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Merkel macht’s: Eine Prognose zum Wahlausgang

Bei der Bundestagswahl im Herbst zeichnet sich eine neue Mehrheit ab unter Leitung der amtierenden Regierungschefin. Die Deutschen mögen Merkel. Die aktuellen Popularitätswerte der ersten Kanzlerin in der Geschichte der Bundesrepublik sind im Vergleich zu denen ihres Herausforderers, Frank-Walter Steinmeier, auf einem historischen Hoch. Seit der Wiedervereinigung war der Abstand zwischen den Popularitätswerten eines amtierenden Kanzlers und des Herausforderers noch nie so groß gewesen. Sofern die Popularitätsraten der Spitzenkandidaten vom Frühjahr stabil bleiben, wird Merkels Popularität entscheidend sein, um einer von ihr geführten CDU/CSU-FDP-Koalition eine absolute Mehrheit der Zweitstimmen zu sichern.

Diese Einsicht verdanken wir einem von uns entwickelten Prognosemodell, das sich bei den letzten beiden Bundestagswahlen bewährte. Abgeleitet von theoretischen Ansätzen zur Erklärung von Wahlverhalten haben wir ein statistisches Modell entwickelt, das bereits im Sommer vor den letzten beiden Bundestagswahlen 2002 und 2005 exakte Vorhersagen liefern konnte und auf den richtigen Sieger tippte, während die Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute, basierend auf den Umfragewerten der Parteien, daneben lagen. Unser Verfahren lieferte einen Monat vor der Wahl sogar genauere Werte für die Regierungskoalitionen als alle etablierten Meinungsforschungsinstitute, einschließlich deren 18-Uhr-Prognosen am Wahlabend selbst.

Für die Entwicklung unseres Vorhersagemodells fragten wir uns, was wir aus den zurückliegenden Bundestagswahlen in der Geschichte der Bundesrepublik lernen können. Uns interessierte dabei besonders der gemeinsame Stimmenanteil der jeweiligen Regierungskoalition. Dies verwandelt die Wahlentscheidung zwischen beliebig vielen Parteien in zwei handliche Hälften: die Wahl für oder gegen die Regierung. Weil die amtierende Regierung sich selbst als Notlösung sieht, nachdem keines der politischen Lager 2005 eine Regierungsmehrheit auf sich vereinen konnte, sagen wir für die kommende Bundestagswahl den Stimmenanteil der von der Kanzlerinnenpartei präferierten Regierungskoalition bestehend aus CDU, CSU und FDP voraus.

Ob auf einen Sieg einer solchen Koalition gehofft werden darf, erklären wir mit dem Zusammenwirken von lang-, mittel- und kurzfristigen Einflussfaktoren. Da ist zunächst erstens der langfristige Wählerrückhalt der Regierungsparteien – gemessen als durchschnittlicher Wahlerfolg bei den vorangegangenen drei Bundestagswahlen. Hinzu kommt zweitens der mittelfristig wirksame Prozess der Abnutzung im Amt – gemessen durch die Zahl der Amtsperioden der Regierung. Drittens geht die Popularität des amtierenden Kanzlers ein, gemessen als mittlerer Wert jeweils ein und zwei Monate vor einer Bundestagswahl. Mit Hilfe statistischer Analyseverfahren können wir das Zusammenwirken dieser drei Faktoren und deren Gewichtung für die Stimmabgabe zu Gunsten einer Regierungskoalition äußerst genau bestimmen.

Bis auf den Wert der Kanzlerunterstützung kurz vor der Wahl liegen alle benötigten Modellwerte bereits vor. Es ist jedoch noch nicht möglich, schon heute eine exakte Prognose für den Ausgang der Bundestagswahl im Herbst zu erstellen. Die kann es nach der Logik unseres Modells erst Mitte August geben. Allerdings können wir auf Grund hypothetischer Popularitätswerte der Bundeskanzlerin, die sie kurz vor der Wahl im Vergleich zu Ihrem Herausforderer genießen könnte, schon heute sehen, welches Ergebnis unser Modell dann vorhersagen würde.

Nach den letzten veröffentlichten Politbarometern vom Mai und Juni, bereinigt um die Unentschlossenen, liegt die Zustimmungsrate für Merkel bei 65 Prozent. Steinmeier rangiert dagegen nur bei 35 Prozent. Bliebe es dabei, würde unser Prognosemodell komfortable 50,6 Prozent für das schwarz-gelbe Lager vorhersagen. Damit würde es für einen Regierungswechsel für eine CDU/CSU-FDP-Koalition nach der Wahl im September reichen.

 

Wie die Wirtschaftskrise doch noch die Wahl beeinflussen kann

Die Wirtschaftskrise nutzt bisher vor allem der Union. Aber wenn die Arbeitslosigkeit deutlich steigt und die Angst in der Bevölkerung wächst, könnte sich das ändern.

Auf die Finanzkrise folgte die staatliche Bankenrettung; auf die Wirtschaftskrise folgten staatliche Bürgschaften für Unternehmen. Der Staat greift wieder aktiv ein, nach sozialdemokratischer Manier. Gegeißelt werden „gierige“ Manager, der Kapitalismus gerät in die Kritik. Was läge da näher als Verluste für bürgerliche Parteien, die zumeist als wirtschaftsnah gelten, und Gewinne für linke Parteien?

Fortsetzung hier auf Zeit Online.

 

Das Kieler Landeshaus im Schatten des Berliner Reichstags?

Gut zwei Monate vor der Bundestagswahl hat das landespolitische Geschehen in Schleswig-Holstein die Bundespolitik wenigstens für den Moment aus dem Zentrum des öffentlichen Interesses verdrängt. Bedenkt man, dass eine Landesregierung, überdies eine, die von den gleichen Parteien getragen wird wie die Bundesregierung, auf des Messers Schneide steht, ist das nur allzu verständlich. Wie diese Krise ausgehen wird und ob der schleswig-holsteinische Landtag den Weg für eine Landtagswahl am 27. September ebnen wird, lässt sich im Moment nicht absehen. Dies gilt umso mehr, als geheime Abstimmungen gerade im nördlichsten Bundesland zu erheblichen Überraschungen führen können. Sollte es tatsächlich zu einer vorgezogenen Landtagswahl kommen, stellt sich freilich die Frage, ob das Zusammentreffen von Landes- und Bundestagswahl Konsequenzen für das Wahlverhalten hätte.

Im deutschen Mehrebenensystem lassen sich die verschiedenen Politikarenen generell nicht scharf voneinander trennen. In Landtagswahlkämpfen spielt daher häufig die Bundespolitik eine wichtige Rolle. Auch Bürger reagieren mit ihrem Landtagswahlverhalten auf die Bundespolitik. Beispielsweise nutzen einige die Stimmabgabe bei einer Landtagswahl, um ihrer Unzufriedenheit mit der Bundesregierung auszudrücken. Diese Verhaltensmuster haben dazu beigetragen, dass Landtagswahlen häufig als Nebenwahlen charakterisiert werden. Diese Charakterisierung mag in etlichen Fällen übertrieben sein. Bei Landtagswahlen, die am Tag der Bundestagswahl stattfinden, scheint sie der Realität jedoch recht nahe zu kommen. Dafür sprechen empirische Befunde zu parallel abgehaltenen Land- und Bundestagswahlen in der Vergangenheit. Parteien erzielten bei beiden Wahlen beinahe identische Stimmenanteile, und nur sehr wenige Wähler machten von der Möglichkeit des Stimmensplittings zwischen Land und Bund Gebrauch. Zudem scheint die Landtagswahlentscheidung vergleichsweise stark von bundespolitischen Motiven bestimmt gewesen zu sein. Die Zusammenlegung trug somit zu einer verstärkten bundespolitischen Durchdringung von Landtagswahlen bei.

Vor diesem Hintergrund liegen die Schlussfolgerungen für Schleswig-Holstein recht klar auf der Hand. Sollte die Landtagswahl auf den 27. September vorverlegt werden, wird es die Landespolitik vergleichsweise schwer haben, im Wahlkampf eine prominente Rolle zu spielen. Zudem wird das Landtagswahlverhalten relativ stark von bundespolitischen Faktoren beeinflusst werden. Es ist also damit zu rechnen, dass die Landtagswahl stärker als bei getrennten Urnengängen eine bundespolitische Nebenwahl sein wird. Damit ist freilich noch nicht gesagt, welche Parteien davon profitieren werden. Denn wie schnell sich ein vermeintlich stabiler Bundestrend umkehren kann, das haben nicht zuletzt die Wahljahre 2002 und 2005 gezeigt.

 

Nach der (Europa-)Wahl ist vor der (Bundestags-)Wahl: Sind wir nun schlauer, wer die Wahl gewinnen wird?

Die Europawahl hat erneut die Theorie nationaler Nebenwahlen bestätigt. Allenfalls mäßig interessiert, schlecht informiert und wie die Parteien sowie die Medien eher an Deutschland als an Europa orientiert zeigten sich die Deutschen bei der Europawahl. Und die Mehrheit ging – wie erwartet – nicht zur Wahl. Profitiert hat davon primär die Union. Es sind etwas mehr Ältere, aber weniger formal niedrig Gebildete und weniger Arbeiter zur Wahl gegangen als bei der letzten Bundestagswahl. In der Summe war dies vor allem ein Problem für die SPD, die sich von der Europawahl eine Art Startschuss für die Bundestagswahl im Herbst erwartet hatte. Statt dessen verlor die SPD weiter und die FDP konnte – für eine klassische Zweitstimmenpartei erstaunlich – massiv zulegen. Es scheint, als habe vor allem sie von der in der Wissenschaft bekannten Stimmung gegen die Regierungsparteien profitiert.

Doch was bedeutet dies nun für den Wahlherbst 2009? Andrea Römmele hat zurecht auf die im Vergleich zu 2005 noch schlechteren Umfragewerte der SPD hingewiesen. Kim Jucknat fokussierte auf die schlechten Werte Frank-Walter Steinmeiers im Eigenschafts- und Problemlösungsvergleich zu Angela Merkel. Es gibt, so scheint es, in Umfragen derzeit keinerlei Indizien dafür, dass die SPD der Union die Führungsposition noch einmal streitig machen oder Steinmeier gar Kanzler werden könnte. Dennoch gibt es mindestens ein Faktum und zwei potenzielle Faktoren, die man im Blick behalten sollte, bevor man die Wahl als vorentschieden klassifiziert.

Es ist Fakt, dass Umfragen (und Wahlen) seit 1998 keine Trendwende zugunsten des bürgerlichen Lagers zeigen. Meist liegt das linke Lager knapp vor den Bürgerlichen. Bliebe es so, hätten wir „2005 reloaded“: Entweder eine der beiden kleinen Parteien bewegt sich auf ein Dreierbündnis hin oder es bleibt bei der Großen Koalition. Die beiden Faktoren, die potenziell Veränderungen herbeiführen können, sind Themenkompetenz und Mobilisierung. In den Analysen zur Europawahl fällt auf, dass die Mehrheit der Bürger in wichtigen Politikfeldern keiner Partei Kompetenz zuschreiben konnte. Dies ist kein ganz neues Phänomen, macht aber klar, dass sämtliche Parteien im Wahlkampf die Chance haben, sich thematisch zu profilieren. 2005 gelang es der SPD zwar nicht, die Union in der Themenkompetenz zu überholen, aber dennoch bei Rente, Gesundheit und Steuern mit ihr gleichzuziehen. Diese thematische Aufholjagd, damals maßgeblich durch die Person Schröder geprägt, ist für die SPD theoretisch auch 2009 möglich. Sie hat, gemessen an den Umfragewerten und im Vergleich zur Union, auch das größere Mobilisierungspotenzial.

Dennoch ist die Konstellation für sie schlechter als 2005, denn die Union stellt die Kanzlerin und es gibt keine (von vielen Sozialdemokraten gehasste) Agenda 2010, die von der Mehrheit der Bürger letztlich doch als notwendig akzeptiert wurde. Insofern wird es für die SPD schwer, ihre teils enttäuschten, teils nach Links verlorenen Anhänger zu mobilisieren, aktivieren oder gar wiederzugewinnen. Da Wahlen Nullsummenspiele sind, könnte dieses zu erwartende Mobilisierungsdefizit letztlich dazu beitragen, dass Union und FDP bei den abgegebenen Stimmen am Ende doch die Nase vorne haben werden. Sind wir nach der Europawahl schlauer, wer die Bundestagswahl gewinnen wird? Nicht wirklich, aber die Parteien wissen nun wohl besser, was es thematisch und personell geschlagen hat.

 

Wahlen werden in der Mitte gewonnen!

Die SPD hat sich auf ihrem Bundesparteitag vom vergangenen Wochenende „einstimmig“ (wo gibt es das noch?!) beschlossen, den Bundestagswahlkampf 2009 zu einem klaren Richtungswahlkampf zu machen und „schwarz-gelb“ zu konfrontieren mit dem sozialdemokratischen (eigentlich: rot-grünen) sozialen und ökologischen Gewissen: Priorität hat klar die soziale Gerechtigkeit, nicht das Wirtschaftswachstum. Der Kanzlerkandidat der Partei, Frank Walter Steinmeier (FWS), ist dafür gefeiert worden. Allerdings musste der Parteivorsitzende Franz Müntefering dann auf Nachfrage doch erklären, dass man mit der FDP nicht verfeindet sei und diese wenn nötig auch in einer Ampel mitregieren dürfe.

Das Problem ist, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden und nicht an den Rändern. Jede potentielle Regierungs-führende Partei sollte dies wissen, und ihr Spitzenkandidat auch. Nicht nur in der Bundesrepublik ist es so, dass das rechte und das linke politische Lager (von saisonalen Schwankungen einmal abgesehen) tendenziell gleich stark sind, und Regierungs-entscheidende Zugewinne nur in der Mitte zu erzielen sind. Was die SPD angeht, hat dies zuletzt Gerhard Schröder erkannt und 1998 als SPD-Spitzenmann die „Neue Mitte“ für sich reklamiert (und damals gegen Kohl gewonnen). Der erste SPD-Kanzler der Bonner Republik, Willy Brandt, hat auch nicht mit einem trennenden Umverteilungsprojekt gewonnen, sondern mit einem gemeinschafts-stiftenden Projekt namens Wiedervereinigung (das war die neue Ostpolitik) und für die neu-linke sozialdemokratische Seele war auch noch „mehr Demokratie wagen“ dabei.

Man darf sich wundern (in einem Blog mit dem Titel „Wahlen nach Zahlen“ zumal), ob FWS die Normalverteilung vertraut ist. Links-Rechts-Orientierungen der Wähler folgen derselben recht zuverlässig. Die Position der SPD ist knapp links der Mitte, die der CDU knapp und die der CSU nicht ganz so knapp auf der anderen Seite. Links von der SPD gibt es die Grünen und die Linke. Wo kann man da Stimmen gewinnen? In der Mitte!!!

 

Vor dem Wahlparteitag der SPD: Vergleich der Stimmungen 2005 und 2009

Die SPD gilt als Kampagnenpartei, also als eine Partei, die im Wahlkampf an Fahrt gewinnt und auf der Zielgeraden mit dem politischen Gegner aufholt. Dies haben wir in den Jahren 2002 und 2005 recht eindrucksvoll erlebt. Allerdings sind die Ausgangsbedingungen heute deutlich schwieriger als 2009 und das liegt u.a. an der Kanzlerin! Schauen wir uns die Zahlen hierzu kurz an.

Die Stimmung 2005, also kurz vor dem Wahlparteitag der SPD Ende August, und einen knappen Monat vor der Wahl lagen die Sozialdemokraten bei der Sonntagsfrage 29%, die CDU/CSU bei 42% Prozent.

Allerdings, und das ist der zentrale Unterschlied, lag Kanzler Schröder in seiner Gunst deutlich vor seiner Herausforderin Angela Merkel: 48% zu 41%. Auf dem Wahlparteitag – wir erinnern uns – spielte Schröder dann auch erfolgreich die negative-campaigning-Karte mit Paul Kirchhoff, dem Professor aus Heidelberg.
Was ist 2009 anders? Die SPD stürzt in ein erneutes Umfragetief mit 22 %, bei der Sonntagsfrage erlangt sie nur 25% – und sie profitiert nicht von der im Vergleich zu 2005 schwächeren CDU. Und der Retter ist eben nicht in Sicht und das ist der große Unterschied zu der Situation 2005: der Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier liegt mit 29% im direkten Vergleich deutlich hinter seiner Chefin Angela Merkel, für die 58% der Befragten votieren.

Und auch mit der Waffe „negative campaigning“, die 2005 auf dem Wahlparteitag noch voll zur Geltung kam, wird Steinmeier wohl vorsichtig umgehen, denn das zu Guttenberg-bashing kam beim Wähler nicht gut an.
Was kann ein Wahlparteitag hier ausrichten: Steinmeier kann mit einer Blut- und Schweißrede die eigenen Leute einschwören, hinter sich bringen, eine solche Rede kann durchaus eine Strahlkraft entfalten – ob ihm dies gelingt und wenn ja wie werden wir heute sehen.

 

Das Superwahljahr 1994 als Vorlage für das Superwahljahr 2009: Keine guten Aussichten für die SPD

Aktuelle Wahlergebnisse werden in der Regel mit den Resultaten der vorhergehenden Wahl verglichen, um den Ausmaß an Wandel in den Präferenzen der Wählerschaft darzustellen. Dies ergibt intuitiv Sinn: Man will verdeutlichen, wie sich die Stärkeverhältnisse der politischen Parteien auf der entsprechenden Ebene – Bund, Land, Kommune oder eben Europa – im Vergleich zur letzten Wahl verschoben haben. Wenn es jedoch um den Aspekt der Mobilisierungsfähigkeit einer Partei geht – dieser stand in der Wahlberichterstattung des gestrigen Abends aufgrund des schwachen Ergebnisses der SPD massiv im Vordergrund –, dann wird auch mal auf zeitlich weiter zurückliegende Resultate oder auf Ergebnisse zu Wahlen auf anderen Ebenen zurückgegriffen. Gestern diente in einer ARD/Infratest Dimap-Grafik die absolute Stimmenanzahl der SPD zur Europawahl 2004, 2009 und zur Bundestagswahl 2005 als Grundlage für den – angeblichen – Beleg, dass die Sozialdemokraten sich immer schwer tun, ihre traditionelle Kernwählerklientel bei Europawahlen zu mobilisieren, während es ihnen bei Bundestagswahlen – zumindest bei der letzten vom September 2005 – relativ gut gelungen ist.

Der mit dieser Interpretation verbundene Hoffnungsschimmer für die SPD und ihre Chancen bei der Bundestagswahl in diesem September werden allerdings deutlich kleiner, wenn man die Analyse vor dem Hintergrund der letzten Wahlen aus den Jahren 2004 und 2005 verlässt und eine Situation als Vergleichsperspektive wählt, in der gleiche Rahmenbedingungen gerade im Hinblick auf die Mobilisierungsfähigkeit der Parteien geherrscht haben. Ein Bundestagswahlkampf mag die Wähler zwar vor allem in den letzten Wochen vor der Wahl beschäftigen, aber der Wahlkampf an sich beginnt schon Monate zuvor und übt auch dann bereits Effekte auf das Verhalten – gerade der vielgenannten Kernwählerklientel – aus.

Solche Wahlen mit ähnlichen Rahmenbedingungen sind – gerade im Fall der SPD – nicht die Europawahlen 1999 und 2004, bei denen die traditionellen SPD-Wähler aufgrund von Frustration über das generelle Agieren der rot-grünen Bundesregierung (1999) bzw. deren Wirtschafts- und Sozialpolitik (2004) der Wahl fern geblieben sind, sondern vielmehr die Wahl aus dem Jahr 1994. Das „Superwahljahr“ vor 15 Jahren gleicht in sehr vielen Punkten, die entscheidend für die Mobilisierung der eigenen Anhänger sind, dem Jahr 2009: es fanden 1994 neben zahlreichen Landtagswahlen eine Bundespräsidentenwahl und eine Wahl zum europäischen Parlament statt, die beide für die SPD ähnlich wie in diesem Jahr verloren gingen. Der Unterschied ist jedoch das Ausmaß: 1994 konnten die Sozialdemokraten – zugegebenermaßen bei höherer Wahlbeteiligung von 60% – bei den Europawahlen noch ein Ergebnis von 32,2% erreichten. Der Abstand zur Union, die auf 38,8% kam, betrug somit rund sieben Prozentpunkte. Die SPD änderte dann massiv ihre Wahlkampfstrategie und setzte mit dem fröhlichen Slogan „Freu Dich auf den Wechsel, Deutschland“ auf den Wunsch vieler Wähler, den 1994 seit 12 Jahren amtierenden Kanzler Helmut Kohl (CDU) abzulösen. Diese Taktik ging jedoch erst 1998 auf: Bei der Bundestagswahl im Oktober 1994 konnten beide Volksparteien bei deutlich höherer Wahlbeteiligung von 79% ihre Stimmenanteile leicht steigern – die SPD kam auf 36,4% und die CDU/CSU auf 41,5% der Stimmen – und die christlich-liberale Koalition blieb im Amt.

Nimmt man den Ausgang der Bundestagswahl 1994 – natürlich bei aller gegebenen Vorsicht, die sich auch aus dem durch die bundesweite Etablierung der „Linken“ geänderten Parteiensystem ergeben – als Grundlage einer Prognose für die Wahlen im September diesen Jahres, so ist nur sehr schwer vorstellbar, wie die SPD bei einem Stimmenanteil von nicht ganz 21% bei der Europawahl bei der Bundestagswahl im September die 30%-Marke schaffen oder gar an ihr Ergebnis aus 2005 von 34,2% der Stimmen herankommen will. Denn 1994 ähnelt nicht nur dem Superwahljahr 2009 hinsichtlich der Anzahl und Sequenz von bundesweiten Wahlen und Abstimmungen, sondern auch in Fragen des Charismas und der Ausstrahlungskraft der jeweiligen SPD-Kanzlerkandidaten: letztgenannte Eigenschaften fehlten dem 1994 angetretenen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping, und sie fehlen auch Frank-Walter Steinmeier, der – obwohl er aus der populären Rolle des Bundesaußenministers antritt – nicht so recht in die Rolle des mobilisierenden Wahlkämpfers hineinwachsen will. Wenn man also das Wahljahr 1994 als Vorlage für eine Prognose für das Wahljahr 2009 heranzieht und dazu noch annimmt, das ein Kanzlerkandidatenfaktor als Komponente der Entscheidung eines Wählers nicht zu vernachlässigen ist, dann steht der SPD bei weitem keine angenehme zweite Hälfte dieses Superwahljahres bevor.

 

Professoren, Grafen und Barone an der Wahlurne

Spätestens mit seinen Einlassungen zur Opel-Frage hat sich Gerhard Schröder in der deutschen Innenpolitik zurückgemeldet. Der sozialdemokratische Altmeister der Wahlkampfrhetorik wandte sich gegen Wirtschaftsminister zu Guttenberg und bedachte ihn mit der Bezeichnung „dieser Baron aus Bayern“. Damit knüpfte der Altkanzler an den Wahlkampf 2005 an, in dem er Paul Kirchhof gerne und häufig als „diesen Professor aus Heidelberg“ titulierte. Diese Rhetorik zielt offenbar darauf, an Ressentiments „der kleinen Leute“ gegen „die da oben“ zu appellieren, mit dem Ziel, die Wahlchancen des politischen Gegners zu schmälern und die eigenen zu steigern. Doch reagieren Bürger bei der Wahlentscheidung auf akademische Titel oder Adelstitel tatsächlich mit Stimmenentzug? Lassen sie solche Titel bei der Stimmabgabe kalt? Oder belohnen sie Professoren, Doktoren und Aristokraten gar mit einem Bonus?

Befunde der empirischen Wahlforschung sprechen dafür, dass akademische Titel und Adelstitel die Wahlchancen von Kandidaten nicht drastisch beeinflussen. Bei der Bundestagswahl 2005 steigerte ein Adelstitel den Stimmenanteil von Direktkandidaten um weniger als einen Prozentpunkt. In ähnlich geringem Umfang profitierten Wahlkreiskandidaten von einem akademischen Titel. Befunde zur bayerischen Landtagswahl 2003 deuten darauf hin, dass Adelige einen kleinen Malus hinnehmen mussten. Uneinheitlich sind die bayerischen Ergebnisse zu akademischen Titeln. Während ein Doktortitel den Stimmenanteil eines Bewerbers um knapp zwei Prozentpunkte steigerte, minderte ein Professorentitel die Wählerunterstützung um etwa die gleiche Marge.

Akademische Titel und Adelstitel scheinen also nicht zwangsläufig für einen durchschlagenden Wahlerfolg zu sorgen, rauben ihren Trägern aber auch nicht automatisch jede Chance auf einen großen Wählerzuspruch. So betrachtet, genügt es nicht, einem politischen Gegner das Etikett „Professor“ oder „Baron“ anzuheften, um seine Wahlaussichten zu mindern oder ihn gar politisch zu erledigen. Offenbar muss man ihm dazu auch Fehler, Versäumnisse oder abstruse Vorschläge nachweisen können. Ob das Gerhard Schröder und der SPD im Jahr 2009 mit dem Wirtschaftsminister wie im Jahr 2005 mit dem Schattenfinanzminister gelingen wird, ist ungewiss. Umso interessanter wird es sein, im Wahljahr 2009 zu beobachten, welches Bild zu Guttenbergs sich in der öffentlichen Wahrnehmung durchsetzen wird: das eines hartherzigen Marktradikalen oder das eines prinzipientreuen Hüters wirtschaftlicher Vernunft.

 

Die Steuersenkungsdebatte – Wegweisung oder Wahlkampftrick?

Die Union diskutiert ihre steuerpolitische Ausrichtung. Während die Kanzlerin Steuersenkungen vorschlägt, um so die kriselnde Konjunktur zu beleben, warnen Parteifreunde vor solchen Schritten. So haben sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich zu Wort gemeldet und gemahnt, keine Wahlversprechen zu geben, die nach der Bundestagswahl nicht eingehalten werden können. Damit treffen sie den Nerv vieler Wähler, denn die Skepsis gegenüber Vorschlägen, die zu Wahlkampfzeiten geäußert wurden, ist traditionell groß.

Ist dieses Misstrauen berechtigt? Der sozialwissenschaftliche „Klassiker“ zur Frage der Übereinstimmung von Wahlprogramm und Regierungspolitik ist eine Studie von Hans-Dieter Klingemann, Richard Hoffebert und Ian Budge aus den 90er-Jahren, deren Erkenntnisse bis heute als wegweisend gelten. Die Forscher ermittelten (u.a. anhand der Ausgabenpolitik von Regierungen), dass die Politik besser ist, als ihr Ruf. Deutschland zählt demnach im internationalen Vergleich zu den Staaten, in denen politische Entscheidungen nach einer Wahl in hohem Maße auf den Wählerauftrag zurückzuführen sind: Die Wähler haben den siegreichen Parteien ein Mandat erteilt und diese setzen ihre Programme um (die so genannte „Mandats-These“). In anderen Ländern (etwa Frankreich oder Großbritannien) gilt hingegen tendenziell eher die „Agenda-These“: Es ist weniger wichtig, welche Partei einen bestimmten Vorschlag formuliert hat – nach einer Wahl setzt der Sieger die prominentesten Vorschläge um.

Natürlich wird auch in Deutschland nicht jedes Wahlversprechen erfüllt und kaum ein Koalitionsvertrag spiegelt die Wahlprogramme der beteiligten Parteien exakt wider. Der allgemeine Trend ist aber eindeutig: Parteien halten sich an Ihre Versprechen und versuchen, ihre politischen Forderungen nach der Wahl umzusetzen. Dass sich dennoch der Eindruck hält, dass Politiker ihre Wähler täuschen, ist nicht zuletzt der Logik des politischen Prozesses geschuldet: Konsense und reibungslose Kompromisse erfahren nicht die selbe Beachtung wie politische Streitigkeiten. Die Opposition wird sich auf diese Probleme beziehen, wenn sie die Regierung attackiert, und auch innerhalb der Koalition sind die Partner stets um Profilierung bemüht – die nächste Wahl kommt bestimmt…

Nichtsdestotrotz ist den Parteien bezüglich der Einhaltung ihrer Wahlversprechen ein gutes Zeugnis auszustellen. Die Wahlprogramme sind so formuliert, dass die Umsetzung, sprich: Finanzierung, möglich ist. Dies ist auch Resultat der innerparteilichen Demokratie, die einem Programmbeschluss voraus geht und unrealistische bzw. unseriöse Forderungen zumeist frühzeitig stoppt. Insofern können die Einwände aus der Union durchaus als konstruktive Beiträge verstanden werden. Für Ministerpräsident Tillich, dessen Regierung im Sommer selbst zur Wahl steht, ist dies zudem eine gute Möglichkeit, an Profil zu gewinnen und sich von den politischen Wettbewerbern in Sachsen abzuheben. Dass die Kritik am Wahlkampf auf diesem Wege selbst zu einer wirkungsvollen Wahlkampfaussage werden kann, ist eine weitere Besonderheit des politischen Prozesses.

 

Ein verfassungswidriges Zünglein an der Waage?

Wahlsystemfragen gelingt es nur selten, über einen eng umgrenzten Spezialistenzirkel hinaus öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Die Überhangmandatsklausel bildet dazu keine Ausnahme. Vermutlich hat mancher Beobachter sogar den Eindruck gewonnen, sie diene vor allem dazu, Institutionen der politischen Bildung eine Legitimationsgrundlage zu schaffen und Examenskandidaten verschiedener Studienfächer in Verlegenheit zu bringen. Im Juli 2008 jedoch bündelte diese Regelung das Interesse der Öffentlichkeit. Denn das Bundesverfassungsgericht verwarf das gültige Bundestagswahlsystem wegen des mit den Überhangmandaten zusammenhängenden Problems des so genannten „negativen Stimmgewichts“. Allerdings forderte es nicht eine umgehende Änderung des Wahlsystems, sondern gab dem Gesetzgeber dafür bis Ende 2011 Zeit. Diese Entscheidung begründete es vor allem mit der Komplexität der zu regelnden Materie.

Diese Entscheidung dürfte den Verfassungsrichtern umso leichter gefallen sein, als Überhangmandate bisher die Machtverteilung zwischen parlamentarischer Mehrheit und Minderheit, also die zentrale Machtfrage in der parlamentarischen Demokratie, im Kern unberührt ließen. Aus der Tatsache, dass bislang noch keine Regierung ihre Mehrheit Überhangmandaten zu verdanken hatte, folgt freilich nicht, dass dies im Jahr 2009 ebenfalls so sein wird. Die Zukunft ist nicht notwendigerweise eine Fortschreibung der Vergangenheit. Dies gilt nicht nur für Aktien, die nach jahrzehntelang aufsteigender Tendenz binnen kurzer Zeit dramatisch an Wert verlieren, sondern auch in der Politik können sich die Verhältnisse grundlegend verändern.

Nimmt man – bei aller methodenbedingter Vorsicht – etwa momentane Umfrageergebnisse zum Maßstab, erscheint es beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass bei der Bundestagswahl 2009 Union und FDP zwar auf der Grundlage ihrer Zweitstimmenergebnisse keine parlamentarische Mehrheit erhalten, aber Überhangmandate für die Union eine christlich-liberale Mehrheit im Bundestag ermöglichen. Die neue Bundesregierung könnte somit ihre parlamentarische Mehrheit einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Regel verdanken. Es ist eine offene Frage, ob eine solche Regierung – getreu dem in verschiedenen parteipolitischen Konstellationen bewährten Grundsatz „Mehrheit ist Mehrheit“ – gebildet würde, wie es um ihr Ansehen und ihre Durchsetzungsfähigkeit bestellt wäre und ob auf juristischem Wege gegen sie vorgegangen würde. In jedem Fall hat das Bundesverfassungsgericht eine politisch delikate Konstellation geschaffen, die Anlass für manche Diskussion bieten dürfte.