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Dachbodenmusik

 
Unter den Laken, in verstaubten Kistchen finden sich zauberhafte Geschichten. Die Band White Hinterland erzählt sie in luxuriösen Liedern.

White Hinterland

Wie klingt es eigentlich, wenn man auf dem Dachboden eines alten Hauses stöbert? Da ist das Geräusch von Schritten auf dem Holz, das Blättern in vergilbten Büchern und Fotoalben. Unter einem Bettlaken versteckt sich ein verstimmtes Klavier. Unzählige Geschichten liegen verborgen in Schubladen und Kartons.

Casey Dienel erzählt uns diese Geschichten, ihre Band White Hinterland hilft uns beim Stöbern. Der Name weckt Assoziationen an die amerikanische Einöde und ihre Bewohner: Urwüchsig sollen sie sein und bodenständig, sicher ein wenig verschroben. Dabei stammt Dienel von der Ostküste. In Boston studierte sie am New England Conservatory Operngesang und Komposition. Mit einigen Studienfreunden nahm sie im Winter 2005 in einem verlassenen Farmhaus in Massachusetts ein paar Lieder auf. Das Klavier lieh sie sich aus der Eingangshalle eines Hotels. Die Aufnahmen erschienen wenig später auf dem ersten Album von White Hinterland, Wind-Up Canary.

Nun erscheint das zweite Album der Band, Phylactery Factory. Wieder lebt es von Casey Dienels Kunstfertigkeit als Musikerin und Sängerin, ihre Stimme trägt die neun Stücke. White Hinterland mischen Jazz, Country, Klassik und Folk zu fast barocken Popliedern. Das Ensemble bringt eine Vielzahl von Instrumenten zum Klingen. Das immer neue Zusammenspiel von Streichern, Bläsern, Glockenspiel, Vibrafon und Gitarren macht die Platte abwechslungsreich. Im Vordergrund klingt Casey Dienels Klavierspiel, immer wieder klimpert sie überraschende Melodien.

Luxuriös mutet manches Arrangement an, überladen ist keines. Mit Hilfe des Produzenten Adam Selzers eröffnen White Hinterland immer neue Klangräume. Im aufwendig konstruierten Zusammenspiel der Stimmen ist Platz zum Klingen und Hören. White Hinterland lassen ihre Lieder atmen. So ist Phylactery Factory eine Platte voller Zweideutigkeiten und Wendungen. Kaum ein Stück endet, wie es begonnen hat. Wie in einem musikalischen Setzkasten lassen sich immer wieder Kleinigkeiten entdecken.

Im Mittelpunkt der Platte stehen Casey Dienels Texte. Sie erzählt zauberhafte Geschichten voller unwirklicher Bilder, erzählt von beiläufigen Ereignisse und den komischen Figuren am Rande des Geschehens. In Dreaming Of The Plum Trees beschreibt sie, wie das Ende einer Beziehung von den Liebesgeräuschen der Nachbarn begleitet wird: „You can hear them falling in love again / Three times this evening.“

Das Herzstück des Albums ist Hometown Hooray, zugleich ein schlingernder Liebeswalzer und eine bittere Abrechnung mit den im Irak Kriegführenden. Dienel besingt den Verlust des Geliebten mit zärtlicher Stimme. Langsam wird offenbar, dass sie hinter der Sanftmut tiefe Traurigkeit verbirgt. Das Düstere begleitet das Album von nun an, ob in der verträumten Klangcollage A Beast Washed Ashore oder in der Klavierballade Hung On A Thin Thread, Melancholie hat sich eingeschlichen.

Der einsame Klang einer Mandoline beschließt das Album, das doch so vielstimmig begonnen hatte. Plötzlich ist man wieder ganz allein auf dem Dachboden. „The howlin‘ wind ushered us to leave“, singt Casey Dienel. Leise schließt man die Kartons und Schubladen. Einige Geschichten müssen unerzählt bleiben.

„Phylactery Factory“ von White Hinterland ist als LP und CD bei Dead Oceans/Cargo erschienen.

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