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Clement will gelb wählen

Ach, Wolle. Andrea Ypsilanti in Hessen hat er schon zur Weißglut getrieben. Damals konnte man das verstehen: Dass der ehemalige Superminister seine Probleme mit Ypsilanti hatte, geschenkt! Ersterer verstand sich jahrelang als Wirtschaftsweiser der SPD; die andere inszenierte sich als die neue Rosa Luxemburg. Das konnte nicht gut gehen. Deshalb sprach Wolfgang Clement, inzwischen Energie-Lobbyist und Ex-Genosse, kurz vor Ypsilantis erster Wahl jegliche Regierungstauglichkeit ab.

Nun aber fällt er Steinmeier in den Rücken. Das verwundert schon, schließlich saßen die beiden zusammen am Kabinettstisch, fühlten sich demselben Parteiflügel zugehörig. In einer Anzeige im Bonner „General-Anzeiger“ ruft Clement zur Wahl von FDP-Chef Guido Westerwelle auf. Deutschland müsse „wieder ein Land des Fortschritts“ werden, in dem „verantwortete Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Entwicklung uneingeschränkt gewährleistet“ werde, soweit Clement.

Immerhin reagierte Steinmeier anders als weiland Ypsilanti, die leidenschaftlich über Clement schimpfte. Von den Genossen gab es heute keine offizielle Reaktion. Dafür feixt die FDP, zum Beispiel in ihrem Twitter-Channel.

 

Inside SPD

Er hätte der deutsche Obama werden können, heraus kam doch nur der Frank-Walter aus Ostwestfalen. Das, zusammengefasst, ist die zentrale Botschaft eines lästerlichen Insider-Berichts, den heute das Wochenmagazin Der Freitag veröffentlicht. Auf vollen vier Seiten wird hier unter der Überschrift „No we can’t“ über den Wahlkampf der SPD hergezogen. Der Wahlkampfchef, Kajo Wasserhövel, sei herrisch und zugleich planlos, die SPD habe das Web 2.0 nicht verstanden – und die alte, analoge Presse habe im Brandt-Haus sowieso keiner im Griff.

Die SPD-Strategen waren nervös, als sie von der Freitag-Geschichte erfuhren. Nestbeschmutzer und Geheimnissausplauderer wünscht sich kein Wahlkämpfer. Medienvertreter wurden sanft davor gewarnt, die Geschichte aufzugreifen, da sie etliche Fehler enthielte – und der/die mutmaßliche Insider/in ohnehin, schon als er/sie noch Mitarbeiter/in war, viele aufgehalten und genervt hat.

Letztlich war die Aufregung umsonst. Viele druckten sich den Artikel heute neugierig aus, kaum einer las ihn bis zum Ende. Er ist furchtbar langatmig und auch nicht wirklich bissig, eher selbstgerecht.

 

Demoskop legt sich fest

SPD-Bashing, die dritte. Matthias Jung, Chef der Forschungsgruppe Wahlen hat sich festgelegt. Er erwarte „ein Fiasko“ für die SPD. Er rechne fest mit einer „knappen, aber sicheren Mehrheit“ für Schwarz-Gelb. Das melden heute auf der Titelseite unsere Freunde vom Tagesspiegel.

Wir von ZEIT ONLINE haben uns heute früh zurückgehalten. Zum einen, weil wir uns ein wenig nostalgisch an die Tradition erinnert haben, dass Umfragen kurz vor Wahlen eben zurückgehalten werden. Zum anderen: Wer hat denn in der jüngeren Wahlgeschichte größere Fiaskos erlebt? Die SPD oder die Demoskopen? Eben!

 

Merkel wählt in der Mensa

Und zwar im Wahllokal 01228 in der Dorotheenstr. 19-21. Wenn das Medieninteresse die Kapazität des Wahllokales überschreitet, wovon auszugehen ist, erfolgt durch das Bundespresseamt „eine Zugangsbeschränkung“, um „den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl sicherzustellen“. So teilte eben jenes Amt heute mit. Merkel wird gegen 13 Uhr zur Stimmabgabe erwartet.

Gut, besonders spannend ist das nicht. Aber dennoch fast das Aufregendste, was heute von der Union zu hören ist. CDU und CSU neigen zwar das ganz Jahr über zum Streit, ausgerechnet vor Wahlen allerdings, sind die bürgerlichen Parteien ziemlich diszipliniert. Sie warten mit der Selbstzerfleischung, bis das Ergebnis feststeht.

 

Wahl-Betrüger

Wahlen ziehen Gauner an. Immer schon und überall. Wir denken an Hamburg, an Dachau, an Teheran, an Ost-Berlin. Von heute an muss man auch das niedersächsische Hildesheim denken. Hier treibt derzeit ein Telefonstreichspieler sei Unwesen. Er klingelte arglose Hildesheimer an, um ihnen mitzuteilen, dass ihre Wahlbenachrichtigungskarte ungültig sei. Eine neue Karte könne nicht mehr rechtzeitig beantragt werden, daher solle man besser von Vornherein zu Hause bleiben.

Die Stadt, not amused, wies umgehend darauf hin, dass diese „Wählertäuschung“ eine Straftat darstelle, die mit einer Haftstrafe bis zu zwei Jahren geahndet werde. Alle Bürger, die ähnliche Anrufe erhalten, werden gebeten, sich an die Polizei zu wenden.

Die Entwarnung folgte kurze Zeit darauf: Der Anrufer entpuppte sich als ein Radiomoderator. Das ganze war eine Aktion des  ffn-Crazy-Phones, wie die Oberstaatsanwaltschaft inzwischen bestätigte. Gegen den Moderator wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Anfangsverdachts der „Wählertäuschung“ eingeleitet.

 

Ein Blick in die Zukunft?

Henrik SchoberKurz vor der Bundestagswahl ist am vergangenen Wochenende bereits eine Wahlentscheidung der besonderen Art gefallen: 127.208 Kinder und Jugendliche haben sich an der „U18-Wahl“ beteiligt und damit ein deutliches Zeichen gesetzt. Denn diese Wahlbeteiligung lag weit über der des ersten Urnengangs im Jahr 2005, als sich 48.461 junge Menschen beteiligten. Natürlich kann das Ergebnis dennoch nicht als repräsentativ für das politische Interesse oder gar die politische Stimmung der unter 18-Jährigen gelten: Die Einzugsbereiche der insgesamt 1000 Wahllokale konnten naturgemäß nicht das gesamte Bundesgebiet abdecken und überdies ist anzunehmen, dass insbesondere die politisch interessierten Kinder und Jugendlichen an der Wahl teilnahmen. Dennoch lohnt der Blick auf das Wahlergebnis, hier im Vergleich zu dem der ersten U18-Wahl vor vier Jahren:

U18-Wahlen 2009 und 2005

U18-Wahl 2009 und 2005

Dunklere Balken: Ergebnis 2009, hellere Balken: Ergebnis 2005 (Die Tierschutzpartei wurde 2005 mit einem Anteil von 1,1% unter „Sonstige“ gefasst).

Wenn es nach den unter 18-Jährigen ginge, gäbe es in Deutschland also ein 7-Parteien-Parlament. Neben den etablierten Parteien würde auch der Piratenpartei und der Tierschutzpartei der Einzug in den Bundestag gelingen, die NPD hingegen würde an der 5%-Hürde scheitern. Die guten Ergebnisse der kleinen Parteien gehen vor allem zu Lasten der SPD, die sich nur knapp als stärkste Partei behaupten kann. Nun ist hinlänglich bekannt, dass sich politische Meinungen im Laufe des Lebens ändern können, das Ergebnis der U18-Wahl ist somit keine Projektion zukünftiger Bundestagswahlergebnisse. Dennoch sei eine Gegenüberstellung des U18-Ergebnisses mit einer aktuellen Forsa-Umfrage zur Bundestagswahl gestattet, die im selben Zeitraum durchgeführt wurde:

U18-Wahlergebnis und Forsa-Umfrage unter Wahlberechtigten

U18-Wahl und Forsa-Umfrage

Dunklere Balken: U18-Ergebnis vom 18.9.2009, hellere Balken: Forsa-Umfrage im Zeitraum 15.9.-21.09.2009 (Piratenpartei, Tierschutzpartei und NPD werden im Umfrageergebnis unter „Sonstige“ gefasst).

Insbesondere die Union, aber auch SPD und FDP erzielen im U18-Ergebnis schlechtere Werte als in der Umfrage unter Wahlberechtigten. Die Grünen sowie die drei genannten kleinen Parteien hingegen schneiden bei den Kindern und Jugendlichen besser ab. Das U18-Ergebnis weicht damit erkennbar von dem der Umfrage ab, dennoch steht es in Einklang mit einem Trend, den nicht nur Wahlforscher seit einigen Jahren beobachten: Die „diffuse“, grundsätzliche Unterstützung für Parteien schwindet und die Wähler orientieren sich in ihrer Wahlentscheidung zunehmend an spezifischen Themen und Sachfragen. Dies ist bei den Kindern und Jugendlichen in besonderer Deutlichkeit sichtbar: Mit Piraten und Tierschutzpartei würden zwei Parteien ins Parlament einziehen, die nur ein Thema prominent besetzen und sich nicht im Stil der Volksparteien thematisch breit aufstellen.

Zugegeben: Die Grünen, einst ebenso mit einem engen Themenspektrum gestartet, haben inzwischen zu allen wichtigen politischen Fragen Position bezogen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass durch das immer stärker an Sachfragen orientierte Wahlverhalten in Zukunft auch junge Parteien Erfolg haben könnten, die sich dauerhaft auf einzelne Themen konzentrieren und damit den Nerv bestimmter Wählergruppen treffen. Die etablierten politischen Parteien sollten sich daher perspektivisch auf Konkurrenz einrichten, die den Wählern nicht etwa neue Ideologien, sondern dezidiert thematische Alternativen anbietet. Passend dazu hat eine Forsa-Umfrage im Vorfeld der U18-Wahl ermittlet, dass für mehr politisches Interesse bei Jung- und Erstwählern zwei wesentliche Voraussetzungen geschaffen werden müssen: „mehr politische Bildung“ und ein „besseres inhaltliches Angebot der Parteien“.

 

Wie viel kostet das Mandat?

Wahlkämpfe werden oft als Geldvernichtungsmaschinen charakterisiert. Dabei sind die Budgets der deutschen Parteien sowohl im Vergleich zu Werbeetats der Privatwirtschaft als auch im internationalen Vergleich keinesfalls maßlos. Aber es wird in der Tat für ein Ereignis sehr viel Geld ausgegeben. Mitunter tragen Wahlkampfreserven (wie 2005 bei der SPD) zu Wahlerfolgen bei bzw. kosten auf der Zielgerade Stimmen (wie möglicherweise 2005 bei der CDU). Insbesondere mit Blick in die USA kann der Eindruck entstehen, dass die Höhe des Wahlkampfbudgets über Sieg oder Niederlage entscheidet.

Eine kleine Forschergruppe an der Universität Mannheim war und ist weniger an den Budgets der Parteien interessiert, sondern an den Ausgaben der einzelnen Bundestagskandidaten. Für viele von ihnen geht es um das berufliche Überleben, und das hängt primär vom Erfolg der eigenen Partei ab, zu einem gewissen Grad aber auch vom eigenen Einsatz. Deshalb erwarteten wir geringere Budgets bei reinen Listenkandidatinnen und -kandidaten, höhere bei Wahlkreis- und schließlich die höchsten bei Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten der Volksparteien, die eine reale Chance haben, das Mandat auch tatsächlich zu gewinnen. Gespannt waren wir aber auch darauf, wie hoch das Budgets eines durchschnittlichen Kandidaten ist, und darauf, wie viel Geld er oder sie selbst in den eigenen Wahlerfolg investiert.

Für die gut 1.000 Kandidatinnen und Kandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien, die sich an unserer Befragung beteiligt haben, können wir sagen, dass sie im Durchschnitt 10.600 € im letzten Bundestagswahlkampf ausgegeben haben. Die Extremwerte waren 0 € und 150.000 €. Von ihren Parteien bekamen sie im Schnitt 46% dieser Ausgaben finanziert, doch im Durchschnitt 5.700 € Euro (54%) trugen sie entweder selbst bei oder es gelang ihnen, einen Teil davon über Wahlkampfspenden zu finanzieren. Die Parteianteile variierten dabei sehr stark, denn die CSU-Kandidatinnen und -Kandidaten finanzierten gerade einmal 4% über die Parteikasse, die der Grünen immerhin 70%.

Unsere anreizspezifischen Annahmen spiegelten sich ebenfalls gut in den Umfrageergebnissen wider. Wer nur auf einer Parteiliste kandidierte, gab im Durchschnitt lediglich 2.600 € für den Wahlkampf aus, wobei die Spannbreite von durchschnittlich 1.000 € bei den Grünen bis 9.700 € bei der CSU vergleichsweise moderat war. Die Wahlkreiskandidaten von CDU, CSU und SPD gaben im Durchschnitt über 22.000 € für den Wahlkampf aus, wobei die reinen Wahlkreiskandidaten der CDU mit durchschnittlich 39.700 € am meisten investierten. Während bei den SPD-Kandidatinnen und -Kandidaten die Partei mehr als die Hälfte der Ausgaben übernahm, waren es bei CDU und CSU je nach Kandidaturform (nur Wahlkreis oder beides) nur zwischen 0% und 16%. Die Budgets der Wahlkreiskandidaten von FDP, Grünen und Linke waren übrigens erheblich niedriger (2.300€ bis 9.200 €) mit Parteianteilen der Finanzierung zwischen 40% (FDP, Liste und Wahlkreis) und 80% (Grüne, nur Wahlkreis).

Nicht nur die Parteien lassen sich demnach den Wahlkampf einiges kosten. Die Budgets der Wahlkreiskandidaten der Volksparteien sind beträchtlich, und der eigene Beitrag für die Wahlkampfkasse ist ebenfalls erwähnenswert. Wer nur „Listenfüller“, vor allem einer kleineren Partei ist, gibt auch erheblich weniger für den Wahlkampf aus. Die eigene Partei schießt fast immer Geld hinzu, denn die lokale, personifizierte Sichtbarkeit der Kandidatinnen und Kandidaten ist keine unwichtige Komponente im Werben um Erst- und Zweitstimmen.

Literatur: Wüst/Schmitt/Gschwend/Zittel in German Politics 15 (4), 2006.

 

SPD-Promis

Glückwunsch! Klaas Heufer-Umlauf ist für Frank-Walter. Floriane Daniel auch. Und Basti Swillims.

Wer das ist? Haben wir uns heute Morgen auch gefragt. Zum Glück gibt es Wikipedia. Heufer-Umflauf moderiert auf Viva, Frau Daniel ist Schauspielerin („Liebe im Halteverbot“, hieß laut Wiki ihr letzter TV-Film), und Swillims ist ein semmelblonder  Sprinter.

Die drei sind Teil einer Gruppe, die sich alle vier Jahre für eine gute Woche konstituiert: die Gruppe der SPD-Promis. Gemeinsam mit 55 anderen mehr oder weniger bekannten Berühmtheiten lachen sie heute in einigen Tageszeitungen von einer ganzen Seite – und rufen zur Wahl Steinmeiers auf.

Immerhin, das haben die Genossen der Union also nach wie vor voraus: Sie sind näher an den Stars und Sternchen dran. Der Geist schlug und schlägt links in dieser Republik. Das war schon in den reaktionären Adenauer-Jahren so, als die Künstler und Literaten Schumacher und Ollenhauer umschwärmten. Diese Beziehung verstärkte sich fast schon ins Ekstatische unter Willy. Selbst unter dem Auto-Kanzler riss sie nicht ab, der nun wirklich kein Intellektueller war.

Und nun verteidigt Steinmeier dieses Erbe, der, so hört man, im Gespräch mit Denkern und Sängern neugierig und spritzig sein kann. Dokumentiert ist das ganze auch auf einem hübschen YouTube-Video, in dem die bekannteren der 58 Promis Loblieder auf ihren Steinmeier singen.

Die Union tut sich traditionell schwerer in der Promi-Akquise. Unvergessen der Wahlkampf 2002, als man eine illustre Runde gewinnen wollte. Allzu viele „Köpfe für Stoiber“ kamen nicht zusammen, so sehr man auch suchte. Die meisten waren älter als 60, jedenfalls nicht geeignet als Türöffner für die MTV-Generation. Hans Clarin und Joachim Fuchsberger, der Hackl-Schorsch und Uschi Glas. Das war’s auch schon fast.

Etwas besser geht’s Angela Merkel. Sie hat auf ihrer CDU-Seite (ganz unten) sogar 88 Unterstützer aufgelistet. Wenn man sich allerdings durchklickt, stellt man fest, dass sich darunter auch u.a. ein CDA-Stadtverbandsvorsitzender und eine frühere Parlamentspräsidentin finden. Dadurch relativiert sich Merkels Vorsprung (88 zu 58) schon wieder. Das wäre so, als wenn Steinmeier irgendwelche Spitzen-Seeheimer zu Promis deklarieren würde, oder Heide Simonis.

Auch qualitativ gibt es Unterschiede. Merkels Unterstützer sind in der Regel Unternehmer oder Sportler (von Olli Bierhoff bis zum Designer Joop). Schriftsteller, Theologen, Kabarettisten oder gar Literatur-Nobelpreisträger finden sich nicht im Merkel-Lager. Die Steinmeier-Promis hingegen sind zumeist einem intellektuelleren Milieu zuzuordnen, sagt zumindest Wikipedia. Man kennt sie ja nicht.

 

Schwarz-gelb, schwarz-rot, Jamaika oder die Ampel?

Das Scheitern des Regierungsbildungsprozesses nach den Landtagswahlen in Hessen vom Februar 2008 hing maßgeblich mit den von den Parteien a priori getätigten Koalitionsaussagen ab. So schloss die hessische SPD eine Koalition mit der CDU unter der Führung Roland Kochs aus, während die FDP die Bildung einer „Ampelkoalition“ aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen vorab verwarf. Eine Zusammenarbeit mit CDU und FDP wurde durch Bündnis 90/Die Grünen ausgeschlossen. Nachdem durch den Einzug der Linken in den Wiesbadener Landtag kein „traditioneller“ Koalitionsblock (schwarz-gelb oder rot-grün) eine Mehrheit erreichte und die Bildung einer Minderheitsregierung aus SPD und Grünen unter der Tolerierung der Linken am Widerstand innerhalb der Sozialdemokraten scheiterte, waren Neuwahlen der einzige Ausweg aus der festgefahrenen Situation.

Auf Bundesebene sah es zunächst so aus, als ob die Parteien aus der Gefahr zu starker Statements im Hinblick auf definitive Ausschlüsse diverser Koalitionsoptionen gelernt hätten und nur noch positiv formulierte Koalitionsaussagen und damit keine Koalitionsabsagen tätigen würden. Jedoch folgte dem Ausschluss einer Zusammenarbeit mit der Linken durch die SPD die Ablehnung der Grünen, sich an einem Bündnis mit CDU/CSU und FDP zu beteiligen. Auch die Liberalen haben schließlich mehrfach bekräftigt, keine Koalition mit Sozialdemokraten und Grünen eingehen zu wollen.

Nun sind Koalitionsaussagen – egal ob positiv oder negativ formuliert – bei weitem nicht der einzige Faktor, der einen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung einer Regierung ausübt. Auf der Grundlage gängiger Koalitionstheorien ist bekannt, dass Parteien auch an der Besetzung politischer Ämter sowie an der Durchsetzung ihrer in Wahlprogrammen festgehaltenen inhaltlichen Positionen interessiert sind. Daraus lässt sich kurz gefasst ableiten, dass Koalitionen umso wahrscheinlicher sind, wenn sie (1) über eine sie stützende Mehrheit im Parlament verfügen, diese Mehrheit jedoch nicht übergroß ist und von so wenigen Parteien wie möglich getragen wird, und (2) aus solchen Parteien zusammengesetzt ist, die möglichst ähnliche programmatische Positionen vertreten. Zusätzlich gibt es theoretische Ansätze, die der stärksten Parlamentspartei einen besonderen Vorteil zusprechen und der amtierenden Koalition einen Startvorteil im Regierungsbildungsprozess zugestehen.

In Deutschland ist ein weiterer Faktor von Bedeutung, der sich aus der Rolle des Bundesrates in der Gesetzgebung ergibt: die Parteien auf Bundesebene sind daran interessiert, in den Ländern solche Koalitionen zu „installieren“, die mit der parteipolitischen Zusammensetzung von Regierung und Opposition auf Bundesebene übereinstimmen. Wenn solche Landesregierungen die Mehrheit der Sitze im Bundesrat stellen, die aus den selben Parteien wie die Bundesregierung gebildet sind, dann sollte es für die Bundesregierung einfacher sein, ihre Gesetzesinitiativen durch die Länderkammer zu bringen als in Situationen, wo die Bundestagsopposition eine Mehrheit im Bundesrat kontrolliert. Umgekehrt sollten die Bundesparteien bei der Koalitionsbildung die aktuelle Mehrheit in der Länderkammer in Betracht ziehen: wenn sich eine Koalition von Beginn an auf eine Mehrheit in der Länderkammer stützen kann, dann sollte dies deren Bildung begünstigen.

Auf der Grundlage eines Datensatzes, der alle 79 Regierungsbildungsprozesse in Bund und Ländern seit Januar 1990 beinhaltet und davon in 66 Fällen (83,5%) die Regierungsbildung korrekt voraussagt, können wir mit Hilfe multivariater statistischer Analysetechniken die Wahrscheinlichkeiten ermitteln, die jede theoretisch denkbare Koalition (hierzu zählen etwa auch Einparteien-Minderheitsregierungen) nach der Bundestagswahl aufweist. Wir unterscheiden zwei Szenarien: in Szenario 1 wird Union und FDP eine Mehrheit der Bundestagsmandate zugewiesen, während in Szenario 2 ein christlich-liberales Bündnis keine Mandatsmehrheit erreicht. Um die Auswirkungen verschiedener Koalitionsaussagen und der Regierungsbildung in Thüringen und im Saarland auf die Koalitionsbildung auf Bundesebene abzuschätzen, ändern wir die Daten so ab, dass

(1) der amtierenden großen Koalition Merkel/Steinmeier kein Amtsinhaberbonus zugewiesen wird,

(2) der Ausschluss einer Zusammenarbeit mit der Linken durch die SPD nicht berücksichtigt wird und

(3) das noch offene Ergebnis der Koalitionsverhandlungen in Thüringen und dem Saarland vorweggenommen werden. In Thüringen gehen wir von der Bildung einer Koalition aus CDU und SPD aus, während wir im Saarland die Bildung einer Jamaika-Koalition erwarten.

Die folgende Tabelle 1 zeigt die Wahrscheinlichkeitsverteilung ausgewählter Koalitionen unter der Annahme, dass CDU/CSU und FDP eine Mehrheit im zu wählenden 17. Deutschen Bundestag erreichen. Sowohl im Ausgangsmodell als auch nach Durchführung der drei oben genannten Änderungen dominiert ein Bündnis aus Union und Liberalen klar die Wahrscheinlichkeitsverteilung mit Werten zwischen 83 und 95%. Die Chancen zur Wiederauflage einer großen Koalition Merkel/Steinmeier sind bei einer solchen Mehrheitsverteilung im Parlament äußerst gering.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei CDU/CSU-FDP-Bundestagsmehrheit

  Ausgangs-
modell
Kein Amtsinhaber-
vorteil für die große Koalition
SPD schließt Zusammen-
arbeit mit der Linken nicht aus
Thüringen: CDU/SPD; Saarland: Jamaika
CDU und SPD 16,9% 5,0% 5,0% 4,1%
CDU/CSU und FDP 83,0% 94,8% 94,3% 95,4%
CDU/CSU und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
CDU/CSU, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD und Grüne 0,1% 0,1% 0,1% 0,0%
SPD, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD, Grüne und Linke 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%

Deutlich anders sieht das Bild aus, wenn Christ- und Freidemokraten eine Mehrheit im Bundestag verfehlen würden. Tabelle 2 macht deutlich, dass unter diesen Umständen die wahrscheinlichste Koalition eine schwarz-rote Neuauflage ist. Dies gilt sogar dann, wenn man der großen Koalition keinen Amtsinhabervorteil zuweist und der SPD nicht abnimmt, keine Zusammenarbeit mit der Linken in Erwägung zu ziehen. Die Wahrscheinlichkeit für die Fortsetzung der großen Koalition liegt bei über 75%, während ein Linksbündnis auf Chancen von etwas mehr als 9% kommt.

Tabelle 2: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei Verfehlen einer CDU/CSU-FDP-Bundestagsmehrheit

  Ausgangs-
modell
Kein Amtsinhaber-
vorteil für die große Koalition
SPD schließt Zusammen-
arbeit mit der Linken nicht aus
Thüringen: CDU/SPD; Saarland: Jamaika
CDU und SPD 97,8% 92,1% 76,5% 78,2%
CDU/CSU und FDP 1,4% 4,9% 4,1% 3,9%
CDU/CSU und Grüne 0,1% 0,4% 0,4% 0,2%
CDU/CSU, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD und Grüne 0,3% 1,1% 0,9% 0,6%
SPD, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD, Grüne und Linke 0,0% 0,0% 9,5% 9,1%

In den letzten Tagen war mit Hinblick auf die Koalitionsaussagen der Parteien besonders auffällig, dass sich die Grünen offenbar einen kleinen Türspalt zur Bildung einer Jamaika-Koalition offen halten, indem ihr Spitzenkandidat Jürgen Trittin explizit betonte, dass mit allen demokratischen Parteien nach der Wahl Gespräche geführt werden. Berücksichtigt man in den Regressionsmodellen nicht den Parteitagsbeschluss der Grünen, der eine Jamaika-Koalition von vornherein ausschliesst, dann ergibt sich eine deutlich andere Wahrscheinlichkeitsverteilung auf die verschiedenen Koalitionsoptionen, wie Tabelle 3 deutlich macht. Wenn man von keinem Amtsinhabervorteil für die große Koalition ausgeht, dann ist eine schwarz-rote Koalition noch immer mit knapp 58% das wahrscheinlichste Ergebnis, aber ein Jamaika-Bündnis würde mit einer Chance von rund 37% nicht allzu viel unwahrscheinlicher sein. Geht man noch einen Schritt weiter und nimmt an, dass sich im Saarland eine schwarz-gelb-grüne Koalition bilden wurde, dann stünden die Chancen für „Jamaika“ auf Bundesebene sogar besser als für eine große Koalition. Der Hauptgrund dafür liegt in den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat, in dem momentan weder eine schwarz-gelbe noch eine schwarz-rote Koalition, jedoch aber ein potentielles Bündnis aus Union, FDP und Grünen über eine Mehrheit verfügen. Die Grünen haben sich diesen Ergebnissen zufolge aufgrund ihrer Koalitionsaussage eine große Chance auf eine Regierungsbeteiligung verbaut, da die von ihnen wie auch der SPD präferierte Ampel aufgrund der Weigerung der Liberalen, ein solches Bündnis einzugehen, als ausgeschlossen gelten kann.

Tabelle 3: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei Verfehlen einer CDU/CSU- FDP-Bundestagsmehrheit / Grüne schließen „Jamaika“ nicht aus

  Ausgangs-
modell
Kein Amtsinhaber-
vorteil für die große Koalition
SPD schließt Zusammen-
arbeit mit der Linken nicht aus
Thüringen: CDU/SPD; Saarland: Jamaika
CDU und SPD 97,8% 57,8% 51,2% 36,4%
CDU/CSU und FDP 1,4% 3,1% 2,7% 1,8%
CDU/CSU und Grüne 0,1% 0,3% 0,2% 0,1%
CDU/CSU, FDP und Grüne 0,0% 37,2% 33,0% 53,5%
SPD und Grüne 0,3% 0,7% 0,6% 0,3%
SPD, FDP und Grüne 0,0% 4,1% 0,0% 0,0%
SPD, Grüne und Linke 0,0% 0,0% 6,4% 4,2%
 

Merkel drückt sich

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Mehr als 3000 Fragen an die Spitzenkandidaten haben Internetnutzer in den vergangenen Wochen auf der Website „Erst fragen, dann wählen“ eingereicht – einem Gemeinschaftsprojekt von ZEIT ONLINE, dem ZDF und der VZ-Gruppe (das heißt StudiVZ und meinVZ, die wie ZEIT ONLINE zur Holtzbrinck-Gruppe gehören). Am 19. und 20. September werden die Fragen, die von den den Nutzern als am wichtigsten bewertet wurden (noch kann man abstimmen), den Spitzenkandidaten der sechs Bundestagsparteien zur Beantwortung vorgelegt – live im Fernsehen (Samstag, 13 Uhr und Sonntag, 16 Uhr im ZDFinfokanal; die Höhepunkte werden Sonntagabend um 23.25 Uhr im ZDF gezeigt).

Alle Spitzenkandidaten haben die Einlandung in diese ungewöhnliche Sendung angenommen – außer eine: Angela Merkel. Offenbar ist die CDU-Chefin fest entschlossen, bis zur Wahl jeder direkten Konfrontation mit ihren Konkurrenten aus dem Weg zu gehen. Denn nicht nur die Aktion „Erst fragen, dann wählen“ wird – höchstwahrscheinlich – ohne Merkel stattfinden. Zuvor hatte die Kanzlerin schon zwei Elefantenrunden in der ARD und eine weitere im ZDF platzen lassen (wobei SPD-Kandidat Steinmeier die ARD-Runde noch vor Merkel abgesagt haben soll.) Beide Sendungen wurden gleich ganz aus dem Programm genommen.

Bild 2Das wird mit „Erst fragen, dann wählen“ nicht passieren – die Sendung wird in jedem Fall ausgestrahlt, notfalls bleibt der CDU-Stuhl eben leer. Vielleicht hilft ja aber auch die neueste Aktion auf den VZ-Netzwerken, die Kanzlerin umzustimmen (siehe Screenshot): Seit gestern können StudiVZ/meinVZ-User Merkel per Mausklick dazu auffordern, doch noch zu erscheinen. Ob sie sich überzeugen lässt? Schau‘ mer mal.