regierungspolitiker. Im Politbarometer der vergangenen Woche erhält die schwarz-gelbe Regierung erstmals negative Beurteilungen, im Deutschland-Trend der ARD gaben Befragte in den vergangenen Tagen an, die jetzige Regierung sei schlechter als die Vorgängerregierung. Die Koalition, so scheint es, befindet sich in einer echten Krise. Tatsächlich?

Fakt ist, dass es in der Regierung noch nicht rund läuft. Einiges ist durch den Regierungswechsel bedingt. Selbst Wunschkoalitionen müssen sich erst einmal finden. Man denke zurück an den Regierungsantritt von Rot-Grün 1998: Von Dezember 1998 an ging es mit der Unterstützung für die neue Regierung bergab. Ein erster Schock war die verlorene Landtagswahl in Hessen am 7. Februar 1999, die auch die Mehrheit im Bundesrat kostete. Es folgte ein Stimmungstief im März 1999, der absolute Tiefpunkt im September 1999, und erst die CDU-Spendenaffaire (Winter 1999/2000) führte zu erheblichen Verbesserungen der Bewertungen für Rot-Grün.

Insofern ist das, was derzeit in Berlin passiert, nicht neu. Und es ist durchaus typisch für die erste Phase einer Legislaturperiode. Neu gewählte Regierungen erhalten in der Regel kurz nach einer Wahl die besten Bewertungen, was Bestätigungseffekt im „Honeymoon“ genannt wird. Doch Flitterwochen dauern nie lange. Im Anschluss muß dann nicht mehr nur – wie im Wahlkampf und während der Koalitionsverhandlungen – geredet, sondern regiert werden. Und die ersten wichtigen und für Teile der Bevölkerung harten Politikentscheidungen müssen früh, wenn auch nicht sofort getroffen werden. Am Ende einer Legislaturperiode ist dies weitaus schwieriger, denn da muss der Souverän wieder gewonnen und keinesfalls vergrätzt werden.

Doch wie steht es im Lichte dieser Erfahrungen um die Lage der Koalition im Februar 2010? Gemessen an den ersten Monaten der letzten Regierungen, geht es Schwarz-Gelb „den Umständen entsprechend“. Das bedeutet, dass man nicht von einer Krise der Regierung sprechen kann, auch wenn die Holperer doch recht zahlreich sind. Aus der Perspektive einer ganzen Legislaturperiode hat die Regierung noch genug Zeit, in Tritt zu kommen. Ein wenig problematisch ist allerdings der Wahltermin in Nordrhein-Westfalen. Geht es „normal“ weiter, also für Schwarz-Gelb bis auf weiteres nach unten, dann wird es für Union und FDP schwierig werden, die Landtagswahl im größten deutschen Bundesland am 9. Mai 2010 zu gewinnen.

Landtagswahlen weisen allerdings ein paar Spezifika auf, die schwer kalkulierbar sind. Es wird vor allem darum gehen, welche Lager und Parteien ihre Klientel bei einer vermeintlich weniger wichtigen Wahl besser moblisieren können. Ist der Bundestrend für Schwarz-Gelb weiter negativ, dann sind Mobilisierungsdefizite für Union und FDP sehr wahrscheinlich, zumal die Regierungskonstellation im Bund und in NRW die gleiche ist. Allerdings werden Landtagswahlen auch von landesspezifischen Faktoren beeinflusst. Hier wird es um die Zufriedenheit der Bürger NRWs mit den Politikergebnissen, mit ihrem Ministerpräsidenten und um politische Alternativen gehen. Letzteres könnte zum Problem für die Opposition werden. Rot-Grün liegt derzeit klar hinter Schwarz-Gelb zurück und hat damit keine eigene Machtperspektive. Insofern wird es spannend werden: Wer „könnte“ mit wem, zu welchem Zweck und vor allem mit welchen Erfolgsaussichten? Wird es zu bunt und unübersichtlich, bliebe der Rückgriff auf ein bekanntes, bestenfalls auch bewährtes Koalitionsmodell.

 

Die ersten 100 Tage

AndreaAngela Merkel kann einem Leid tun: Nach den ersten 100 Tagen an der Regierung erhält das Kabinett unter ihrer Führung nicht nur von der Opposition denkbar schlechte Kritiken. Auch die Umfrageergebnisse sprechen eine klare Sprache: Emnid hat im Auftrag des Nachrichtensenders N24 in einer repräsentativen Befragung ermittelt, dass nur 27% der Bürger mit der Arbeit der Regierung zufrieden sind.

Aber ist dies wirklich so außergewöhnlich? Erinnern wir uns an den Start der rot-grünen Regierung 1998: Diese kam in einer vergleichbaren Emnid-Befragung zur der Bilanz der ersten 100 Tage auf eine Zustimmungsrate von 38% – ebenfalls kein berauschendes Ergebnis für das mit so viel Enthusiasmus gestartete neue politische Projekt. Und auch bei der im Rahmen des DeutschlandTrend von Infratest-dimap durchgeführten Frage nach der Bewertung der Regierungsarbeit mit Schulnoten zeigt sich kein allzu großer Unterschied: Rot-Grün wurde im Februar 1999 im Schnitt mit 3,4 benotet, Schwarz-Gelb kommt aktuell auf 3,9.

Fazit: Vergleichen lohnt sich und voreilige Schlüsse sollten vermieden werden. Immerhin ist Gerhard Schröder 2002 wiedergewählt worden und die SPD hat sich bis 2009 an der Regierung gehalten. So schlecht steht es also zumindest um Frau Merkel nicht.