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Weshalb Koalitions-Fragen nerven

Der verstorbene frühere FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff nannte einmal ein hübsches Beispiel für eine Journalistenfrage, die Politiker besser nicht beantworten sollten: „Haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen?“ Sagt der Politiker darauf ohne Nachzudenken „Ja“, bestätigt er indirekt, dass er ein gewalttätiger Ehemann ist. Sagt er hingegen „Nein“, weil er die Frage für absurd hält, outet er sich erst recht als Schläger.

Ähnlich verhält es sich mit dem in Wahlkampfzeiten beliebten Fragespiel: „Schließen Sie eine Koalition mit der Partei XY aus?“ Was soll ein Politiker, der halbwegs bei Trost ist, dazu anderes sagen außer einer Standard-Floskel in der Art: „Wir streben eine Koalition mit der Partei Z an. Aber wenn der Wähler anders entscheidet, werden wir uns Gesprächen mit anderen demokratischen Parteien nicht verschließen.“ Nur Politiker, die eigentlich gar nicht regieren wollen, werden die Frage bejahen.

Auf diese Weise kamen dieser Tage mal wieder Schlagzeilen zustande, Kanzlerin Merkel und Politiker der SPD schlössen eine Große Koalition im Fall der Fälle nicht aus, und führende Grünen liebäugelten heimlich mit Schwarz-Grün. Ja, was denn sonst? Sollen sie behaupten, sie gingen auf jeden Fall in die Opposition, wenn es für Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün bei der Bundestagswahl nicht reicht? Besonders der SPD würde man eine solche „Auschließeritits“ angesichts ihrer bescheidenen Umfragewerte als Realitätsverweigerung auslegen.

Also hat sich im Grunde nichts geändert: Die Wähler werden am 22. September nicht über eine Koalition entscheiden, sondern über die Zusammensetzung des Parlaments. Die Parteien werden dann versuchen, aus den entstandenen Mehrheitsverhältnissen eine Regierung zu formen. Das kann kompliziert werden, erst recht, wenn fünf, sechs oder sieben Parteien in den Bundestag einziehen. Deshalb sind alle Parteien gut beraten, sich andere als nur ihre Wunschoptionen offen zu halten, falls sie mitregieren möchten, und sich nicht an eine Partei zu ketten wie die FDP, die vor der Wahl eine Ampelkoalition formell ausschließen will. Und deshalb sollten Politiker bis dahin die unsinnige „Schließen-Sie-aus?“-Frage am besten nicht mehr beantworten. Die Wähler wissen es ohnehin besser.

 

Was ist bloß aus den US-Medien geworden?

Es war eine große Show, eine Serie von medialen Großereignissen. Aber man fragt sich nach drei intensiven TV-Debatten zwischen dem republikanischen Herausforderer Mitt Romney und US-Präsident Barack Obama dann doch: Was haben wir daraus eigentlich gelernt? Nicht ganz so einfach – denn die Erwartungen an diese Rededuelle im Wahlkampf sind enorm. Nähern wir uns der Antwort, indem wir zunächst grundsätzlich nach der Wirkung solcher Formate fragen.

Die empirische Forschung spricht dazu eine klare Sprache: TV-Duelle haben – wenn überhaupt – nur einen geringen Effekt. Mehr noch: Nach drei bis vier Tagen ist dieser normalerweise verblasst. Das gilt zumindest, wenn sich beide Kandidaten keine gravierenden Schnitzer erlauben. Im Falle der Debatten zwischen Obama und Romney jedoch zeigt sich ein differenziertes Bild: Die erste Runde konnte der Herausforderer überraschend positiv gestalten und für sich verbuchen. Die beiden folgenden Duelle hat Umfragen zufolge zwar Obama gewinnen können. Aber der Eindruck des ersten Duells bleibt nun schon seit mehreren Wochen der dominante: Obama und Romney bewegten sich auf Augenhöhe und tun dies nun auch in den Umfragen.

Zurück zur Ausgangsfrage: Was haben wir inhaltlich gelernt? Die erste Antwort muss lauten: nicht viel. Die Narrative der Debatte lassen sich wohl folgendermaßen darstellen: „Was Sie, verehrter Herr Kandidat, heute sagen, stimmt in keinster Weise mit dem überein, was Sie vor vier Wochen zu diesem Thema gesagt haben.“ – „Dies ist eine glatte Lüge.“ – „Die Zahlen, verehrter Herr Präsident, die Sie hier präsentieren, stimmen in keinster Weise mit den kürzlich veröffentlichten Zahlen aus Ihrem Hause überein.“ – „Ihre Additionen stimmen hinten und vorn nicht“ … Man kann den Gesprächsfaden beliebig weiterspinnen.

Den Mächtigen widersprechen

Dennoch war die Show erhellend, denn sie hat in einer seltenen Deutlichkeit die schwache Rolle der amerikanischen Medien gezeigt. Dass wir uns hier im Heimatland des kritischen, aufgeklärten Journalismus befinden, wurde in dieser Debattenphase in keiner Weise deutlich. Denn ebenso wichtig wie die Präsentation der Kandidaten selbst ist es, deren Aussagen hinterher einzuordnen und der Öffentlichkeit eine ausgewogene Einschätzung zu den diskutierten Themen zu bieten.

Wo aber waren hier die kritischen Journalisten in der Nachlese der Debatten (aber auch während der gesamten Kampagne)? Seit sich die Gründer der USA gegen den britischen König stellten, galt das „speaking truth to power“ als Lebenselixier, als Manifest der amerikanischen politischen Kultur: Unbequeme Wahrheiten müssen ausgesprochen werden, auch wenn sie den Mächtigen widersprechen mögen. Dies galt auch und vor allem als zentrales Element einer kritischen Presse – und genau dieser Aspekt ist über die vergangenen Jahre verlorengegangen.

Anstelle kritischer Berichterstattung, die bemüht ist, Fakten auf den Tisch zu bringen, ergehen sich die amerikanischen Medien mehr und mehr im sogenannten „Horse-race“-Journalismus. Nicht Sachfragen, etwa nach den angestrebten sozialen und wirtschaftlichen Reformen oder deren Finanzierung, werden gestellt; die brennenden Fragen sind vielmehr: Wer liegt in den Umfragen vorn? Wer war Sieger der Debatte? Dies zu diskutieren ist natürlich legitim, aber wenn solche Einschätzungen die sachorientierten Analysen fast völlig verdrängen, dann werden die Medien ihrem Anspruch nicht mehr gerecht. Nicht „truth to power“ wird mehr gesprochen, sondern eher „opinion to public“. Und gerade weil amerikanische Medien traditionell meinungsstark sind und beispielsweise bestimmte Kandidaten offen unterstützen und andere heftig kritisieren, lässt diese einseitige Art der Berichterstattung viele Zuschauer ratlos zurück.

Fact Checking oft ausgelagert

Um es klarzustellen: Dies ist keine Kritik an den Moderatoren der TV-Duelle. Vor allem Candy Crowley, die CNN-Moderatorin der zweiten Debatte, hat live vor Millionen von Zuschauern Darstellungen der Kandidaten richtiggestellt. Aber dies ist die Ausnahme – das sogenannte fact checking, eine Kernkompetenz der Medien, wird zunehmend ausgelagert. Unabhängige Organisationen nehmen sich dieser wichtigen Aufgabe an. Ihnen gebührt alle Ehre, hier wird hervorragende Arbeit geleistet – etwa wenn die Aussagen der Kandidaten anhand von Statistiken und früheren Verlautbarungen darauf geprüft werden, wie zutreffend beziehungsweise realistisch sie sind.

Hier beispielsweise das aktuelle Bild, das sich auf politifact.com ergibt:

Diese Website ist zugleich eines der seltenen Beispiele für ein Faktencheck-Portal, das von einer Zeitung betrieben wird. Andere sind hingegen an Forschungseinrichtungen angesiedelt (etwa factcheck.org) oder werden von – oftmals einem bestimmten Kandidaten zugeneigten – Organisationen betrieben (etwa actually.org).

Gemein ist ihnen allen, dass diese wichtige Form der „Nacharbeit“ die breite Öffentlichkeit nicht (mehr) erreicht. Sie wird kaum noch in die mediale Berichterstattung eingespeist. So ist ihr Stellenwert verglichen mit all dem, was das „horse race“ zu bieten hat, sehr gering. Was wir aus den TV-Duellen in diesem Wahlkampf gelernt haben, ist also in erster Linie, dass die Medien zwar starke Meinungen, nicht aber starke Analysen bieten.

 

Hallo Schloss Bellevue: Noch jemand da?

Lange nichts mehr gehört von Christian Wulff. Was macht er wohl so? Staatsbesuch bei den Scheichs, Sternsinger-Empfang, Neujahrsempfang – alles vorbei. Und jetzt?

Berater haben dem Bundespräsidenten offenbar empfohlen, erst mal auf Tauchstation zu gehen. Wulff entzieht sich der Medienmeute und dem Volk. Bis die ganze Sache vergessen ist.

Die Strategie scheint aufzugehen: Medien berichten mangels nennenswerter neuer Aufreger in der Causa Wulff nur noch über läppische Kleinigkeiten: hier ein geschenktes Bobby-Car für den Präsidenten-Nachwuchs, da ein Wiesn-Upgrade im Bayerischen Hof, dort doch Mitwirkung an der Sponsorensuche für eine Veranstaltungsreihe namens Nord-Süd-Dialog (hat nichts mit der Dritten Welt zu tun wie ehedem unter Willy Brandt). Ziemlich kleines Karo also. Und geeignet, bei Lesern das Gefühl zu wecken: Den Medien ist wirklich jedes Mittel recht, um Wulff zur Strecke zu bringen. Und bei manchem Journalisten wie Parteifreund macht sich offensichtlich Resignation breit: Der Mann sitzt das einfach aus!

Der CDU hat die leidige Affäre in den Umfragen bislang nicht geschadet, anders als dem Bundespräsidenten. Und Merkels bekannte Strategie des Abwartens hat sich wieder einmal bewährt. Bis jetzt, jedenfalls.

Dass Wulff vorerst verschwunden ist, fällt dabei nicht weiter auf. Er war ja schon vor seiner Affäre kaum sichtbar. Oder, wie der Satire-Kollege Hans Zippert schon vor Weihnachten in der Welt über den Bundespräsidenten schrieb: „Wulff schafft das Amt ab, indem er es ausübt.“

 

Wulff plagd: Die Rolle der „Bild“-Zeitung in der Präsidentenaffäre

Es gibt mittlerweile eine Internetseite, auf der versucht wird, den ominösen Mailbox-Anruf des Bundespräsidenten bei Bild-Chef Kai Diekmann zu rekonstruieren – im WulffPlag entsteht ein Puzzle aus den zahlreichen Bruchstücken, die Bild und der Springer-Verlag gezielt an eine Menge Journalisten bestimmter Medien und durch sie an die Öffentlichkeit haben durchsickern lassen.

Aus der Privataffäre von Christian Wulff und seiner anschließenden Schlammschlacht mit Deutschlands größten Boulevardblatt wird also eine digitale Schnitzeljagd, ähnlich wie im Fall der getürkten Doktorarbeit von Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg.

Ein klares Bild kann sich die Öffentlichkeit damit immer noch nicht machen. Zwar spricht nach Lektüre der auf der Internetseite gesammelten Wulff-Wortfetzen einiges dafür, dass er nicht nur – wie er behauptet – um Verschiebung des kritischen Bild-Berichts über seinen Hauskredit gebeten hat. Quelle sind aber letztlich allein die Bild-Zeitung und Springer, die als einzige über die Orginalabschrift verfügen. Die Drecksarbeit möchte Bild in diesem Fall allerdings ganz offensichtlich andere Medien und Internetjäger für sich erledigen lassen, um sich selber als vermeintlich seriöses Aufklärungsblatt zu profilieren.

Als weiteren Schritt dieses so perfiden wie durchsichtigen Spiels hat Bild dem Bundespräsident scheinheilig den Wortlaut seines Anrufs zukommen lassen, nebst begleitendem öffentlichem Tamtam, damit der seine angeblich verräterischen Worte möglicherweise selber veröffentlicht. Das ist also der neue Stil des Blattes: Die Opfer seiner Kampagnen sollen sich jetzt selber ans Messer liefern.

Wulffs Anwalt hat daraufhin – nicht ungeschickt – Wulffs früherem Haus- und Hofblatt gestern faktisch freigestellt, den Text abzudrucken. Worauf Springer/Bild natürlich nicht eingehen. Es wäre ja nicht in ihrem Sinne.

Nun springen die Wulffplag-Jäger ein und übernehmen den Job. Klüger wäre es, Wulff beendete das böse Spiel von Bild, um endlich das Heft des Handelns wieder in die Hand zu bekommen, und ließe den Text auf die Seite des Präsidialamtes stellen. So aber bleibt das Schicksal des deutschen Staatsoberhaupts in dieser (auch Medien-)Affäre womöglich in der Hand von Bild.

Selbst das hat sich Wulff selber zuzuschreiben. Er hat sich Jahre lang mit Bild eingelassen, weil es (auch) ihm nutzte, und war so naiv zu glauben, diese Liason hielte ewig. Auch so sind wohl seine zornigen Worte auf der Diekmann-Mailbox zu verstehen: als Ausdruck enttäuschter Liebe. Oder, wie es Ex-Bildblogger Stefan Niggemeier in seinem Blog kenntnisreich kommentiert: „Tödlich ist es, zu glauben, einen Pakt mit der „Bild”-Zeitung schließen zu können und davon am Ende profitieren zu können.“

PS: Wulff hat in seinem Fernsehinterview vergangene Woche volle Transparenz versprochen und dies gar als vorbildlich gepriesen. Anders als angekündigt, will er die 400 Fragen von Bild und seine Antworten sowie die zugrunde liegenden Dokumente indes nicht ins Internet stellen, wie wir heute erfahren. Jeder mache sich darauf seinen eigenen Reim.

 

Verlassen auf Schloss Bellevue

Die Affäre unseres Bundespräsidenten hat ganz offenkundig das finale Stadium erreicht. Nach seinem jüngsten Skandal im Skandal, seinem Angriff auf die Pressefreiheit, dämmert selbst den letzten in seiner Partei und wohl auch der Kanzlerin, dass Christian Wulff nicht mehr zu halten ist. Kaum einer aus den eigenen Reihen ergriff am Montag das Wort und stellte sich noch hinter ihn. Kein Wort mehr der Unterstützung aus dem Kanzleramt. Und auch heute: Schweigen. Es ist, so ist zu vermuten, die kurze Ruhe vor dem Ende.

Wie wollte, könnte man denn auch einen Bundespräsidenten noch verteidigen, der in seiner übergroßen Bedrängnis und Verzweiflung jede Kontrolle verliert? Ein Staatsoberhaupt, das seinem Amtseid zuwider handelt, die Verfassung zu achten und zu wahren, indem er die freie, kritische Berichterstattung über ihn selber zu verhindern trachtet? Und der offensichtlich niemanden hat, der ihn daran hinderte, seine Kriegserklärung ausgerechnet gegen die Bild-Zeitung, sein früheres Haus- und Hofblatt, das seine Affäre öffentliche machte, auch noch auf der Mailbox des Chefredakteurs zu hinterlassen. Von wo sie, wie nicht anders zu erwarten, irgendwann ebenfalls den Weg in die Öffentlichkeit fand.

Nun steht Wulff einsam und verlassen da. Und es ist wohl nur noch eine Frage kurzer Zeit, bis Angela Merkel den Daumen senkt. Diese Affäre ist nicht mehr zu beherrschen; sie wird, je länger sie dauert, zur Krise auch der Kanzlerin, die Wulff als Präsidenten erkoren hat. Das dürfte auch Merkel inzwischen so sehen.

Intern gehen viele Parteifreunde und CDU-Abgeordnete spätestens seit Montag deutlich auf Distanz. Sie sind entsetzt über Wulffs stümperhaftes Krisenmanagement, selbst wenn sie seine dubiosen Privatgeschäfte mit Wirtschaftsfreunden und seine Anfälligkeit für die Verlockungen der Macht und des Luxus‘ lange Zeit allenfalls mit Stirnrunzeln betrachtet hatten. Hatte Merkel diesen Mann nicht gerade deswegen ins höchste Amt gehoben, weil er ein Politprofi zu sein schien; einer, von dem sie keine Gefahr witterte nach der schlechten Erfahrung mit seinem Vorgänger, dem Politik-Neuling Horst Köhler? Und jetzt das!

Ihr Kalkül dürfte daher nun einfach sein: Schadet es ihr und der Koalition mehr, wenn Wulff trotz allem im Amt bleibt? Oder ist der Schaden größer, wenn – nach nur anderthalb Jahren – der zweite Bundespräsident ihrer Wahl stürzt? Und sie sich nicht sicher sein kann, einen dritten durch die Bundesversammlung zu bringen.

Die Opposition hält sich weiter auffallend zurück. SPD-Chef Sigmar Gabriel dürfte indes inzwischen sein Persilschein für Wulff reuen. Die Staatskrise, die er für den Fall an die Wand malte, dass schon wieder ein Bundespräsident gehen muss, ist längst da.

 

Agenda Setting und Soziale Medien – Der Fall Guttenberg(s)

von Stefan Collet

Die politische Bühne Berlins hat einen Politikstar weniger, nachdem Freiherr Karl-Theodor zu Guttenberg gestürzt ist. Gestürzt ist er dabei zunächst über das Heer der Wissenschaftler und Intellektuellen, am Ende jedoch über seine eigenen Ansprüche, über vermeintlich adelige Tugenden wie Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit – und über das Internet. Denn ohne den Dauerbeschuss über Facebook, Twitter und Guttenplag Wiki wäre es nicht in der Schnelligkeit zum Absturz des ehemaligen Verteidigungsministers gekommen. Unterschätzt hat Guttenberg aber nicht nur die Schwarmintelligenz aus der Online-Welt, sondern auch die geballte Kraft der „klassischen“ Medien, die die Kritik an die oberste Stelle ihrer Medienagenda transportiert haben.

Der Fall Guttenberg wirft wieder einmal die Frage auf, welches Potenzial die Sozialen Medien als Agenda Setter besitzen. Ein Blick auf Parallelen zu den Affären um Wikileaks oder den stark netzwerkbasierten Initiativen bei der Online-Petition gegen die Sperrung von Internetseiten mit kinderpornografischem Inhalt in Deutschland 2009 sowie der Studentenproteste „Unibrennt“ in Österreich 2009 scheint die Frage von selbst zu beantworten. Und auch bei den revolutionären Umstürzen in Nordafrika Anfang 2011 hatten Youtube und Twitter die zentrale Funktion, zusätzliche Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit zu erregen und den Protest aus der Offline-Welt auf die Straße zu tragen. All diese Fälle zeichnen sich mehr oder weniger durch einen Dreiklang aus, der notwendige Bedingung für das Agenda Setting von sozialen Netzwerken ist: eine hohe Vernetzungsdichte, hohe Spontanaktivität und die Erregung von kreisender Aufmerksamkeit (siehe dazu die Ausführungen von Peter Kruse im Deutschlandradio). Dieser Dreiklang führt zusammen genommen zu einem großen Resonanzboden in der Netzwelt.

Entscheidend ist jedoch, ob die klassischen Medien diesen Resonanzboden aufgreifen (müssen), ihn auf ihrer Medienagenda nach oben setzen und dadurch wiederum stark die Publikumsagenda (Relevanzliste politischer Themen der Bevölkerung) beeinflussen. Diese kausalen Zusammenhänge lassen sich am Awareness-Salience-Priorities-Modell von Shaw und McCombs (1977; vgl. auch Maurer 2010) veranschaulichen: Zunächst werden Rezipienten durch die Medienberichterstattung auf ein Thema aufmerksam (Awareness). Mit zunehmender Intensität der Berichterstattung steigt das Thema auch auf der Prioritätenliste in der Publikumsagenda auf und konkurriert vorerst mit anderen Themen (Salience), bis es sich von ihnen abhebt und exakt die Rangfolge der Medienagenda widerspiegelt (Priorities). Aus diesem Zusammenspiel von Medienagenda und Publikumsagenda resultiert dann ein Agenda-Setting-Effekt.

Abbildung 1: Awareness-Salience-Priorities-Modell nach Shaw und McCombs 1977 (eigene Darstellung)

Im Fall Guttenberg – und auch mehr oder weniger in den anderen oben genannten Fällen – ist genau das geschehen: Guttenplag Wiki und der offene Brief der ca. 30.000 Doktoranden an Frau Dr. Angela Merkel hätten nicht diese öffentliche Aufmerksamkeit erzielt, wenn die klassischen Medien diese beiden online-basierten Bewegungen nicht aufgesogen, nicht kanalisiert und sie dadurch nicht nach und nach auf der Publikumsagenda nach oben getrieben hätten. Hinzu kam ein Gelegenheitsfenster, das sich öffnete, da Guttenberg einerseits durch die Bundeswehraffären angezählt war und andererseits durch seinen unbedachten Umgang mit der Hauptstadtpresse diese zusätzlich gegen sich aufbrachte. Um erfolgreiches Agenda Setting aus den Sozialen Medien heraus betreiben zu können, genügt es also nicht, nur auf die Masse der User zu setzen (vgl. Schmidt 2009). Deutlich wird dies an dem Online-Hype, der unmittelbar nach dem Rücktritt Guttenbergs zu beobachten war: Innerhalb kürzester Zeit schossen die Unterstützerzahlen der Facebook-Gruppe „Wir wollen Guttenberg zurück“ in die Atmosphäre – am Tag des Rücktritts kamen im Minutentakt 1000 neue hinzu. Mittlerweile vereint die Gruppe über 580.000 Guttenberg-Anhänger und kann damit eine ungleich größere Vernetzungsdichte als die mittlerweile ca. 65.000 Doktoranden für sich reklamieren. Und auch an hoher Spontanaktivität mangelt es nicht, schaut man sich bspw. den Versuch der Guttenberg-Fangemeinde an, den Tagesschau-Server lahmzulegen oder in der realen Welt in 20 Städten Deutschlands für den Baron zu demonstrieren.

Was ihr aber fehlt: Das Gelegenheitsfenster und die zusätzliche Erregung von Aufmerksamkeit beim Publikum und den klassischen Medien, die nur den Rücktritt und seine Folgen analysierten und mittlerweile eher neutral und vereinzelt über die Vorgänge in der Netzwelt berichten. Außerdem bietet die große Pro-Guttenberg-Community kein issue mehr an, das vom Mediensystem stark nachgefragt wird. Und letztlich wird nach dem Rücktritt Guttenbergs aufgrund von fehlender Awareness auch in den Köpfen der Bevölkerung Platz für neues geschaffen und so verschwindet das Thema auch wieder rasch von der Publikumsagenda – und es wird wieder über die Aufstände in Libyen, das Biosprit-Debakel und Germany’s Next Topmodell berichtet.

Literatur:

Maurer, Marcus (2010): Agenda Setting, Nomos, Baden-Baden.

Schmidt, Jan (2009): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.

Shaw, D. L. and McCombs, M.E. (1977): The Emergence of American Political Issues: The Agenda-Setting Function of the Press. St. Paul: West.

Der Autor:

Stefan Collet arbeitet als Research Associate an der Hertie School of Governance zum Thema Politikberatung. Sein Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre absolvierte er an der Philipps-Universität Marburg und der Stellenbosch University South Africa. Er ist Mitinitiator des Politjournals 360°.

 

Wikileaks und offene Daten – zwei Seiten einer Medaille?

Gastbeitrag von Christoph Bieber

Was haben die „Enthüllungsplattform“ Wikileaks und die scheinbar nur für Verwaltungsexperten und Programmierer interessanten E-Government-Angebote wie data.gov, data.gov.uk oder bund.offenerhaushalt.de miteinander gemein? Auf den ersten Blick nicht viel, doch bei einem Vergleich der Konstruktionsprinzipien zeigen sich durchaus Ähnlichkeiten: In beiden Fällen geht es um „offene Daten“, die Verfügbarmachung und Verbreitung großer Informationsmengen, ganz gleich ob als subversive Enthüllung oder kontrolliertes Leck.

Folgerichtig entwickelt sich in den USA bereits eine Debatte um die Frage, ob Wikileaks in das Modell des „Open Government“ passt (vgl. Alex Howard, Is Wikileaks Open Government?). In Deutschland dominieren dagegen die Bestürzung über die unverblümten Einschätzungen des politischen Spitzenpersonals sowie eine diffuse Empörung über das Internet als sprudelnder Datenquelle. Immerhin, in der öffentlichen Debatte wird Wikileaks als Akteur nun etwas mehr Respekt entgegengebracht – in den Affären um die Publikation geheimer Militärdokumente galt das Netzwerk um Julian Assange eher als medialer Emporkömmling mit unklarem Antrieb. Besonders pointiert vorgetragen wurde die Frage nach dem Bedeutungsverlust der alten Medien durch den New Yorker Journalismus-Forscher Jay Rosen, der Wikileaks als neuartige „stateless news organization“ bezeichnet hatte.

Die ersten beiden Publikationswellen waren deutliche Hinweise darauf, dass die technologisch veränderten Möglichkeiten zur Dokumentenerstellung, -vervielfältigung und -weitergabe für eine „Konjunktur des Lecks“ sorgen. Hier liegt im Übrigen eine bislang noch kaum beachtete Differenz zu den „War Logs“ aus Afghanistan und Irak: Waren damals auch multimediale Dokumente veröffentlicht worden, handelt es sich bei den diplomatischen „Kabeln“ bislang offenbar um pures Textmaterial. Gerade hier sind gemeinschaftliche Anstrengungen notwendig, um sich mit der immensen Materialmenge überhaupt beschäftigen zu können. Profiteure sind hier nicht allein Journalisten und interessierte Bürger, sondern auch Wissenschaftler. So gerät der britische Historiker Timothy Garton Ash angesichts dieser Quellenflut regelrecht ins Schwärmen:

„In den nächsten Wochen können wir uns auf ein mehrgängiges Festmahl zur Geschichte der Gegenwart freuen. Ein Historiker muss normalerweise 20 bis 30 Jahre warten, um solche Schätze zu finden. Hier sind die jüngsten Berichte kaum älter als 30 Wochen. Diese Fundgrube enthält mehr als 250.000 Dokumente. (…) Wie alle Archivforscher wissen, eröffnet die Untersuchung großer Datenmengen neue Einsichten – seien es die Briefe eines Schriftstellers, Unterlagen aus einem Ministerien oder diplomatischer Schriftverkehr. Das gilt auch dann, wenn vieles nur Routinematerial ist, denn ein langes Eintauchen in den Stoff schärft den Sinn für Prioritäten, Charakter und Denkmuster.“

Eine zweite Unterscheidung liegt in der Verortung des geleakten Materials innerhalb des politischen Systems: Aus politikwissenschaftlicher Perspektive können die ersten beiden „Datenhaufen“ als ein Leck im policy-Bereich verstanden werden, denn im Mittelpunkt stand die Einflussnahme auf konkretes außenpolitisches Handeln mit dem Ziel der Diskreditierung der militärischen Konflikte als legitimes politisches Mittel. Die dritte durch Wikileaks geöffnete Material-Fundgrube enthält (sofern man das bisher sagen kann) dagegen eher Informationen aus dem politics-Bereich und wirft Licht auf die Art und Weise, wie innerhalb und zwischen politischen Organisationen und Institutionen kommuniziert worden ist. Die Orientierung auf den politischen Prozess verschiebt auch die Bedeutungsebene dieses dritten Lecks – die ersten beiden Veröffentlichungswellen dürften sich in der Rückschau als die brisanteren erweisen.

Offene Daten-Plattformen als kontrollierte Lecks?

Man darf also vermuten, dass das „Leck“ als Standardsituation öffentlicher Kommunikationsprozesse vor einer großen Karriere steht. Nicht zuletzt, weil dafür auch einige Projekte sorgen, die auf Regierungsseite vorangetrieben werden und sich ebenfalls mit der gezielten Veröffentlichung großer Datenmengen befassen – gewissermaßen ein bewusstes „leaking“ durch staatliche Stellen. Beispiele für diese „Open Data“-Initiativen sind Portale wie data.gov in den USA oder data.gov.uk in Großbritannien. In Deutschland zielt offenerhaushalt.de in eine ähnliche Richtung, ist im Gegensatz zu den vorgenannten jedoch kein offizielles Regierungsprojekt.

Auch diese Leuchtturmprojekte dokumentieren einen veränderten Umgang mit öffentlich verfügbaren Daten und Informationsmaterial – und wie bei Wikileaks stehen dabei radikale Publizität und Transparenz im Vordergrund. In einem offenen, auf Kollaboration angelegten Arbeitsumfeld sollen neue Produkte und Dienstleistungen entstehen, die der Allgemeinheit zugute kommen und staatliche Akteure in der Ausübung ihrer Tätigkeiten unterstützen. Der Ansatz dieses „Open Government“ überträgt die Ideen des auf Offenheit, Beteiligung und Rekombination ausgelegten Web 2.0 in die Umgebung regierungsgebundener Dienstleistungen. Und auch hier geht es um eine Verschiebung von Machtstrukturen, schreiben die Management- und Verwaltungswissenschaftler Ai-Mei Chang und P. K. Kannan: „Aus einer Perspektive der Regierungsinstitutionen zielen Fragen zur gemeinsamen Entwicklung von Services und Regulierungsfragen auf (1) die Machtverschiebung in Richtung der Nutzer sowie (2) das Verhältnis zwischen Nutzern und externen Organisationen, die als Vermittler für andere auftreten.“

Wesentliche Triebfeder für Projekte mit offenen Daten ist die Idee der Co-Creation neuer Inhalte im Rahmen flexibler, datengestützter Kooperationen zwischen Bürgern und öffentlichen Akteuren. Ziel ist dabei nicht etwa eine vertragsbasierte Zusammenarbeit, sondern die Hoffnung auf individuelle Weiterentwicklungen und Re-Kombinationen der öffentlich verfügbaren Daten durch Dritte. Auffallend ist dabei auch, dass bereits mehrere Non-Profit-Organisationen den Datenreichtum solcher staatlichen Repositorien systematisch auszuschöpfen versuchen. Dazu zählen die „Open Knowledge Foundation“ mit Sitz in England und Wales, die US-amerikanische „Sunlight Foundation“ und auch die deutschen Netzwerke „Open Data e.V.“ und Government 2.0 e.V.

Sichtbar wird hier eine starke Verankerung in einer „digitalen Zivilgesellschaft“, deren Akteure als Übersetzer tätig werden und mit Hilfe von Auswertungen und Visualisierungen die Informationen einem größeren Publikum zugänglich machen. Zugleich stehen sie damit aber auch öffentlichen Verwaltungsstrukturen helfend zur Seite, denn aufgrund begrenzter Ressourcen sind die Behörden oft nicht in der Lage, die enormen Datenmengen ausführlich zu erschließen und aufzubereiten.

Das Konstruktionsprinzip der Plattformen, die in den USA und auch in Großbritannien sehr positiv aufgenommen wurden, weist also tatsächlich einige Ähnlichkeiten mit der ursprünglichen „Geschäftsidee“ von Wikileaks auf. Schließlich hatte die Nicht-Regierungsorganisation ihre Arbeit zunächst als offene Plattform zur Verbreitung von Informationen begonnen, von dem bereit gestellten Rohmaterial sollten Dritte profitieren und durch eine Weiterbearbeitung der Daten einen gesellschaftlich relevanten Mehrwert generieren – erst mit der Publikation der „Afghan War Logs“ wandelte sich dieses Selbstverständnis hin zu einem eher investigativ-journalistisch handelnden Akteur mit einer eigenen politischen Agenda.

Dennoch basieren „Enthüllungs-Website“ und „Verwaltungs-Plattform“ auf ganz ähnlichen Funktionsprinzipien: Sie machen umfangreiche Datenmengen einer größeren Zahl von Menschen zugänglich, und sie erlauben denjenigen, die über die nötigen Kompetenzen und eine individuelle Motivation verfügen, einen kreativen Umgang damit. Somit entsteht in beiden Fällen die Grundkonstellation für eine innovative, online-basierte Politik- bzw. Gesellschaftsberatung.

Interessanterweise scheinen die offiziellen Regierungs-Aktivitäten einer offeneren Struktur zu folgen, als das weder hierarchiefreie noch transparent arbeitende Wikileaks-Netzwerk. Bei den Verwaltungsplattformen steht tatsächlich der Gedanke einer offenen, gleichberechtigten Kollaboration im Vordergrund. In einer sehr vorläufigen und durchaus paradoxen Schlussthese könnte man also festhalten: Während die Regierungsplattformen eher als ein (ergebnis-)offener Prozess der Gesellschaftsberatung zu charakterisieren sind, lassen sich die Bemühungen von Wikileaks als eine in zielgerichtetes Beratungshandeln verkleidete Intervention verstehen, wobei eine bestehende Agenda unter Nutzung vernetzter medialer Öffentlichkeiten gegenüber politischen Akteuren durchgesetzt werden soll.

Textnachweis

Der Text ist eine gekürzte, aktualisierte Fassung des Beitrags „Offene Daten – neue Impulse für die Gesellschaftsberatung? Die Online-Plattformen Wikileaks.org und Data.gov als internet-basierte Gestaltungsöffentlichkeiten“, der in der kommenden Ausgabe der Zeitschrift für Politikberatung erscheint (Nr. 3/4, 2010).

Der Autor

Dr. Christoph Bieber ist Politikwissenschaftler an der der Justus-Liebig-Universität Gießen, bei Twitter hört er auf den Namen @drbieber. Im Oktober ist sein Buch „politik-digital. Online zum Wähler“ im Blumenkamp Verlag erschienen.

 

All the news that’s fit to print? Die Verständlichkeit der Berichterstattung zur Bundestagswahl 2009 in ausgewählten Print- und Online-Medien

Die Verständlichkeit der politischen Medienberichterstattung ist eine zentrale Voraussetzung für das Funktionieren und die Legitimität moderner Demokratien. Dieser Zusammenhang wurde von Toni Amstad im Rahmen seiner Verständlichkeitsanalyse von Schweizer Tageszeitungen bereits Ende der 1970er Jahre treffend auf den Punkt gebracht: „Was nützt Entscheidungsfreiheit, wenn über Dinge entschieden werden soll, über die ein erheblicher Teil der Bürger nicht in verständlicher Weise – und damit nur schlecht oder überhaupt nicht – informiert ist?“

Das Problem stellt sich dabei als umso relevanter dar, je wichtiger die betreffende Berichterstattung für die Wahlentscheidung der Bürger ist. Eine Studie der Universität Hohenheim hat deshalb nun die Verständlichkeit der Berichterstattung von drei wichtigen Meinungsführermedien (BILD, Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung) in den vier Wochen vor der letzten Bundestagswahl analysiert. Hierbei wurden nicht nur die Print-, sondern auch die jeweiligen Online-Ausgaben der drei Medien untersucht.

Betrachtet man die Ergebnisse der Hohenheimer Studie, so lässt sich zunächst feststellen, dass die BILD-Zeitung erwartungsgemäß verständlicher abschneidet als die beiden anderen Medien. So erreichen die BILD-Artikel auf einer Skala von 0 (kaum verständlich) bis 100 (sehr verständlich) im Durchschnitt einen Wert von 61 Punkten, die übrigen Artikel hingegen einen Wert von 54 (Spiegel) bzw. 53 (Süddeutsche). Auch die hiermit verbundenen Bildungsvoraussetzungen wurden von den Hohenheimer Forschern prognostiziert: Demnach dürfte etwa ein Viertel der Artikel aus Spiegel und Süddeutscher Zeitung für Hauptschul-Absolventen eine Überforderung darstellen, bei der BILD-Zeitung hingegen nur fünf Prozent der Artikel.

Ähnliche Befunde ergeben sich für die Online-Portale der drei Medien. Auch hier schneidet die bild.de (57 Punkte) verständlicher ab als spiegel.de (51) und sueddeutsche.de (53). Entgegen den ursprünglichen Erwartungen der Forscher fiel die Verständlichkeit von zwei der drei Online-Portale damit jedoch geringer aus als die ihrer jeweiligen Print-Varianten. So lag selbst bei bild.de der Anteil an Artikeln, für deren Verständnis die Hohenheimer Forscher eine Mittlere Reife als Mindestvoraussetzung ansehen, bei 12 Prozent, bei spiegel.de sogar bei einem Drittel.

Einen wichtigen Grund für die teilweise geringe Verständlichkeit der untersuchten Artikel sehen die Forscher in unnötig komplexen Satzstrukturen. So lag die mittlere Satzlänge bei Spiegel und Süddeutscher Zeitung bei etwa 15 Wörtern pro Satz. Die Empfehlung der dpa für eine optimale Verständlichkeit liegt jedoch bei nur neun Wörtern pro Satz. Es lässt sich zudem nachweisen, dass Leser in einer Verarbeitungseinheit maximal neun Wörter aufnehmen können. Sätze, die diese Länge überschreiten, müssen demnach zwischengespeichert werden und führen so zu einer höheren kognitiven Belastung, insbesondere bei komplexen Themen wie Politik.

„All the news that’s fit to print”? Überträgt man das Leitmotiv der New York Times auf die hier betrachteten deutschen Medien, so lässt sich festhalten: Für einen nicht unbedeutenden Teil der deutschen Wahlbevölkerung dürfte die Berichterstatttung zur Bundestagswahl teilweise überwindbare Verständlichkeitshürden enthalten haben. Dass sich dieser Befund nicht nur auf Spiegel und Süddeutsche Zeitung beschränkt, sondern in abgeschwächter Form auch für die BILD-Zeitung gilt, sollte deren Machern zu denken geben.

Weiterführende Links

PolitMonitor: http://www.polit-monitor.de

Homepage des Hohenheimer Fachgebiets: http://komm.uni-hohenheim.de

 

Nach der Wahl ist vor der Wahl? Die Parteien-Kommunikation vor und nach der Bundestagswahl 2009

Moderne Wahlkämpfe finden unter Vielkanalbedingungen statt. Im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen hat insbesondere die Verbreitung des Internets zu einer Vervielfachung der Kommunikationskanäle zwischen Parteien und Wählern beigetragen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern sich die Qualität und die Inhalte heutiger Parteien-Kommunikation in der Wahlkampfphase verändern. Können die Anforderungen eines professionellen Themenmanagements von den Parteien angesichts des enormen Aufwands einer Wahlkampfkommunikation unter Vielkanalbedingungen erfüllt werden? Oder allgemeiner: Wie beeinflusst der Wahlkampf die Themensetzung und die Qualität der Parteienkommunikation?

Dieser Frage sind Wahlkampfforscher der Universität Hohenheim nun erstmals nachgegangen. Hierfür wurden alle Pressemitteilungen und Homepage-News der sechs Bundestagsparteien von Juni 2009 bis März 2010 einer Themen- und Lesbarkeitsanalyse unterzogen. Für den Vergleich zwischen Wahlkampfphase und „Normalphase“ wurde hierbei jedoch die zweimonatige „Übergangsphase“ nach dem Wahltermin (in die Regierungsbildung, Koalitionsvertrag und die Aufnahme der Regierungsgeschäfte fielen) ausgeklammert, um kommunikative Nachwirkungen des Wahlkampfs in der Nachwahlzeit möglichst gut ausklammern zu können.

Die Ergebnisse der Hohenheimer Forscher sprechen dafür, dass die Parteien im Bundestagswahlkampf 2009 gegen zentrale Regeln des Themenmanagements im Wahlkampf verstießen. So zeigte sich zunächst, dass bei keiner der untersuchten Parteien eine verstärkte Konzentration und Fokussierung auf wenige Kernthemen zu beobachten war. Im Gegenteil: Betrachtet man die Kommunikation über inhaltliche Themen (und klammert den beträchtlichen Anteil der Wahlkampfkommunikation zum Thema „Wahlkampf“ selbst aus), so verteilt sich die Parteienkommunikation im Wahlkampf bei allen Parteien ausgewogener über die unterschiedlichen Themenkategorien als in der Vergleichsphase nach der Bundestagswahl. Und auch unter Einbeziehung des Themas „Wahlkampf“ in die Analyse kommt es bei keiner Partei zu einer stärkeren Themenfokussierung vor der Wahl (der Fokussierungsgrad vor und nach der Wahl fällt dann sehr ähnlich aus).

Auch die Verständlichkeit der Parteienkommunikation ist im Wahlkampf nicht höher als sonst. Lediglich bei der SPD zeigten sich in der Wahlkampfphase etwas höhere Ausprägungen der Werte des sog. Hohenheimer Verständlichkeitsindexes, der auf der Grundlage der durchgeführten Lesbarkeitsanalyse berechnet wurde. Bei allen anderen Parteien wurden die jeweils dominanten Themen im Wahlkampf ähnlich verständlich oder sogar unverständlicher dargestellt als nach der Wahl. Auch bei ihren „Kernkompetenz-Themen“ schneiden nicht alle Parteien verständlicher ab als die Konkurrenz. So belegen die beiden Unionsparteien die letzten beiden Plätze beim Thema Wirtschaftspolitik, die SPD den vorletzten Platz beim Thema Sozialpolitik. Lediglich der Linkspartei bzw. der FDP gelingt es beim Thema Sozialpolitik bzw. Wirtschaftspolitik den Spitzenplatz im Ranking des Hohenheimer Verständlichkeitsindexes zu ergattern.

Nur in einem Punkt wurden die ursprünglichen Erwartungen der Hohenheimer Forscher bestätigt: Mit Ausnahme der CDU kommunizieren alle Parteien im Wahlkampf häufiger als sonst über eines ihrer Kernkompetenz-Themen. Besonders deutlich zeigte sich dieser Effekt bei der CSU (Wirtschaftspolitik) und der SPD (Bildungspolitik), schwächer auch bei FDP (Steuerpolitik), Grünen (Umweltpolitik) und Linken (Sozialpolitik). Gewisse Richtlinien des Themenmanagements scheinen den Parteien also durchaus bekannt zu sein. Sie täten jedoch gut daran, bis zur nächsten Bundestagswahl auch die übrigen Regeln zu lernen.

P.S.: Die Daten zur Hohenheimer Studie stammen alle aus dem öffentlich zugänglichen Langzeit-Projekt „PolitMonitor“ , das die Parteienkommunikation auf monatlicher Basis erhebt und auf Themen, Verständlichkeit und Vokabular analysiert.

 

Merkel drückt sich

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Mehr als 3000 Fragen an die Spitzenkandidaten haben Internetnutzer in den vergangenen Wochen auf der Website „Erst fragen, dann wählen“ eingereicht – einem Gemeinschaftsprojekt von ZEIT ONLINE, dem ZDF und der VZ-Gruppe (das heißt StudiVZ und meinVZ, die wie ZEIT ONLINE zur Holtzbrinck-Gruppe gehören). Am 19. und 20. September werden die Fragen, die von den den Nutzern als am wichtigsten bewertet wurden (noch kann man abstimmen), den Spitzenkandidaten der sechs Bundestagsparteien zur Beantwortung vorgelegt – live im Fernsehen (Samstag, 13 Uhr und Sonntag, 16 Uhr im ZDFinfokanal; die Höhepunkte werden Sonntagabend um 23.25 Uhr im ZDF gezeigt).

Alle Spitzenkandidaten haben die Einlandung in diese ungewöhnliche Sendung angenommen – außer eine: Angela Merkel. Offenbar ist die CDU-Chefin fest entschlossen, bis zur Wahl jeder direkten Konfrontation mit ihren Konkurrenten aus dem Weg zu gehen. Denn nicht nur die Aktion „Erst fragen, dann wählen“ wird – höchstwahrscheinlich – ohne Merkel stattfinden. Zuvor hatte die Kanzlerin schon zwei Elefantenrunden in der ARD und eine weitere im ZDF platzen lassen (wobei SPD-Kandidat Steinmeier die ARD-Runde noch vor Merkel abgesagt haben soll.) Beide Sendungen wurden gleich ganz aus dem Programm genommen.

Bild 2Das wird mit „Erst fragen, dann wählen“ nicht passieren – die Sendung wird in jedem Fall ausgestrahlt, notfalls bleibt der CDU-Stuhl eben leer. Vielleicht hilft ja aber auch die neueste Aktion auf den VZ-Netzwerken, die Kanzlerin umzustimmen (siehe Screenshot): Seit gestern können StudiVZ/meinVZ-User Merkel per Mausklick dazu auffordern, doch noch zu erscheinen. Ob sie sich überzeugen lässt? Schau‘ mer mal.