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Stadt der erloschenen Feuer

Michael Schliebens angekündigte Reportage aus Gelsenkirchen ist online – und zwar hier. Bitte lesen Sie es bis zum Ende, denn dort keimt wirklich so etwas wie Hoffnung auf.

Wie schon gestern geschrieben, hat unser Wahlkampf-Reporter Gelsenkirchen schon längst hinter sich gelassen. Morgen erscheint seine Geschichte aus dem reichen Bad Homburg vdH.

 

Die „Arbeit von morgen“ des Frank-Walter Steinmeier oder: das zweite Wahlprogramm der SPD

Der Wahlkampf läuft für die Sozialdemokraten alles andere als gut. Eine Aufholkampagne ist bei weitem nicht in Sicht – noch immer liegt die SPD in Umfragen bei mitunter deutlich unter 25% der Stimmen. Thomas Gschwend sagt anhand seines Prognosemodells einen Stimmenanteil für Union und FDP von 50,6% und damit eine – wenn man das auf die voraussichtliche Mandatsverteilung im Bundestag umrechnet – komfortable Mehrheit für das bürgerliche Lager voraus.

Die Ursachen für die Schwäche der Sozialdemokraten sind vielfältig. Zum einen hat die SPD schon seit der Implementierung der wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen während der Legislaturperiode von 2002 bis 2005 das Problem, ihre Kernwählerschaft – gewerkschaftlich gebundene Arbeiter und Arbeitnehmer – für sich zu mobilisieren. In diesem Bundestagswahlkampf kommt noch erschwerend hinzu, dass es bei weitem nicht die SPD, sondern die Union ist, der – nach den jüngsten Zahlen von infratest-dimap – 48% der Wähler die größte Wirtschaftskompetenz zusprechen. Den Sozialdemokraten schreiben dies lediglich 12% der Befragten zu und damit genau so viele, wie der FDP die größte Kompetenz in ökonomischen Fragen zugestehen. Stark rückläufig ist auch der Anteil der Befragten, die von allen Parteien am ehesten der SPD zutrauen, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. In dieser für die Sozialdemokraten entscheidenden Frage sind im Juli 2009 nur noch 31% der Befragten der Auffassung, dass die SPD die soziale Gerechtigkeitspartei ist. Im September 1998, 2002 und 2005 und damit unmittelbar vor Bundestagswahlen, die die SPD gewonnen bzw. nur knapp verloren hat, lag der Anteil bei mehr als 50% (1998 und 2002) sowie bei 41% im Jahr 2005. Schließlich macht der SPD ihr Kanzlerkandidat zu schaffen: Er liegt bei der Frage nach dem gewünschten künftigen Bundeskanzler so weit hinter Angela Merkel, dass man sich fragen muss, ob die Herausstellung von Frank-Walter Steinmeier als Spitzenkandidat dem SPD-Wahlkampf insgesamt nicht eher schadet als nützt.

Grund genug also für einen Befreiungsschlag, nachdem die Präsentation potentieller Minister in Form des „Teams Steinmeier“ nicht nur wegen der Debatte um Ulla Schmidts Dienstwagen, sondern auch aufgrund der eher blassen Mitglieder des „Schattenkabinetts“ in der Öffentlichkeit eher verpufft ist. Die neueste Innovation des SPD-Wahlkampfs ist die Veröffentlichung eines zweiten Wahlprogramms, das offenbar vor allem vom Kanzlerkandidaten selbst verfasst wurde und den Versuch darstellt, das seitens der Wählerschaft bestehende Bild einer mangelnden Wirtschaftskompetenz der SPD zu revidieren. Versucht sich Steinmeier mit neuen Politikzielen vom im Juni beschlossenen Wahlmanifest der Partei abzugrenzen, in dem er nun andere inhaltliche Positionen einnimmt? Dies scheint so gut wie nicht der Fall zu sein, wenn man die Positionen des SPD-Wahlprogramms mit denen des Steinmeier-Programms, das in der unten stehenden Abbildung mit „FWS“ gekennzeichnet ist, abgleicht (die Positionen der Parteien auf den beiden Politikfeldern Wirtschaft und Gesellschaft wurden – wie in früheren Beiträgen dieses Blogs – mit dem „wordscore“-Verfahren ermittelt). Die Abbildung macht deutlich, dass sich Frank-Walter Steinmeiers Programm nur auf der wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension in signifikanter Weise und dann auch nur in geringer Form von der Position des eigentlichen SPD-Wahlprogramms unterscheidet. Es liegt ein wenig mehr in der Mitte der sozioökonomischen Links-Rechts-Dimension und damit näher am Manifest der Unionsparteien. Große inhaltliche Unterschiede zwischen der Partei und ihrem Kandidaten bzw. eine Veränderung der inhaltlichen Aussagen der SPD sind also zwischen Juni und Anfang August nicht festzustellen. Dennoch hat die Veröffentlichung des Programms zumindest für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Ob diese aber den Sozialdemokraten letztendlich von Nutzen ist erscheint eher fraglich: Das Versprechen, vier Millionen neue Jobs zu schaffen, ist – wenn man sich die Reaktionen der Medien anschaut – bestenfalls zwiespältig aufgenommen worden. Es bleibt abzuwarten, mit welchen weiteren Mitteln die SPD versuchen wird, die Themenhoheit in diesem Bundestagswahlkampf zurück zu gewinnen.

 

Impressionen aus Gelsenkirchen

Zwei Tage lang war unser Wahlkampf-Reporter Michael Schlieben im Rahmen seiner Deutschlandtour (s. Reiseroute) in Gelsenkirchen unterwegs, hat mit ehemaligen Bergarbeitern, zornigen Montagsdemonstranten und Oberbürgermeister Baranowski gesprochen. Dramatisch hat sich die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Und sie tut es noch immer. Michael Schliebens Reportage aus Gelsenkirchen erscheint morgen auf ZEIT ONLINE, ein paar Video-Impressionen gibt’s schon jetzt:

Oberbürgermeister Frank Baranowski über Gelsenkirchen:

Auf der Montagsdemo:

Fahrt durch eine der Problemstraßen in Gelsenkirchen:

Inzwischen ist der Wahlkampf-Reporter übrigens schon weitergezogen nach Bad Homburg vor der Höhe, einer der reichsten Städte im Land. Kontrastprogramm zu Gelsenkirchen. Was sagen die Reichen zur Krise? Die Antwort: demnächst hier im Blog.

 

Exodos, die letzte Bar schließt

Die Bochumer Straße ist eine der vielen Problemstraßen in Gelsenkirchen: Sie ist viel befahren, aber die meisten Wohnungen stehen leer. Die wenigen Menschen, die hier leben, sind in der Regel arbeitslos. Die Geschäfte, Bäcker und Kneipen schlossen nach und nach. Heute war das Exodos dran. Der Wirt sagt beim Entrümpeln: „Das hier ist die schlimmste Straße in Gelsenkirchen. Alles geht kaputt.“

Gelsenkirchen hat in den vergangenen vier Jahrzehnten ein Drittel seiner Bevölkerung verloren. 20.000 Menschen sind arbeitslos.

Wahlkampf-Reporter Michael Schlieben bereist derzeit die Republik. Begonnen hat er seine Tour in Pinneberg, weiter ging es über Cloppenburg nach Gelsenkirchen. Seine Reportage aus dem Pott erscheint morgen auf ZEIT ONLINE. Kurznachrichten zur Reise gibt es auf Twitter.

 

Cloppenburg – Deutschlands schwarze Seele

Die schöne Cloppenburg-Reportage unseres Wahlkampf-Reporters Michael Schlieben ist online – und zwar hier. Mit Fotos und Videos der Interviewpartner.

Geschrieben hat der Kollege Schlieben den Text in diversen Regionalzügen von Cloppenburg nach Gelsenkirchen. Dort weilt er jetzt – und schreibt schon an seinem nächsten Stück. Über den Strukturwandel im Pott. Vorhin hat er mit ein paar ehemaligen Bergmännern angestoßen. Wir sind gespannt auf seine Geschichte.

 

Ach, hätte der Baron doch geschwiegen

Mit Hohn und Spott kommentierte die politische Konkurrenz am Wochenende den Vorschlag des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier, bis zum Jahr 2020 vier Millionen Arbeitsplätze schaffen und das Ziel die Vollbeschäftigung nicht aus den Augen verlieren zu wollen. Von einem „unseriösen Versprechen“ spricht der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach, und der Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) erklärte, „die Menschen sind es leid, immer zu Wahlkampfzeiten mit Versprechen überschüttet zu werden“.

Ach, wenn der Baron doch geschwiegen oder zumindest sein eigenes Regierungsprogramm für die Jahre 2009 bis 2013 gelesen hätte. Denn dort heißt es auf Seite 9 eindeutig und schwarz auf weiß: „Seit Ludwig Erhard gilt der Grundsatz ‚Wohlstand für alle‘. Für uns bedeutet das heute vor allem: Arbeit für alle, Leistungsgerechtigkeit und Generationengerechtigkeit“.

Arbeit für alle, heißt also ein gemeinsames Wahlversprechen von CDU und CSU im Wahlkampf. Was ist das anderes als Vollbeschäftigung? Nur einen Zeitpunkt, bis wann die Union ihr Ziel zu erreichen gedenkt, nennt sie nicht. Ist das seriöser? Sind es die Menschen weniger leid mit Versprechen überschüttet zu werden, von denen eine Partei nicht einmal sagt, bis wann sie diese zu erfüllen gedenkt. Die Menschen würden konkrete Vorschläge erwarten, sagt der Baron zu Guttenberg, davon sei bei der SPD bisher „wenig zu finden“.

Und bei der Union? Wie sie „Arbeit für alle“ schaffen will, das sagt sie in ihrem Regierungsprogramm: mit Steuersenkungen. Wann genau, der Bürger allerdings mit Steuerentlastungen rechnen kann, sagt sie freilich nicht, zumindest nicht konkret. Irgendwann in der nächsten Legislaturperiode und erst dann, wenn der Haushalt saniert ist. Denn „Haushaltskonsolidierung bleibt unser Ziel“, heißt es im Unions-Programm, „sie schafft Spielräume, um mit attraktiven steuerlichen Rahmenbedingungen die Grundlage für mehr Wachstum und Beschäftigung zu legen.“

Und noch einen „konkreten“ Vorschlag macht die Union, wie sie Arbeit für alle schaffen will: mit einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensive. Im Wahlprogramm heißt es dazu: „Die deutsche Industrie, der Mittelstand, das Handwerk und die Freien Berufe, Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, Besitzer von Arbeitsplätzen und Arbeitslose – alle in unserer Gesellschaft müssen ihren Beitrag leisten, damit Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden.“

Wenn Unionspolitiker nun Steinmeiers „Deutschland-Plan“ lächerlich machen, tun sie das im Grunde auch mit ihrer Kanzlerin. Bereits vor einem Jahr antwortete die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel in der Bundespressekonferenz auf die Frage, ob sich die Politik das Ziel Vollbeschäftigung setzen solle, mit den Worten: „Ja, man sollte es sich setzen“. Und auf die Nachfrage, ob es realistisch sei, antwortete sie: „Ich setze mir doch keine unrealistischen Ziele.“

Schon vor zwölf Monaten also hielt Angela Merkel Vollbeschäftigung und damit „Arbeit für alle“ für ein realistisches Ziel der Regierung. Und auch wenn Deutschland mittlerweile tief in einer Rezession steckt und die Zahl der Arbeitslosen wieder steigt, heißt es nun im Regierungsprogramm der Union für die Jahre 2009 bis 2013: „Wir halten Arbeit für alle für möglich und arbeiten für die Erreichung dieses Ziels.“

Wie sagte doch der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer am Wochenende zu den Vorschlägen des SPD-Kanzlerkandidaten: „Das ist doch Fantasialand“

 

Der Obama von Cloppenburg

Unser Wahlkampf-Reporter Michael Schlieben besucht heute Cloppenburg, die schwärzeste Hochburg Deutschlands. Auf 70 Prozent Stimmenanteil kommt die CDU dort bisweilen. Gut, dass heute Sonntag ist, denn ein Kirchgang gehört in Cloppenburg zum guten Ton. Auf Twitter berichtete Kollege Schlieben vorhin:

Der heinmliche Oppositionsfuehrer in der CDU-Hochburg ist ein Pfarrer. Der Obama Cloppenburgs, sagt die SPD. Bin gespannt.

Wir auch. Sein Reportage aus der Stadt publizieren wir morgen – hier im Blog und auf der Startseite von ZEIT ONLINE. Gerade eben ist dort auch der Bericht aus Pinneberg, erschienen. Im Swing-„State“ Deutschlands hatte der Wahlkampf-Reporter seine Reise begonnen.

Die Sonderseite des Wahlkampf-Reporters liegt übrigens hier.

 

Unser Wahlkampf-Reporter geht auf Reisen

Wie ist die Stimmung in Deutschland weniger als zwei Monate vor der Wahl? Wie geht es den Menschen im Land? Wie reden sie über die Große Koalition, über die Kanzlerin und ihren Herausforderer? Erleben sie die Wirtschaftskrise nur aus der Ferne oder sind sie unmittelbar betroffen? Welche Sorgen treiben sie um, was erwarten sie von der nächsten Bundesregierung?

Unser Wahlkampf-Reporter Michael Schlieben (Foto) ist ausgezogen, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Mehr als zwei Wochen lang tourt er durch Deutschland, besucht Landwirte, Fußballfans, Migranten, Bürgermeister und Ökos.

Das ist seine Route:

Mehr zu dieser interaktiven Karte: Großansicht und Embedding Code abrufen

Auf seiner Reise ist unser Wahlkampf-Reporter den Eigentümlichkeiten und Besonderheiten unseres Landes auf der Spur. Pinneberg beispielsweise, wo er am Freitag seine Reise begann, ist Deutschlands Swing-„State“ Nummer eins: Die Partei, die hier gewinnt, stellt auch den Kanzler. Seit 1953 ist das so.

Am Abend tingelte der Wahlkampf-Reporter weiter nach Quickborn, schrieb dort im Romantik-Hotel ohne W-Lan seine Pinneberg-Reportage (die finden Sie morgen im Blog und auf ZEIT ONLINE) und brach heute früh auf ins tiefschwarze Cloppenburg. So treu sind die Wähler der CDU dort ergeben, dass sie wohl auch einen Besenstil als Direktkandidat aufstellen könnte. Michael Schliebens Cloppenburg-Reportage wird am Montag auf ZEIT ONLINE publiziert.

Zu diesem Zeitpunkt wird der Wahlkampf-Reporter der ländlichen Idylle schon längst den Rücken gekehrt haben: Mit dem Zug geht’s nach Gelsenkirchen, wo er – selbstverständlich – auch mit ein paar treuen Schalke-Fans reden wird.

Die Reportagen sammeln wir auf unserer Sonderseite zur Deutschlandreise: https://blog.zeit.de/zweitstimme/wahlkampf-reporter.

Kürzere Zwischenberichte, Impressionen und Videos von der Reise finden Sie hier im Zweitstimme-Blog. Und natürlich twittert der Wahlkampf-Reporter auch. Seine Statusupdates auf @zeitonline_pol sind am Kürzel: (ms) und dem Hashtag: #wkr09 zu erkennen:

Drücken Sie unserem Wahlkampf-Reporter die Daumen, dass kein Bahnchaos seine Reise durcheinanderbringt – und dass er beherzigt, was ihm unser Video-Redakteur Sebastian Höing mit auf den Weg gab:

 

Adoptionsrecht für alle Eltern – oder: die SPD auf der Suche nach verlorengegangener Themenhoheit

Familienpolitik, Frauenförderung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf waren traditionell Themen, die die SPD für sich beansprucht hat und hier sowohl inhaltlich als auch medial betrachtet die Themenhoheit genoß. Bis Ursula von der Leyen in den bundespolitischen Ring stieg. In der Wahlkampfforschung wird sie als das Paradebeispiel für die gelungene Kombination von Person und Themen angesehen. Sie vermittelt hohe Expertise und Glaubwürdigkeit. Ihr ist es zu verdanken, dass die CDU das traditionell rot besetzte Thema für sich gewinnen konnte.Dies macht auch eine Umfrage von infratest dimap aus dem Jahr 2008 deutlich: 37% der Befragten trauen der CDU zu eine gute Familienpolitik zu machen, während nur 26% weiterhin der SPD vertrauen.

Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen, mühsamen Versuche der SPD zu sehen, nun auch für Regenbogenfamilien das Adoptionsrecht zuzulassen. Die SPD beruft sich hierbei auf eine wissenschaftliche Studie des Bayerischen Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg und des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München (näheres hierzu hier) aus der hervorgeht, dass Kinder in Regenbogenfamilien keine Nachteile haben. Bereits vor drei Wochen sahen wir den ersten krampfhaften Versuch der SPD, das Familienthema zurückzuerobern: die Super-Nanny Katharina Saalfrank stieg in den SPD-Wahlkampf ein. Frei nach dem Motto „get them where they are“ werden Wählerinnen und Wähler dort abgeholt, wo sie sich befinden. Dennoch war der Nachhall durchaus zweischneidig, denn die Grenze zwischen Infotainment und seriöser Politik (und seriösem Wahlkampf) ist eben fließend.
Mit dem Aufruf von Brigitte Zypries, das Adoptionsrecht auch für eingetragene Lebenspartnerschaften zu öffnen, versucht die SPD erneut, das Politikfeld Familie zu besetzen und damit Wählerstimmen zurück zu gewinnen. Zweifelsohne, dies ist ein wichtiges Thema – und sollte auch durchgesetzt werden – aber mit Verlaub gesagt ist damit allein kein Wahlkampf zu machen und schon gar nicht zu gewinnen. Es sind andere Themen, die die Wahl entscheiden werden – und hier sollte sich die SPD schleunigst dransetzen.

 

Prognosen sind Wissenschaft – aber ohne Umfragedaten geht es wohl nicht

Letzte Woche hat Thomas Gschwend in diesem Blog eine vorläufige Prognose für den Ausgang der Bundestagswahl 2009 abgegeben. Gemeinsam mit seinem Kollegen Helmut Norpoth wagt Gschwend zum dritten Mal in Folge eine solche Prognose. Sie basiert auf einem wissenschaftlichen Prognosemodell, das einsehbar und dessen Ergebnis damit für jeden Außenstehenden nachvollziehbar ist.

Modelle wie dieses und der Mut zu einer Publikation vor der Wahl sollten uneingeschränkt gewürdigt werden. Zu Wissenschaft gehört es nicht nur, ex post zu erklären, warum eine Wahl wie ausgegangen ist, sondern auch, seriöse Prognosen abzugeben – in der Wirtschaftswissenschaft (siehe zum Beispiel die Prognosen der „Wirtschaftsweisen“) ist dies gang und gäbe. Prognosen können, und das ist das Risiko dabei, von der Realität (der Wahl selbst) gestützt oder widerlegt werden. In den Jahren 2002 und 2005 lagen die Wahlforscher richtig, und das lange vor und teilweise in Widerspruch zu den Ergebnissen und Aussagen führender Umfrageinstitute und deren „Pollster“. Dass diese zunächst spöttelten, verwundert nicht. Doch auch aus der Profession erhielten die Forscher wenig Beifall: öffenlichkeitswirksame Auftritte sind vielen Kollegen erst einmal suspekt, und insgeheim hofften wahrscheinlich nicht nur die Umfrageinstitute auf ein Scheitern des Modells. Quod esset demonstrandum!

Viel spricht dafür, dass Norpoth und Gschwend auch 2009 Recht behalten werden, auch wenn ein Erfolg dieses Mal weit weniger spektakulär wäre. Die Wiederwahl Schröders 2002 und die Große Koalition 2005 vorherzusagen, waren mutig, denn die (unreflektierten) Ergebnisse auf die hypothetische Wahlabsichtsfrage ließen einen Erfolg von CDU/CSU und FDP erwarten. Im Gegensatz dazu sprechen die demoskopischen Befunde 2009 (erneut) für einen Machtwechsel, die „Zauberformel“ diesmal allerdings auch.

Viel hängt nach der Prognoseformel vom sogenanten „Horse Race“ ab, dem bevorzugten Kanzler. Bei einer so deutlichen Unterlegenheit des Herausforderers (derzeit 25:62 im ZDF-Politbarometer) wäre alles andere als ein Sieg der Kanzlerin und ihrer Wunschkoalition mit der FDP eine Überraschung. Dennoch bleibt sowohl in der Umfrage-Realität als auch im Prognosemodell eine Hintertür offen: 50,6 Prozent bedeuten nicht, dass das Rennen – oder sagen wir besser die Wahl – schon gelaufen ist. Verschiedene Möglichkeiten, vor allem über Themenkompetenz und Mobilisierung noch aufzuholen, wurden in mehreren Beiträgen dieses Blogs bereits aufgezeigt.

Gschwend und Norpoth werden allerdings, wie bei den letzten beiden Wahlen auch, erst Mitte August eine endgültige Prognose für den Wahlausgang abgeben. Warum das? Kann das Modell doch weniger als postuliert wird? Nun ja, sagen wir es einmal so, es ist nicht ganz von kurzfristigen Entwicklungen unabhängig. Denn für die Prognose bedarf es eines kurzfristigen Indikators, den nur Umfragedaten liefern können: die Kanzlerpräferenz. Wahrscheinlich könnte es auch ein anderer kurzfristiger Indikator sein, den man allerdings wieder über Umfragen integrieren müsste: die Bewertung der Regierung, der Parteien oder gar die Wahlabsicht?

Ohne Umfragedaten, deren Erhebung und Publikation zurecht kritisch hinterfragt werden, geht es auch bei der „Zauberformel“ nicht. Dass hierfür nicht Daten verwendet werden müssen, die erst kurz vor der Wahl erhoben werden, spricht für die Erkenntnisse der Wahlforschung und deren Integration in das Modell. Die Wahlforschung weiss, dass es in den letzten Wochen vor der Wahl die Regierung und der amtierende Kanzler bzw. die amtierende Kanzlerin ist, die den Vorsprung vor der Opposition und dem Herausforderer normalerweise ausbauen. Verkompliziert wird die Lage dieses Mal dadurch, dass die Opposition nicht den Herausforderer stellt, sondern der mit auf der Regierungsbank sitzt. Die bisherigen Erkenntnisse darüber, was passiert, wenn Große Koalitionen zu einer Wahl antreten, sind gering und partiell widersprüchlich. Deshalb wird die Bundestagswahl 2009 nicht nur für die Zauberformel eine recht interessante Wahl werden.